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EU-Expertin Despot
"Keine ausgemachte institutionelle Krise"

Sollte Ursula von der Leyen heute im EU-Parlament durchfallen, sei das nicht als Krise einzustufen, sagte Andrea Despot von der Europäischen Akademie Berlin im Dlf. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker könne länger im Amt bleiben - eine ähnliche Lage habe es schon 2004 gegeben.

Andrea Despot im Gespräch mit Martin Zagatta |
Ursula von der Leyen nimmt Unterlagen vom Tisch
Ursula von der Leyen nach der Bewerbungsrede vor den Abgeordneten des EU-Parlaments (dpa / picture alliance / Marijan Murat)
Martin Zagatta: Was steht bei der Debatte um von der Leyen für die EU jetzt auf dem Spiel? Darüber kann ich jetzt mit Andrea Despot sprechen, der Direktorin der Europäischen Akademie Berlin. Hallo, Frau Despot!
Andrea Despot: Schönen guten Tag!
Zagatta: Frau Despot, dieses Gerangel um Ursula von der Leyen, wie groß ist der Schaden da jetzt schon für die EU?
Despot: Der Schaden hält sich in sehr engen Grenzen. Das Verfahren war sicherlich nicht optimal, das zu der Nominierung geführt hat, auf der anderen Seite kann sich das Personaltableau, das Spitzenpersonaltableau, sehr sehen lassen.
Zagatta: Aber egal, wie die Abstimmung jetzt ausgeht, ist das Europaparlament nicht schon jetzt der ganz große Verlierer? Also, wenn es zustimmt, wonach es im Moment ja aussieht, dann besiegelt es doch seine eigene Schwäche und wenn nicht, stürzt es die EU in eine Krise. Wieso sehen Sie das nicht so dramatisch?
Despot: Das kann ich so dramatisch tatsächlich nicht sehen. Zum einen hatte das Europäische Parlament ja die Gelegenheit, das Spitzenkandidatenprinzip durchzusetzen, allein es hat keine parlamentarische Mehrheit für Timmermanns oder für Weber gegeben. Das heißt, da kann sich das Parlament durchaus an die eigene Nase fassen. Und zum anderen gibt es ja jetzt gerade die Gelegenheit, das Wahlrecht beziehungsweise das Kandidatenprinzip zu verschriftlichen, als Verfahren zu etablieren. Und hier hat Ursula von der Leyen durchaus Entgegenkommen signalisiert.
Von der Leyens Versprechen
Zagatta: Sie sagen, das Parlament ist selbst schuld, weil es sich auf keinen Kandidaten dann einigen konnte. Wird dieses Parlament überhaupt noch ernstgenommen?
Despot: Das Parlament wird auf jeden Fall ernstgenommen, es hat ja auch durchaus seine Power und seine Stärke demonstriert in diesen Tagen. Und wie gesagt, das Gelegenheitsfenster steht offen, und man darf nicht vergessen, die gesamte Kommission, die ja noch zusammenzustellen ist abseits dieser Spitzenjobs, die 27 Kommissare werden ja auch noch vom Parlament bestätigt werden müssen. Insofern hat das Parlament durchaus seinen Hebel.
Zagatta: Sie sagen, von der Leyen hat das schon in Aussicht gestellt, dem Parlament auch mehr Rechte zu verschaffen, sie will dem Europaparlament unter anderem auch das Recht zu Gesetzesinitiativen einräumen, das es bisher nicht hatte. Was heißt das denn im Endeffekt? Die Staats- und Regierungschefs darum bitten?
Despot: Es ist tatsächlich so, dass Frau von der Leyen hier alleine nichts entscheiden kann, sie kann aber durchaus die Gesetzesinitiative, die ja im Moment bei der Kommission liegt, deren Chefin sie ja werden will, nutzen und diese Reformen oder diese Erwartungen, die sie ja jetzt durchaus geweckt hat, erst einmal angehen. Und dann wird es natürlich sich zeigen, ob die Staats- und Regierungschefs mitziehen. Aber ich denke, das Parlament hat sich auf die Hinterbeine gestellt, und es ist jetzt, wie ich schon sagte, eine Gelegenheit, diese institutionelle Machtprobe weiterzudenken und in ein konstruktives, produktives Prozedere zu lenken.
Spitzenkandidatenprinzip "nirgendwo verankert"
Zagatta: Jetzt hat sich das EU-Parlament aber ja gefeiert für die diesmal besonders hohe Wahlbeteiligung, man sagt, das zeige jetzt, welche Rolle man mittlerweile spiele. Warum sollte man das nächste Mal überhaupt noch zur EU-Wahl gehen, wenn die Staats- und Regierungschefs doch weiterhin alles bestimmen?
Despot: Das tun sie ja nicht. Die Staats- und Regierungschefs sind erstens demokratisch legitimiert, das sind also jetzt keine Götter im Hintergrund, die irgendwelche Strippen ziehen, das ist das eine. Das andere ist, man muss sich da schon ehrlich machen: Auch Manfred Weber stand ja als Person nicht zur Wahl, sondern die Parteienfamilien. Man müsste hier das Wahlrecht adaptieren und man muss natürlich der Bevölkerung auch klarmachen, wer und was zur Wahl steht und wer und was nicht. Insofern hat man hier auch ein bisschen über das Ziel hinausgeschossen, das Spitzenkandidatenprinzip ist ja so nirgendwo verankert in den Verträgen, in den europäischen Verträgen. Insofern war das nicht ganz aufrichtig, auch von den Spitzenkandidaten selbst nicht.
Zagatta: Sehen Sie da die Bereitschaft, dass das geändert wird?
Despot: Frau von der Leyen hat ihre Bereitschaft signalisiert, wir haben jetzt tatsächlich politischen Druck. Der Druck, Sie haben es erwähnt, der aus der Wahlbeteiligung sich ableitet, aus dem europäischen Demos, also der Bevölkerung, den Bürgerinnen und Bürgern sich durchaus ableitet, den sollte man meines Erachtens jetzt produktiv nutzen und das Zeitfenster nutzen, das jetzt durchaus vorhanden ist, um daraus für die Zukunft ein neues Prozedere zu etablieren.
Zagatta: Ob von der Leyen gewählt wird, steht noch nicht ganz fest, sie hat gute Aussichten. Ist es denn ein Problem, danach sieht es ja im Moment auch aus, wenn die deutsche Politikerin da jetzt mit Unterstützung von Europa-Skeptikern und Nationalisten ins Amt gehoben wird, also quasi eine Kommissionspräsidentin, sagen wir, von Victor Orbáns Gnaden. Ist das ein Problem?
Despot: Sie ist nicht von Victor Orbáns Gnaden Präsidentin, er hat sich nicht quergestellt, der Vorschlag kam ja von Macron. Insofern würde ich eigentlich eher die Argumentation umdrehen und fragen, wäre es denn nicht ein größerer Schaden, eine so ausgewiesene, eine so engagierte Pro-Europäerin durchfallen zu lassen? Wäre das nicht ein größerer Gewinn für die Europaskeptiker und die Europafeinde?
Präzedenzfall bei Barroso
Zagatta: Was passiert denn, wenn von der Leyen tatsächlich durchfällt?
Despot: Sollte sie durchfallen, dann würde ich auch das nicht als Krise einstufen, dann gibt es auch einen Präzedenzfall übrigens, dann kann erstens der Kommissionspräsident Juncker, sollte es erforderlich werden, länger im Amt bleiben. Der Wechsel steht ja zum 1. November erst an. Dann greifen aber die Verfahren, das heißt, erst mal innerhalb eines Monats müsste ein Alternativkandidat, -kandidatin nominiert werden. Dafür hätte der Rat der europäischen Staats- und Regierungschefs erst mal einen Monat lang Zeit, und dann würde das Prozedere von vorne beginnen. Aber wie gesagt, die bisherige Kommission kann länger geschäftsführend im Amt bleiben.
Zagatta: Also eine Krise, geschweige denn eine Verfassungskrise, sehen Sie auch dann für diesen Fall nicht?
Despot: Es gab tatsächlich schon mal einen Präzedenzfall, 2004 war das, unter Barroso, als man eben auch nicht sofort den nahtlosen Übergang hatte, da blieb die Kommission geschäftsführend im Amt - das wäre sicherlich nicht schön, es wäre sicherlich auch nicht günstig angesichts der äußeren Themen, die sich geben, Stichwort Brexit, Stichwort Handelskonflikte in der Welt und vieles andere mehr, aber es wäre keine ausgemachte institutionelle Krise - die übrigens auch die Sozialdemokraten vermeiden wollen, die ja im Moment ja noch Wackelkandidaten sind, was die Unterstützung von der Leyens angeht.
Zagatta: Bei all den Schwierigkeiten, die diese Wahl, dieses Gerangel um diesen Posten jetzt mit sich bringen und gebracht haben: Wer gibt denn Ihrer Meinung nach in der Europäischen Union im Moment den Ton an?
Despot: Man kann ja gerade besichtigen, dass den Ton nicht eine Nation oder eine Gruppe von einzelnen Personen oder Politikern angibt, sondern es ist ein langwieriger, von außen betrachtet ein schwieriger Prozess, in dem es darum geht, einen Kompromiss herauszuarbeiten und herauszumeißeln, und das konnten wir in den letzten Wochen besichtigen. Insofern ist das im Grunde der Modus Operandi der Europäischen Union, den wir seit jeher kennen.
Deutsch-französische Achse? "Funktioniert"
Zagatta: Seit jeher kennen wir ja eigentlich die viel beschworene deutsch-französische Achse, die da Jahrzehnte lang die EU geprägt hat. Funktioniert die auf irgendeine Art immer noch oder gar nicht mehr?
Despot: Sie funktioniert. Es ist klar, dass es da diverse Differenzen und Dissonanzen gegeben hat in der Vergangenheit, was Macrons Vorstoß und Reformagenda anging, die ja in, so wurde es empfunden, Berlin nicht dieses Echo hervorgerufen hat, das man sich in Paris gewünscht hat. Nichtsdestoweniger kann man sagen, bei diesem Personaltableau hat es eine Einigung oder eine gute Abgestimmtheit zwischen Frankreich und Deutschland gegeben, die Achse wird auch weiterhin Bestand haben, da habe ich keinen Zweifel, die ist wichtig für Europa, aber eben nicht nur. Wichtig sind auch die kleineren Mitgliedsstaaten, und da sich die Mehrheitsverhältnisse im Parlament auch geändert haben, wird es noch mal ein Stückchen komplizierter werden in der Zukunft.
Zagatta: Welche Rolle spielen da die Osteuropäer, spielen Staaten auch jetzt wie Polen, wie Ungarn?
Despot: Die Staaten sind aktuell ja sehr stark im Fokus angesichts der laufenden Rechtsstaatsverletzungsverfahren, sie spielen auch deshalb eine Rolle, weil sie gewissermaßen ausscheren aus gewissen Politikfeldern, Stichwort Migration. Auf der anderen Seite haben gerade die Polen durchaus eine sehr pro-europäische Einstellung, gerade auch ihre Bevölkerung, das trifft auch auf Ungarn zu. Jetzt haben die Staatschefs in der letzten Zeit sehr auf sich aufmerksam gemacht, weil sie ja gegen Europa gewettert haben. Insofern wird das weiter spannend bleiben, welche Rolle sie spielen, sie haben bei dem Personaltableau ja eine durchaus konstruktive Rolle gespielt.
Zagatta: Und Frau Despot, zum Schluss noch die Frage, täuscht der Eindruck, dass Angela Merkel da deutlich an Einfluss verloren hat? Manche Kritiker sagen ja schon, sie sei auch auf europäischer Ebene eine Art lame duck geworden. Täuscht dieser Eindruck?
Despot: Ich glaube, in weiten Teilen ja. Die Tatsache, dass sie sich enthalten hat in Bezug auf die Personalie von der Leyen - das ist ihr ja angekreidet worden - kam eigentlich aus einer guten politischen Sitte heraus, denn die Personalie war ja unter den Koalitionären in Berlin umstritten. Und da ist es gute Praxis, sich bei strittigen Fällen zu enthalten - und das hat Angela Merkel getan.
Zagatta: Frau Despot, herzlichen Dank für das Gespräch!
Despot: Sehr gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.