Christiane Kaess: Nach den verheerenden Flüchtlingskatastrophen im Mittelmeer wollen die EU-Staats- und Regierungschefs bei einem Sondergipfel ab heute Nachmittag Hilfsmaßnahmen beschließen. Dazu sollen offensichtlich auch Pläne zu Militäreinsätzen gegen Schlepperbanden gehören.
Am Telefon ist nun Gabriele Zimmer. Sie ist die Fraktionsvorsitzende der Linken im EU-Parlament. Guten Tag, Frau Zimmer!
Gabriele Zimmer: Guten Tag, Frau Kaess.
Kaess: Was erwarten Sie von dem Gipfeltreffen heute?
Zimmer: Wenn ich als Grundlage das Papier nehme, das soeben als Entwurf für eine gemeinsame Erklärung genommen worden ist, dann kann ich nur sagen, ich erwarte gar nichts.
Kaess: Warum?
Zimmer: Weil in diesem Entwurf eigentlich mehr oder weniger nicht mehr drinsteht, also sehr nebulös formulierte Passagen enthalten sind, die nach wie vor davon ausgehen, dass es in erster Linie darum geht, einen Sicherheitsgipfel durchzuführen, einen Abschottungsgipfel durchzuführen, und nicht, sich auf humanitäre Aufgaben gemeinsam zu verständigen. Es ist nach wie vor die Rede davon, dass innerhalb des Mandates, innerhalb des Mandates von Frontex die Rettungsleistungen erbracht werden sollen, und das heißt letztendlich, da wird noch nicht mal davon gesprochen, dass man die Boote wirklich bis an die libysche Küste hinaus lassen will. Da wird nicht davon gesprochen, was dringend notwendig ist, um die Menschen wirklich zu retten. Es ist nach wie vor nur die Rede von einer Verdoppelung der Ausgaben, die jetzt für Triton, also das jetzige Programm eingesetzt worden sind, und da kommt man noch nicht einmal auf die Hälfte dessen, was die italienische Regierung in ihrem vorherigen Programm eingesetzt hatte im Jahr.
Kaess: Aber, Frau Zimmer, es geht ja genau darum, diese Seenotrettung zu stärken. Und diese Aufstockung, die ja wirklich massiv ist, warum reicht Ihnen das nicht?
Zimmer: Nein, die Aufstockung ist nicht massiv. Das ist lächerlich angesichts der Zahlen, mit denen wir es zu tun haben. Amnesty International erwartet, dass allein in diesem Jahr möglicherweise 30.000 Menschen auf dem Mittelmeer sterben werden. Wir haben eine Million Flüchtlinge in Libyen allein. Und da wollen wir mit Bagatellzahlen, mit 60 Millionen im Jahr einsteigen. Das wäre eine Verdoppelung. Im Moment werden 30 Millionen eingesetzt. Das ist gar nichts! Zum gleichen Zeitpunkt kürzen die Vertreter der Regierungen im Rat die Mittel für die humanitäre Hilfe aus dem mehrjährigen Finanzprogramm. Das sind die Mittel, die werden zum Beispiel für die Flüchtlingslager benötigt.
Kaess: Frau Zimmer, Sie haben gerade schon das Programm Mare Nostrum angesprochen, den Vorläufer von Triton, und das ist jetzt auch immer wieder in der Diskussion. Es gibt das Argument gegen Mare Nostrum, dass das erst recht eine Motivation gewesen ist für die Flüchtlinge, sich in dieses Risiko der Überfahrt zu begeben, in der Hoffnung, dann gerettet zu werden. Eine Rückkehr zu Mare Nostrum, wäre das nicht auch eine Gefahr?
Zimmer: Ich sehe das nicht so. Man muss natürlich gleichzeitig verschiedene Maßnahmen beschließen. Das wäre die eine Frage, wie können Menschen einen legalen Weg bekommen, dass sie sich auf den Weg in die EU machen können, dass dort ihr Anliegen geprüft wird, und sie entsprechend fair auch behandelt werden. Es geht zum einen um Kriegsflüchtlinge, für die brauchen wir eine temporäre Aufenthaltsmöglichkeit. Es geht um Menschen, die politisches Asyl beantragen. Da gibt es ganz klare Regelungen. Und es gibt natürlich auch Menschen, die in den europäischen Staaten arbeiten wollen. Dafür brauchen wir Einwanderungsgesetze. Wenn ich Menschen aber zwinge, sich letztendlich Kriminellen auszuliefern, wenn ich sie zwinge, dann werde ich das nicht beenden, indem ich Boote vor der Küste einfach zerstöre.
Kaess: Diese legalen Wege, die Sie ansprechen - das haben wir gerade von unserer Korrespondentin gehört -, die stehen heute tatsächlich nicht auf dem Programm der Staats- und Regierungschefs. Aber der Kampf gegen die Schleuser. Es sollen Boote beschlagnahmt werden und zerstört werden. Verglichen wird das mit dem Kampf gegen die Piraten vor Somalia, der durchaus erfolgreich war. Was erhoffen Sie sich davon?
Zimmer: Nein, ich vergleiche es nicht mit der Atalanta-Aktion, die als Vergleich hier herangezogen wird, sondern ich sage, was passiert denn dann, wenn diese Boote beschlagnahmt werden. Erstens - das hat Ihre Kollegin ja auch schon gesagt - die Gefahr, dass Fischerboote dabei mit draufgehen, die Gefahr, dass Menschen selber, die als Flüchtlinge in diesen Booten sind, mit draufgehen, die ist riesen-riesengroß. Und was passiert dann? Es ändert sich doch nichts an der Not dieser Menschen. Bloß wir sehen es dann nicht mehr, weil es hinter der Grenze ist.
Kaess: Aber, Frau Zimmer, das sind ja erste Überlegungen dazu, wie man vorgehen könnte, um kriminellen Schleusern das Handwerk zu legen. Was wäre denn Ihre Idee?
Zimmer: Ich denke schon, dass es wichtig wäre, die entsprechenden polizeilichen Maßnahmen zu unterstützen. Wir haben seit Jahren in der Diskussion die Frage, wie beispielsweise Kapitalströme überwacht werden können. Wir haben seit Jahren in der Diskussion, wie in Kooperation mit den betreffenden Staaten und in Kooperation auch mit der UN die entsprechenden Voraussetzungen geschaffen werden, um solchen Leuten langfristig auch das Handwerk zu legen. Das ist aber nur die eine Seite. Wenn ich nicht gleichzeitig einen legalen Weg schaffe, dass Menschen sich diesen Kriminellen nicht ausliefern müssen, dann wird sich daran nichts ändern. Sie werden immer wieder neue Wege finden. Es gibt Interviews von Menschen, die es unter Lebensgefahr geschafft haben zu kommen, und die sagen, ich würde immer wieder das machen, selbst wenn ich mein Leben dabei aufs Spiel setze, weil ich habe keine andere Chance.
Kaess: Was würde für Sie konkret ein legaler Weg bedeuten, die Grenzen öffnen für alle, die rein wollen?
Zimmer: Nein. Damit wird doch immer alles gleich kaputt geredet. Ich gehe von einem mehrstufigen System aus. Jeder muss das Recht haben, erst einmal in das Land zu kommen und einen entsprechenden Antrag stellen zu können.
Kaess: Und das würden Sie tatsächlich so verlangen, auch vor dem Hintergrund der Vorbehalte in der Bevölkerung, die wir kennen?
Zimmer: Dann muss offen darüber geredet werden, worum es geht. Einerseits geht es um politisches Asyl. Wir haben uns alle dazu verpflichtet, dass Menschen, die um politisches Asyl bitten, dass das geprüft wird, und wenn die Gründe berechtigt sind, dann bekommen sie politisches Asyl. Das ist ganz klar geregelt. Dann haben wir die Menschen, die vor Zerstörung, vor Krieg, vor Umweltkatastrophen fliehen, ganz einfach, weil ihnen die Lebensbedingungen entzogen worden sind. Wir haben genügend Beispiele. Schauen Sie sich die syrischen Flüchtlinge an, die meisten wollen einen temporären, einen zeitweisen Schutz, einen zeitweisen Aufenthalt.
Kaess: Und nicht mal für die, Frau Zimmer, ist genug Verständnis in der Bevölkerung im Moment vorhanden.
Zimmer: Ja, aber das ist auch unsere politische Verantwortung, weil wir letztendlich zulassen, dass als Verursacher und gleichzeitig Opfer der Krisensituation, die wir in vielen Ländern haben, oftmals allgemein Ausländer, oftmals allgemein Migranten hingestellt werden, ohne dass wir wirklich mit den Menschen in der Öffentlichkeit darüber reden. Wir können es uns nicht mehr erlauben, so zu tun, dass Deutschland kein Einwanderungsland wäre. Wir können es uns nicht erlauben, politisches Asyl zu diskriminieren oder zu diskreditieren, und wir können uns auch nicht erlauben, dass wir als die Ursache der Verschlechterung von Krisensituationen letztendlich die, die am unschuldigsten sind und die die schlimmsten Opfer zu tragen haben, dass wir die so hinstellen, und darüber müssen wir offen reden. Ich verlange Ehrlichkeit auch in der politischen Debatte und nicht nur das Schielen nach Wahlergebnissen.
Kaess: Gabriele Zimmer, Fraktionsvorsitzende der Linken im EU-Parlament. Danke für dieses Gespräch heute Mittag.
Zimmer: Ich bedanke mich auch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.