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EU-Chefunterhändler zum Brexit
"Wir dürfen den Binnenmarkt nicht aufs Spiel setzen"

Der Vertrag zwischen der EU und den Briten sei nicht mehr verhandelbar, sagte Michel Barnier, EU-Chefunterhändler im Dlf. Worüber man noch sprechen könne, sei die politische Erklärung. Als Vorbild führte er politische Vereinbarungen mit anderen Drittstaaten wie Norwegen an. Norwegen sei zwar kein EU-Mitglied, nehme aber am Binnenmarkt teil.

Michel Barnier im Gespräch mit Christiane Kaess |
    Der Brexit-Unterhändler der Europäischen Union, Michel Barnier.
    Der Brexit-Unterhändler der Europäischen Union, Michel Barnier. (AFP / Philippe LOPEZ )
    Christiane Kaess: Bonjour, Monsieur Barnier.
    Michel Barnier: Bonjour!
    Kaess: Wenn die Mehrheit der Abgeordneten in London dafür stimmen würde, den Brexit zu verschieben, wäre das akzeptabel für die Europäische Union?
    Barnier: Nun, wir haben seit 18 Monaten mit Großbritannien, nicht gegen Großbritannien verhandelt, um eine Übereinkunft zu erzielen. Jetzt ist der Augenblick der Wahrheit gekommen. Ich persönlich glaube, dass wir nicht so sehr mehr Zeit benötigen, sondern dass wir jetzt Entscheidungen brauchen, zu treffen durch die britische Regierung und das Parlament Großbritanniens. Ich weiß nicht, ob die Frage einer Verlängerung der Verhandlungsfrist im Kontext von Artikel 50 des Lissabon-Vertrages gestellt wird. Falls dies der Fall ist, dann liegt es bei den Staats- und Regierungschefs der EU, also bei Angela Merkel und den anderen Staats- und Regierungschefs, im Konsens darauf zu antworten: Ja oder nein. Sie werden die Frage stellen, warum sollte man jetzt die Verhandlungen verlängern und wieviel Zeit wird dann benötigt, falls die Verhandlungsfrist verlängert werden sollte.
    Das Gespräch mit Michel Barnier können Sie auch in der französischen Originalversion hören: Entretien avec Michel Barnier
    Kaess: Und wenn die Abgeordneten in London gegen einen Brexit ohne Abkommen stimmen würden, was würde das für die Europäische Union ändern?
    Barnier: Um diese Schwierigkeit eines Austritts ohne ein Abkommen, also diesen No Deal zu verhindern, reicht es nicht, gegen den No Deal zu stimmen. Nein, man muss für einen Vertrag, eine Übereinkunft stimmen. Wenn sich nichts bewegt, wenn keine positiven Vorschläge auf den Tisch gelegt werden, dann werden wir mehr oder minder holprig oder wie in einem Unfall auf den No Deal zum 30. März zusteuern. Wir verfolgen natürlich mit Aug und Ohr das, was in Großbritannien geschieht. Jetzt bleibt zu hoffen, dass Theresa May im Gespräch mit allen Parteien, also mit der Opposition und mit ihrer Mehrheit im Unterhaus, eine positive Position bezieht. Was wir jetzt haben ist eine doppelte Mehrheit gegen den Deal einerseits und andererseits auch gegen den No Deal. Wir brauchen jetzt aber etwas, was positiv als Übereinkommen akzeptiert wird, um die schlimmste oder schwierigste Situation zu vermeiden.
    "Das ist ein Vertrag von 600 Seiten"
    Kaess: Theresa May möchte ja noch einmal mit der EU verhandeln. Was kann die EU denn anbieten?
    Barnier: Nun, wir haben es vor einigen Tagen erst im Unterhaus deutlich gesagt. Das was wir ausverhandelt haben, ist das bestmögliche, ehrlich gesagt. Das ist ein Vertrag von 600 Seiten. Ich denke, das ist das Beste, was zu erzielen war. Es ist auch ein rechtlich sicherer Rahmen für diejenigen, die auch durch Unsicherheit betroffen sind.
    Wir haben darüber hinaus eine politische Erklärung. Da könnte man sprechen, ob die Briten das öffnen wollen, ob sie eine ehrgeizigere Partnerschaft zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich wollen. Da sage ich, wir können jetzt nicht mehr den eigentlichen Vertrag zum Brexit, also zu dieser Scheidung oder Trennung noch einmal aufschnüren. Wenn aber die Briten für die Zukunft etwas mehr wollen als nur eine Freihandelszone, dann können wir uns durchaus noch einmal mit dieser politischen Erklärung auseinandersetzen, welche ja die Eckpfosten unseres zukünftigen partnerschaftlichen Verhältnisses bestimmt.
    "Es geht um den gesamten Binnenmarkt"
    Kaess: Aber wir wissen ja schon, dass das große Problem der Backstop ist, und über den will Theresa May noch einmal mit Brüssel reden. Halten Sie es für möglich, dass die 27 Mitglieder der EU schlussendlich die Nerven verlieren und beim Backstop doch nachgeben?
    Barnier: Nun, die führenden Politiker der EU, das Europäische Parlament, für die ich ja als Chefunterhändler agiert habe, sie haben sich zusammengesetzt und eine Übereinkunft erzielt, die wirklich einstimmig ist. Das bedeutet nicht, dass man in jeder Frage dieselben Absichten hat, aber es ist eben der bestmögliche Vertrag ausverhandelt worden, in großer Einigkeit, und den sollte man jetzt auch nicht wieder aufschnüren, außer dem, was die politische Erklärung betrifft.
    Was nun den Backstop angeht – dieses Wort muss man auch wirklich recht auffassen -, es handelt sich hier um eine Zusicherung an die Iren, dass man zu keiner harten Grenze kommt, weil wie wir wissen diese offene Grenze ein Garant für Frieden und Stabilität der Insel ist. Und man muss auch bedenken: Es geht hier nicht nur um Irland. Nein: Jede Ware, die aus Großbritannien über die Nordgrenze dann nach Irland eintrifft, betritt auch den Binnenmarkt. Es geht also nicht nur um Irland; es geht um Deutschland, Frankreich, Polen, es geht um den gesamten Binnenmarkt, und hier müssen wir selbstverständlich kontrollieren dürfen. Das ist ja auch der Sinn des Binnenmarktes. Wir sind es der Sicherheit unserer Bürger, unserer Verbraucher schuldig und auch dem Schutz unserer Unternehmen. Es ist also eine Frage nicht nur für Irland, sondern für ganz Europa.
    Kaess: Glauben Sie tatsächlich, dass die EU hier geschlossen bleibt? Der polnische Außenminister hat ja schon eine zeitliche Befristung auf den Backstop von fünf Jahren vorgeschlagen.
    Barnier: Diese Frage ist ja jetzt seit mehreren Monaten diskutiert worden. Die haben ja die Engländer im November/Dezember selbst vorgebracht. Und wir, die Spitzenpolitiker der EU, haben einstimmig in allen 27 Staaten gesagt, wir müssen die Glaubwürdigkeit dieser Zusicherung oder dieser Versicherung wahren. Eine solche Versicherung kann ja nicht befristet werden. Stellen Sie sich vor, Sie haben eine Hausversicherung und die wäre plötzlich zeitlich befristet. Die würde doch niemand abschließen. Und irgendwann geschieht dann ein Unglück und Sie haben keine Versicherung. – Nein, diese Versicherung darf zeitlich nicht befristet werden.
    "Dann müssten wir Kontrollen in Irland ausführen"
    Kaess: Der Backstop soll eine harte Grenze zwischen Nordirland und Irland verhindern. Aber wenn es einen Brexit ohne Abkommen gibt, könnte genau das passieren.
    Barnier: Nun, wenn es zu diesem No Deal kommt, was wir ja nicht wollen und worauf wir nicht hingearbeitet haben – wir haben ja mit aller Entschlossenheit auf einen einstimmigen Vertrag hingearbeitet -, wenn das aber zu dieser schlimmsten Möglichkeit kommt, dann müssen wir selbstverständlich Kontrollen in Irland ausführen dürfen. Aber wir haben Wert darauf gelegt zu sagen, dass wir keine harte Grenze wollen, und da gilt es nun, sich abzustimmen mit den irischen Behörden, mit den britischen Behörden ebenso. Wir haben aber auch klargestellt, dass unsere Solidarität mit Irland über die gesamte Verhandlungszeit unerschütterlich war und auch unerschütterlich unter allen Umständen weiterhin gilt.
    Kaess: Eine Lösung für die britische Regierung wäre, über die Grenze mit Irland nur zwischen London und der Regierung in Dublin zu verhandeln, also ohne die EU. Könnte Brüssel das akzeptieren?
    Barnier: Das ist kein Problem Brüssels. Das, was Sie hier vorschlagen, ist juristisch unmöglich, denn diese Grenze zwischen dem Vereinigten Königreich und Irland ist nicht nur diese Grenze zwischen den beiden Ländern, sondern es ist die Grenze mit Deutschland. Es ist die Grenze mit Frankreich, mit den Niederlanden, mit Polen, ja mit dem gesamten Binnenmarkt. – Nein, rechtlich ist es nicht möglich, das voneinander zu trennen. Deswegen haben wir ja auch einstimmig im Namen aller 27 Staaten und Irlands verhandelt. Das, was jetzt auf dem Tisch liegt, ist die einzig mögliche Lösung. Wir sind und waren immer ein einheitliches Team.
    "Es gibt verschiedene Modelle mit Drittstaaten wie etwa Norwegen und Türkei"
    Kaess: Sie haben schon mehrmals gesagt, dass es möglich wäre, die politische Erklärung des Abkommens mit Großbritannien noch einmal zu verhandeln. Mit welchem Ziel denn?
    Barnier: Nun, wir haben es ja erklärt. Es gibt verschiedene Modelle mit Drittstaaten wie etwa Norwegen und Türkei. Diese Modelle sehen alle unterschiedlich aus. Die sind aber prinzipiell verfügbar. Sie haben aber klar festgelegte Rechte und Pflichten der Vertragspartner. Norwegen ist zum Beispiel nicht Mitglied der EU, weil es das nicht wollte, ist aber Teilnehmer im Binnenmarkt. Mit der Türkei haben wir eine Zollunion im Warenverkehr und das bedeutet, dass wir durch handelspolitische Grundsätze verbunden sind.
    Anders ist es ja bei den Briten. Sie haben ja die berühmten roten Linien eingezogen. Sie wollen nicht mehr den Binnenmarkt haben. Sie wollen nicht den Europäischen Gerichtshof anerkennen. Sie wollen unabhängig sein in ihrer Handelspolitik. Sie lehnen den freien Personen- und Warenverkehr ab. Das sind alles Blockaden, die durch diese roten Linien errichtet werden. Wenn sich da aber etwas auf britischer Seite bewegen sollte, bei diesen roten Linien, ja, dann sind wir bereit, darüber zu sprechen. Ich hoffe, dass dies geschieht, und das ist auch möglich.
    "Die Untrennbarkeit des Binnenmarktes schützen"
    Kaess: London hat da tatsächlich seine rote Linie. Die Regierung will nicht im Binnenmarkt bleiben, weil dazu auch die Freizügigkeit der Personen gehört. Kann die EU hier Zugeständnisse machen?
    Barnier: Ich glaube nicht, dass man irgendwelche Zugeständnisse in Bezug auf die Grundprinzipien machen kann. Das liegt ja auch schon in meinem Verhandlungsmandat begründet, mir von den 27 Staatschefs erteilt, nicht erst vor einigen Tagen, sondern von Anfang an im Juni 2016. Wenige Tage nach dem Referendum über den Brexit wurde das eindeutig vorgeschrieben. Es gehe für mich darum, die Interessen der EU zu wahren, die Untrennbarkeit des Binnenmarktes zu schützen, die Unzertrennlichkeit der vier Grundfreiheiten einzuhalten und die Entscheidungsfreiheit der 27 Mitgliedsstaaten zu schützen. Ich habe dieses Mandat mit größter Sorgfalt beachtet und durchgehalten. Schließlich geht es hier nicht um eine ideologische Frage oder darum, ob irgendjemand bestraft werden soll. Nein, es geht um die Zukunft insgesamt. Ich habe das auch vor den deutschen Unternehmen und vor dem deutschen Handel immer wieder gesagt: Man kann den Binnenmarkt nicht auflösen, man darf die EU nicht zersplittern. Insbesondere dürfen wir unser stärkstes Pferd im Stall, eben den Binnenmarkt, nicht aufs Spiel setzen.
    "Ich bin weder begeistert, noch enttäuscht"
    Kaess: Ich möchte Ihnen zum Schluss eine persönliche Frage stellen. Sie haben jetzt 17 Monate mit London verhandelt. Sind Sie enttäuscht?
    Barnier: Als man Jean Monnet damals, als er in Frankreich für Europafragen zuständig war, fragte, ob er Optimist oder Pessimist sei, da antwortete er: Ich bin weder Optimist, noch Pessimist; ich bin einfach entschlossen. Und so kann ich auch sagen: Ich bin weder begeistert, noch enttäuscht. Ich hoffe jetzt, dass Frau May in diesem Dialog mit den Parteien ihres Landes, den sie begonnen hat, sowohl mit ihrer eigenen Mehrheit wie auch mit den Oppositionsparteien, einen Weg finden möge, um eine positive Mehrheit zur Zustimmung zu diesem Vertrag zu finden, um damit einen geordneten Rückzug einzuleiten, damit wir möglichst schnell im Zusammenspiel mit den europäischen Regierungen und mit dem Europäischen Parlament, was ja das Wichtigste ist, darüber verhandeln können, wie wir eine ehrgeizige Partnerschaft zwischen der EU und Großbritannien erzielen im Bereich Sicherheit und im Bereich Handel.
    Kaess: Vielen Dank für das Interview, Herr Barnier.
    Barnier: Merci à vous.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.