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EU-Chemikalienstrategie
Balanceakt für Brüssel

Die EU-Kommission will ihre Chemikalienstrategie reformieren. Druck bekommt sie dabei von zwei Seiten: Umweltschützer fordern eine strengere Politik, die Industrie will weniger Verbote. Denn gerade in der Coronakrise wünsche man sich - etwa bei der Produktion von Desinfektionsmitteln - mehr Freiheiten.

Von Tonia Koch |
Auch Babyflaschen sind mit Bisphenol A versetzt.
Auch Babyflaschen waren mit Bisphenol A versetzt - ein Stoff, der mittlerweile verboten bzw. streng reguliert ist. (picture alliance / dpa/ Weng lei - Imaginechina)
Vom Waschmittel über Funktionskleidung bis hin zu Plastik-Spielzeug: Chemische Stoffe begegnen uns im Alltag auf Schritt und Tritt. Deshalb ist nicht nur die klassische Chemieindustrie vom Regulierungseifer der EU-Kommission betroffen, sondern viele Branchen, die Alltagsprodukte wie etwa Kunststoffverpackungen oder Kosmetika herstellen.
Entsprechend schwer tut sich die Brüsseler Behörde, einen Fahrplan vorzulegen, an welchen Stellen sie die Daumenschrauben ansetzten möchte, um Mensch und Umwelt wirksam vor schädlichen Chemikalien zu schützen. Ein mutiger, weitreichender Ansatz müsse her, fordern die Umweltverbände. Manual Fernandez beim BUND zuständig für Chemiepolitik: "Dort wo ein Stoff als potenzielles Risiko erkannt wird, dort muss der Gesetzgeber handeln."
"Vorsorgeprinzip ins Blaue"
Allein der Verdacht, dass ein Stoff gesundheitsschädlich sein könnte, rechtfertige noch kein vorsorgliches Verbot, argumentieren hingegen die Hersteller. Augenmaß sei gefragt, sagt Gerd Romanowski vom Verband der chemischen Industrie (VCI): "Was die Umweltverbände sich teilweise vorstellen, wie der BUND, das ist ein Vorsorgeprinzip ins Blaue. Nach dem Motto: Wir benennen einen Stoff, der ist aus unserer Sicht gefährlich, da gibt es vielleicht ein zwei Studien, die manchmal wissenschaftlich zweifelhaft werden und die angeblich die Gefährlichkeit beweisen und dann soll der verboten werden. Und das können wir natürlich nicht akzeptieren. Wir brauchen eine sorgfältige wissenschaftliche Abschätzung."
Die Industrie weiß allerdings auch, dass sie in der Bringschuld ist. Denn sie muss im Rahmen der EU-Chemikalienverordnung REACH seit 2007 den Beweis führen, ob ein Stoff unbedenklich oder eben gefährlich ist und damit auf die Verbots-Liste gehört. Diese Einordnung dauert im Moment zu lange, das wird von der Industrie nicht geleugnet. Es gibt zahlreiche Beispiele dafür. Eines ist Bisphenol A.
Langes Warten auf Verbot von Bisphenol A
Erst seit diesem Jahr unterliegt der als krebserregend geltende Stoff entweder strengen Grenzwerten oder darf überhaupt nicht mehr verwendet werden, wie zum Beispiel in der Herstellung von Thermopapier - wobei die meisten Supermarktkunden wahrscheinlich im Laufe ihres Lebens unzählige auf Thermopapier gedruckte Kassenbelege in der Hand hielten. Seit 2016 steht Bisphenol A auf der Kandidatenliste der besonders besorgniserregenden Stoffe.
Das Verbot aber hat auf sich warten lassen und das sei kein Einzelfall, sagt Manuel Fernandez vom BUND: "Wir haben erst gut 200 solcher Stoffe erfasst in der sogenannten Kandidatenliste der besonders besorgniserregenden Stoffe von geschätzten 2000, die als gefährlich eingestuft werden müssen. Dieser Prozess geht einfach viel zu langsam. Das dauert teilweise zehn bis 15 Jahre, bis ein Stoff alle Instanzen durchlaufen hat und gesetzlich reguliert werden kann."
Vollkommener Verzicht auf Chemikalien geht nicht
Reguliert bedeutet auch, dass mit Grenzwerten operiert wird, um die Gefährlichkeit einzudämmen. Denn auf den Einsatz gefährlicher chemischer Stoffe könne unsere Gesellschaft nicht verzichten, sagt Gerd Romanowski, der Vertreter der Chemieverbände: "Nehmen Sie als Beispiel das Metall Lithium, das ist ein hochgiftiges, ätzendendes und hochentzündliches Material. Wir brauchen es aber für die Autobatterien. Ohne funktionieren die aber nicht und deswegen kann man Lithium nicht verbieten. Oder nehmen Sie Ethanol, landläufig als Alkohol bekannt, das ist auch ein giftiger, wahrscheinlich krebserregender Stoff. Trotzdem können wir ihn nicht verbieten, denn wir brauchen ihn als Desinfektionsmittel, sonst haben wir keine Desinfektionsmittel mehr."
EU soll bei Herstellung autonomer werden
Gerade die aktuelle Coronakrise habe den Wunsch verstärkt, dass die EU wieder autonomer werde - etwa bei der Herstellung von Arzneimitteln und Desinfektionsmitteln. Damit das gelingt, brauche die chemische Industrie stabile Rahmenbedingungen und keine Verbote, sondern Grenzwerte um Risiken zu minimieren, so Romanowski. Die Umweltverbände hoffen jedoch darauf, dass sich die EU-Kommission am Ziel einer sogenannten "Nullbelastung" orientiert. Manuel Fernandez: "Wir sagen, es ist sehr wohl möglich, zu einer Nullbelastung zu kommen und gefährliche Stoffe durch ungefährliche oder umweltgerechte Alternativen zu ersetzen, nach und nach."
Die Positionen zur neuen Chemikalienstrategie sind höchst unterschiedlich. Es wird also darauf ankommen, wie verbindlich Ziele, Prozesse und Kontrollmechanismen formuliert werden. Ein Balanceakt zwischen dem übergeordneten Ziel eines nachhaltigen Umwelt- und Gesundheitsschutzes und der Wettbewerbsfähigkeit der in Europa produzierenden chemischen Unternehmen.