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EU-Flüchtlingsabkommen mit Ankara
"Türkei hat Interesse, ihren Teil des Deals umzusetzen"

Die EU und die Türkei hätten in Bezug auf die Flüchtlingsfrage in der Außenpolitik ähnliche Interessen, sagte der Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul, Kristian Brakel, im DLF. Er glaube schon, dass man sich darauf verlassen könne, dass die Türkei versuchen werde, ihren Teil des Deals umzusetzen.

Kristian Brakel im Gespräch mit Jochen Spengler |
    Flüchtlinge an der syrisch-türkischen Grenze bei Öncüpınar.
    Flüchtlinge an der syrisch-türkischen Grenze bei Öncüpınar. (Imago / ZUMA Press)
    Jochen Spengler: Letzten Freitag hat sich die EU mit der Türkei auf den umstrittenen Flüchtlingspakt geeinigt. Der Deal: Alle Flüchtlinge, die illegal von der Türkei nach Griechenland übersetzen, werden zurückgeführt. Im Gegenzug nimmt die EU für jeden irregulären syrischen Flüchtling einen Flüchtling auf, der sich schon seit längerer Zeit in der Türkei aufhält. Der Pakt soll die Geschäfte der Schlepper erschweren und er soll dafür sorgen, dass weniger Flüchtlinge in die Europäische Union kommen, und er ist seit gestern in Kraft.
    Dass Griechenland organisatorisch noch nicht in der Lage ist, die Flüchtlinge zu registrieren, ist aber nur ein Problem des Pakts, zumal eine Art Torschlusspanik herrscht, die dazu führt, dass die Zahl der Flüchtlinge nach Griechenland am Wochenende deutlich angestiegen ist. Umstritten ist der Deal aber vor allem, weil nicht nur Menschenrechtsorganisationen kritisieren, dass damit das individuelle Grundrecht auf Asyl ausgehöhlt werde.
    Wir sind nun telefonisch mit Kristian Brakel verbunden, dem Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul. Guten Tag, Herr Brakel
    Kristian Brakel: Hallo!
    Spengler: Wir haben gleich mehrere Gründe, mit Ihnen zu sprechen, nicht nur wegen des EU-Türkei-Paktes oder auch wegen der Bombenanschläge der letzten Woche, am Samstag erst wieder zuletzt in Istanbul, sondern auch, weil heute das kurdische Neujahrsfest Newroz gefeiert wird. In der südosttürkischen Kurden-Metropole Diyarbakir findet die zentrale Feier statt und die Kurden haben Angst vor Terroranschlägen durch den IS und vor dem Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte. Kann man unter solchen Umständen überhaupt noch ein Fest feiern?
    Brakel: Es sind natürlich sehr schwierige Umstände, unter denen diese Feierlichkeiten dieses Jahr stattfinden. Man muss allerdings auch betonen, dass für die Kurdinnen und Kurden in der Türkei und auch in anderen Ländern der Region dieses Fest traditionell immer schon ein Symbol gewesen ist gerade in schwierigen Zeiten gegen Repressionen durch den Staat, für mehr Selbstbestimmung, für mehr kurdische Identität, und ich denke, das wird es in diesem Jahr auch wieder werden.
    Spengler: Wie muss man sich denn die Lage in den Südostteilen der Türkei vorstellen, in den Kurden-Gebieten? Ist das da wirklich ein flächendeckender Bürgerkrieg?
    Brakel: Nein, das ist es nicht. Die Kämpfe sind auf wenige Städte beschränkt und dort auch nur auf bestimmte Gegenden. Zum Beispiel in Diyarbakir, die heimliche Hauptstadt der Kurden-Gebiete, da war ich vor wenigen Wochen und da ist es so, dass die Kämpfe vor allen Dingen in der Altstadt stattfinden. Diese Altstadt ist abgesperrt relativ weiträumig von den Sicherheitskräften. Das bedeutet, Sie kommen da auch nicht hin. Da steht ein Zaun davor und wenn Sie sich nähern, fahren Polizeiautos auf mit Waffen, die auf Sie gerichtet werden. Aber wie gesagt, in großen anderen Teilen der Stadt verläuft das Leben mehr oder weniger normal, aber man ist natürlich trotzdem von der Stimmung, von dieser ganzen Repression beeinflusst.
    "Die PKK hat auch massiv an der Eskalationsschraube mitgedreht"
    Spengler: Herr Brakel, ich habe noch mal nachgelesen. Vor einem Jahr hatte der inhaftierte Anführer der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK, Abdullah Öcalan, seine Anhänger in einer Botschaft zu Newroz, zu diesem Neujahrsfest aufgefordert, den Konflikt mit der türkischen Regierung beizulegen, ich zitiere mal, "die grausame Geschichte zu beenden, eine Ära des Friedens, der Brüderlichkeit und der Demokratie zu beginnen." Das klingt heute wie aus einer anderen Zeit. Ist das allein Präsident Erdogans Schuld, dass der Konflikt mit den Kurden so eskaliert ist?
    Brakel: Nein, das ist nicht allein die Schuld des Präsidenten, oder nicht allein die Schuld der türkischen Regierung. Die PKK hat auch massiv an der Eskalationsschraube mitgedreht. Das hat ganz stark damit zu tun, dass die PKK und die türkische Regierung ganz entgegengesetzte Interessen in Nordsyrien verfolgen. Es hat aber auch damit zu tun, wie die PKK sich militärisch versucht hat aufzustellen jetzt in den türkischen Städten.
    Spengler: Um Sie ganz kurz zu unterbrechen. Heißt das, dass die Anhänger von Öcalan nicht mehr auf ihn hören?
    Brakel: Das würde ich so nicht sagen. Aber es gibt relativ wenig Möglichkeiten für sie, im Moment auf ihn zu hören, denn es gibt ja seit gut einem Jahr im Prinzip ein Kontaktverbot. Es wird niemand mehr vorgelassen zu Öcalan, seine Botschaften dringen nicht mehr nach draußen, wie das vorher war. Das bedeutet: Selbst wenn er zur Mäßigung, wenn er zu Frieden aufrufen würde, das ist anscheinend von der türkischen Regierung im Moment nicht gewollt, dass er sich an seine Anhänger wendet.
    Spengler: Jetzt haben wir nicht nur das Problem mit den Kurden, sondern wir haben auch noch das Problem mit dem IS. Beide verüben Terroranschläge, der letzte Terroranschlag am Samstag in Istanbul. Verstärkt sich eigentlich doch der Eindruck, dass die Türkei die Sicherheitslage nicht in den Griff bekommt, oder?
    Brakel: Ja, das ist sicherlich so. Gerade wenn wir uns den Anschlag vom Samstag angucken, das ist ja vermutlich ein Attentäter gewesen, der aus dieser Adiyaman-Zelle kommt, die schon für die Anschläge im letzten Jahr sowohl in Diyarbakir, im kurdischen Suruc und dann auch noch auf die Friedensdemonstration in Ankara verantwortlich waren. Da muss man sich schon die Frage stellen, wie es sein kann, dass diese Zelle jetzt auch über ein Jahr nach ihrem Bekanntwerden immer noch nicht ausgehoben ist.
    Spengler: Das ist der IS sozusagen?
    Brakel: Ja.
    Spengler: Kann man von so einem Staat, der sich in einer Art Mehr-Fronten-Krieg befindet und es nicht in den Griff kriegt, kann man von dem erwarten, ein so kompliziertes Abkommen wie den Türkei-EU-Deal umzusetzen?
    Brakel: Jein.
    "In der Außenpolitik dreht es sich um Interessen"
    Spengler: Was heißt denn Jein?
    Brakel: Jein heißt in diesem Fall, ich glaube, es gibt ja ganz viel Kritik - das haben wir ja gerade auch in den Beiträgen gehört - von Politikern, die sagen, wie können wir denn überhaupt mit Erdogan, wie können wir mit einer repressiven Regierung zusammenarbeiten, und ich würde da ganz stark unterscheiden. Es ist nun mal so: In der Außenpolitik dreht es sich um Interessen, und in diesem Fall hat die türkische Regierung und die EU relativ ähnliche Interessen. Auch die Türkei ist ganz dringend darauf angewiesen, dass Europa sich in einer Form nicht nur finanziell, sondern auch mit Aufnahmekontingenten an der Bewältigung der Flüchtlingsfrage beteiligt, denn die Türkei selber bricht unter der Last zusammen.
    Ich glaube, da gibt es ähnliche Interessen, und aufgrund dessen kann man schon davon ausgehen, dass die Türkei ein Interesse daran hat, das umzusetzen. Die Türkei steht außerdem außenpolitisch relativ isoliert da nach den Auseinandersetzungen mit Russland, nachdem die Verbündeten im Nahen Osten weggebrochen sind. Das bedeutet, auch die Türkei braucht die EU.
    Die andere Frage ist: Hat die Türkei die notwendigen Kapazitäten, um wirklich das zu machen, was die EU möchte, nämlich im Prinzip eigentlich alle Flüchtlinge von Griechenland fernzuhalten. Den Eindruck habe ich nicht. Das ist ja auch der Grund, warum die Kanzlerin mit angeregt hat, dass es diesen NATO-Einsatz gibt, den ich ganz furchtbar finde. Ich glaube nicht, dass Kriegsschiffe die richtige Wahl sind, um Flüchtlinge aus dem Meer zu fischen. Aber ich glaube schon, dass man sich darauf verlassen kann, dass die Türkei versuchen wird, ihren Teil des Deals umzusetzen. Nur um das wirklich das Ergebnis bringt, das man sich erhofft, das ist eine andere Frage.
    Spengler: Sie haben die NATO-Kriegsschiffe angesprochen. Es gibt nun Berichte und Schilderungen, wonach die türkische Küstenwache regelrecht Jagd machen soll auf Flüchtlinge. Wäre das im europäischen Sinne? Entspricht das den Standards der Genfer Flüchtlingskonvention?
    Brakel: Ich denke mal, das wäre eine rhetorische Frage. Natürlich ist das eine schwere Verletzung der Flüchtlingskonvention und das ist auch, glaube ich, wenn man sich anguckt, wie die Türkei dieses Abkommen umsetzen wird, einer der Knackpunkte von Sicherheitskräften, von denen wir wissen, dass sie regelmäßig in Menschenrechtsverletzungen im Land verwickelt sind, und das sind immerhin türkische Staatsbürger. Es ist nicht anzunehmen, dass besonders schutzbedürftige Personen, die noch nicht mal diesen minimalen Schutzstatus der türkischen Staatsbürgerschaft haben, dass die in irgendeiner Form besser, wahrscheinlich eher schlechter behandelt werden. Das bedeutet: Die EU muss ganz gezielt da hingucken, muss jetzt Monitoring-Mechanismen aufbauen, um sicherzustellen, dass die Menschenrechte der flüchtenden Menschen gewahrt bleiben.
    "Die Türkei ist auch nicht alleine in der Lage, dieses Problem zu lösen"
    Spengler: Wenn man sagen kann, dass die EU und die Türkei gegenseitig aufeinander angewiesen sind, um die Flüchtlingskrise zu überwinden, würden Sie dann so weit gehen, der Linkspartei zuzustimmen, die sagt, Europas Schicksal hat man jetzt in die Hände Erdogans begeben?
    Brakel: Soweit würde ich nicht gehen. Aber es ist natürlich schon klar: Ohne die Türkei wird es keine Lösung dieser Flüchtlingsfrage geben. Allerdings ist auch noch die Frage, oder es ist noch nicht mal eine Frage. Ich würde sagen, die Türkei ist auch nicht alleine in der Lage, dieses Problem zu lösen, weil selbst gehen wir mal davon aus, dass der Flüchtlingstzustrom von der Türkei nach Griechenland wirklich nachlässt, der Sommer steht bevor, es werden wieder Boote von Libyen aus starten, von Tunesien aus. Das bedeutet, der nächste Akt dieses Dramas steht schon kurz bevor, und wenn die EU sich nicht endlich zusammenrauft und eine Lösung findet, die auch längerfristig tragbar ist, denn dieses Problem wird uns ja nicht irgendwie noch ein Jahr begleiten, sondern vielleicht noch die nächsten zehn Jahre, dann steht die EU ganz sicher vor ganz erheblichen Problemen.
    Spengler: Um noch mal auf den Beginn unseres Gesprächs zurückzukommen, Herr Brakel: das kurdische Neujahrsfest. Sehen Sie irgendwelche Anzeichen dafür, dass die Türkei oder die Türken und die Kurden sich aufeinander zubewegen?
    Brakel: Leider sehe ich das im Moment gar nicht. Es gab ja auch diesen verheerenden Anschlag, der der PKK zugerechnet werden muss beziehungsweise einer PKK-Splittergruppe in Ankara, am vorletzten Sonntag. Danach ist der Präsident an die Presse getreten und hat gelobt, im Prinzip jetzt mit der eisernen Faust den Terrorismus zu zerschlagen, und hat gleich darauf gefordert, dass die Definition von Terrorismus ausgeweitet werden muss, nämlich nicht nur auf Attentäter selber, sondern auch auf Journalisten und Journalistinnen, auf Anwälte, Politikerinnen, also ein ganz großes Feld von Leuten, die vermutlich einfach die Regierungspolitik nicht mittragen.
    Der Kurs der Regierung scheint im Moment zu sein, dass man sagt, ja, ja, wir wollen schon auf die Kurden zugehen, und ja, natürlich wollen wir auch einen Friedensprozess, aber eben nicht mehr so wie vorher, wir wollen ihn nicht mit der PKK führen, sondern wir wollen ihn mit der kurdischen Gesellschaft führen und das soll im Rahmen dieses ganzen Prozesses um eine Verfassungsänderung geschehen. Diese Verfassungsänderung, die der Präsident ja anstrebt, damit er das Land in eine Präsidialrepublik verwandeln kann. Das hat zwei große Probleme. Einmal wird natürlich diese Koppelung an die Präsidialrepublik von vielen Leuten unter anderem auch aus der kurdischen Gesellschaft abgelehnt, weil sie undemokratische Tendenzen befürchten. Und das zweite Problem ist, das gibt es in ganz vielen Friedensprozessen rund um die Welt, dass Regierungen einfach sagen, die andere Seite passt mir nicht, ich schaffe mir meinen eigenen Partner für den Friedensprozess. In diesem Fall möchte man das machen, indem man die PKK ausblendet. Nur die PKK ist nun einmal die Gruppierung, die militärisch am stärksten ist, die die Waffen hat und die auch in der Lage ist, jeglichen Friedensprozess wieder zum Stürzen zu bringen, wenn man sie denn nicht einbindet.
    Spengler: Kristian Brakel war das, der Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul. Herr Brakel, herzlichen Dank für das Gespräch und einen schönen Tag noch.
    Brakel: Ihnen auch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.