Die Eskalation an der türkisch-griechischen Grenze hat die Situation der Flüchtlinge an dieser europäischen Außengrenze wieder in den Fokus gerückt. Wir beantworten die wichtigsten Fragen zu den Hintergründen.
Präsident Recep Tayyip Erdogan erklärte am Samstag (29.02.2020), die Grenzen der Türkei zu Griechenland und damit zur Europäischen Union seien für Flüchtlinge offen. Die Türkei hat mehr als 3,5 Millionen Flüchtlinge aus dem Bürgerkriegsland Syrien aufgenommen, aber auch viele Menschen, die vor Krieg und Hunger in Asien und Afrika geflohen sind.
Seit Erdogans Ankündigung hoffen Tausende auf Einlass in die EU - über die griechische EU-Außengrenze. Doch Griechenland hält seine Grenzen geschlossen und ging unter anderem mit Tränengas gegen die Migranten vor. Besonders betroffen ist momentan der Grenzort Kastanies im Nordosten Griechenlands. Derzeit harren Tausende Flüchtlinge dort aus.
Griechenland sieht sich außerstande, noch mehr Flüchtlinge aufzunehmen. Auf den Ägäis-Inseln Lesbos, Chios, Samos, Leros und Kos leben mittlerweile über 40.000 Menschen in menschenunwürdigen Camps, in denen Platz für lediglich 6.000 Menschen ist. Die Flüchtlinge kommen größtenteils aus Afghanistan, Syrien, dem Irak, Somalia und dem Kongo. Die meisten von ihnen leben außerhalb des offiziellen Lagers in den benachbarten Olivenhainen.
Die griechische Regierung hofft auf eine Lösung auf europäischer Ebene. Sie forderte zusätzliche Hilfe bei der Grenzschutzagentur Frontex an. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) versprach, man sei bereit, bei der Sicherung der Landgrenze zu helfen.
Eigentlich hatte sich die Türkei durch ein Abkommen mit der EU aus dem Jahr 2016 dazu verpflichtet, Flüchtlinge auf türkischem Boden zu halten – zum Beispiel durch stärkere Küstenpatrouillen. Im Gegenzug wurde der Türkei dafür finanzielle Hilfe von der Europäischen Union zugesagt: Sie ist in zwei Tranchen in Höhe von jeweils drei Milliarden Euro aufgeteilt, die im Rahmen von zwei Zeiträumen zugewiesen werden: 2016 bis 2017 und 2018 bis 2019.
Nach dem Flüchtlingsabkommen darf die EU alle Migranten, die illegal auf die griechischen Inseln übersetzen, in die Türkei zurückschicken. Im Gegenzug nimmt die EU für jeden zurückgeschickten Syrer einen anderen legal auf.
Der türkische Präsident Erdogan steht unter besonderem Druck: Seit die Gefechte in Syrien erneut heftiger geworden sind, versuchen immer mehr Menschen aus Syrien in die Türkei zu fliehen. Mehr als 3,5 Millionen syrische Flüchtlinge hat die Türkei aufgenommen. Darüber hinaus versuchen auch Migranten aus Afghanistan, Iran oder Nordafrika über die Türkei in die EU zu gelangen.
Der stellvertretende türkische Außenminister Faruk Kaymakci hatte die EU im September 2019 aufgefordert, die Auszahlung von Hilfsgeldern für die Flüchtlingsaufnahme zu beschleunigen. Bisher sei weniger als die vereinbarte Summe von sechs Milliarden Euro geflossen.
Erdogan hatte zuletzt unter Verweis auf die gestiegene Zahl der Flüchtlinge im Land unter anderem von der EU mehr Unterstützung gefordert. Die Türkei gibt immer wieder an, rund 40 Milliarden für die Versorgung der Migranten ausgegeben zu haben. Die Türkei wirft der EU außerdem vor, den vereinbarten Rückführungen nicht nachzukommen.
Migrationsforscher Gerald Knaus sieht eine Mitschuld der Europäischen Union. Bei den zurückliegenden EU-Haushaltsverhandlungen über den neuen mehrjährigen Finanzrahmen sei kein Posten für weitere Hilfen an die Türkei vorgesehen gewesen. Dies liege auch an Ländern wie Ungarn, die anders als Deutschland ohnehin nicht befürchten müssten, dass Flüchtlinge zu ihnen kämen. Ein neuer EU-Türkei-Deal wäre eine "Win-Win-Situation", zeigte sich Knaus überzeugt.
Die türkische Botschaft an die EU ist deutlich: Staatspräsident Erdogan verlangt in Sachen Migration eine neue Lastenverteilung.
In Syrien herrscht seit 2011 ein Bürgerkrieg, der eine humanitäre Katastrophe ausgelöst hat. Inzwischen mischen auch Russland und die Türkei auf unterschiedlichen Seiten mit. Die syrischen Regierungstruppen hatten im Dezember - unterstützt von russischen Luftangriffen - eine Offensive auf die Rebellenhochburg Idlib im Nordwesten des Landes begonnen. Die Menschen fliehen vor den Bombardements: 950.000 der drei Millionen Einwohner der Region sind nach UN-Angaben auf der Flucht.
Die türkische Regierung konnte ihre selbstgesteckten Kriegsziele in Syrien nicht erreichen. Bisher hat die türkische Armee nur etwa ein Viertel der ursprünglich angestrebten Fläche in Syrien erobert. Auch von der versprochenen Umsiedlung syrischer Flüchtlingen aus der Türkei in die sogenannte "Schutzzone" in Syrien ist nichts zu sehen. In Vereinbarungen mit Russland und den USA verpflichtete sich Erdogan außerdem, auf eine weitere Ausdehnung des türkischen Besatzungsgebietes zu verzichten.
Die Türkei wünscht sich deshalb Unterstützung für ihre Syrien-Politik. "Wenn die europäischen Länder das Problem lösen wollen, müssen sie die politischen und humanitären Bemühungen der Türkei in Syrien unterstützen", sagte Erdogan in einer Rede. Mit Russlands Präsident Wladimir Putin einigte sich Erdogan am Donnerstag (06.03.2020) auf eine Waffenruhe in der umkämpften Provinz Idlib im Nordwesten Syriens.
Seit Jahren kann sich die Europäische Union nicht auf einen systematischen Umgang mit Migranten einigen. Während die griechische Regierung ihre Migrationspolitik verschärft, tritt die EU bei der Lösungssuche für die Verteilung von Migranten auf der Stelle.
Die ursprünglich geplanten Asylreformen konnten deshalb noch nicht in Kraft treten, da sich bei einigen Aspekten die Staaten völlig verhakt haben - bei der Umverteilung der ankommenden Flüchtlinge zum Beispiel. In der Konsequenz wird über die Möglichkeit gesprochen, Länder, die sich nicht beteiligen, von bestimmten Leistungen der Union auszuschließen.
Die EU-Grenzschutzagentur Frontex hat die Alarmstufe an den Grenzen zur Türkei unterdessen auf "hoch" angehoben.
In der Großen Koalition in Berlin herrscht Uneinigkeit, wie Deutschland auf die Situation an der türkisch-griechischen Grenze reagieren sollte.
Den Griechen gehe es darum, kontrollierte Verhältnisse zu schaffen, sagte Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) am 06.03.2020 im Dlf: "Wir gehen davon aus, dass das alles verhältnismäßig und auch sehr angemessen geschieht, und wir sind auch bereit, den Griechen in dieser schwierigen Situation zu helfen".
Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) warnte vor nationalen Alleingängen und wirbt für eine "Koalition der Willigen" in der EU sowie für eine stärkere Unterstützung Griechenlands. Das will er mit seinen europäischen Amtskollegen erörtern. Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) macht sich dafür stark, minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen aus griechischen Lagern zügig zu helfen.
Wegen des massiven Andrangs von Flüchtlingen nach der Entscheidung der türkischen Regierung, die Grenzen zur EU zu öffnen, hatte Athen die höchste Alarmstufe ausgerufen. Außerdem erklärte sie, den Zugang zum Asylverfahren für Migranten zu stoppen: Neue Asylanträge werden für einen Monat ausgesetzt und diejenigen, die illegal das Land erreichen, werden nicht als Asylbewerber registriert und werden, wo es möglich ist, zurückgebracht.
Ob das Aussetzen des Asylverfahrens rechtens ist, ist fraglich. Brüssel-Korrespondent Peter Kapern erläutert, "in Brüssel gibt es viele Experten, Politiker, Abgeordnete und Kommissionsmitarbeiter, die betonen, dass es sich bei den Menschen an der Grenze gar nicht um Flüchtlinge handele. Vielmehr seien es Personen, die schon länger in der Türkei lebten - und damit auch in einem sicheren Drittstaat.
Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR sieht hingegen keine juristische Grundlage für das Verhalten Griechenlands. Auch Jürgen Bast, Professor für Rechtswissenschaften an der Universität Gießen, meint, "ein Asylverfahren an der Grenze gänzlich auszuschließen, ist offensichtlich europarechtswidrig." Menschenrechtler argumentieren, Griechenland verstoße gegen den Grundsatz der Nicht-Zurückweisung, der unter anderem in der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention verankert ist.