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EU-Flüchtlingspolitik
"Das System kann so nicht funktionieren"

Der österreichische Außenminister Sebastian Kurz fordert grundlegende Änderungen beim Umgang der EU mit Flüchtlingen. Das derzeitige System funktioniere nicht und müsse auf bessere Beine gestellt werden, sagte er im Deutschlandfunk.

Sebastian Kurz im Gespräch mit Jürgen Zurheide |
    Österreichs Außenminister Sebastian Kurz vor einem Gipfel der EU Außenminister
    Österreichs Außenminister Sebastian Kurz (picture alliance / dpa / Julien Warnand)
    "Die Flüchtlinge werden derzeit vor allem weitergewunken, das kann nicht funktionieren", sagte der ÖVP-Politiker. "Da nehme ich uns nicht aus." Zum derzeit geltenden Dublin-Abkommen, nach dem der EU-Staat, den ein Flüchtling als erstes betreten hat, für das Asylverfahren zuständig ist, sagte Kurz: "Das System, wie es derzeit ist, kann nicht funktionieren." Man müsse es schleunigst auf bessere Beine stellen. "Aber es ist geltendes Recht."
    Flüchtlinge dürften nicht durch mehrere Länder ziehen und das für sie beste aussuchen - das sei zwar menschlich verständlich, könne aber nicht funktionieren, sagte Kurz. Zwar fliehen viele Menschen vor Krieg und Gewalt - "wenn sie dann aber durch Mazedonien, Ungarn weiter ziehen, sind die Gründe vor allem wirtschaftlich". Er hoffe auf ein erstes Umdenken schon beim anstehenden Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs. Nötig seien Möglichkeiten, Asylanträge schon im Heimatland zu stellen, sowie Umsiedlungsprogramme für arme Menschen, die aber sicherstellten, dass diese in ihrer Heimatregion bleiben könnten. "Es kann nicht sein, dass nur die fittesten, die Schlepper bezahlen können, die Chance auf Asyl haben", so der Außenminister.
    Türkei als wichtiger Partner
    Kurz ist derzeit auf Regierungsbesuch in Ankara. Da die Türkei Ausgangspunkt der Balkanroute sei, auf der viele Flüchtlinge in die EU kommen, müsse man besser zusammenarbeiten. Die EU könne die Türkei angesichts der vielen Flüchtlinge im Land mit humanitärer Hilfe unterstützen - aber auch einen stärkeren Kampf gegen Schlepper und mehr Anstrengungen zur Grenzsicherung fordern. Man brauche die Regierung in Ankara außerdem, um eine Lösung im Syrienkonflikt zu finden. Die Türkei sei eine wichtige Regionalmacht und könne mit dem zweitgrößten stehenden Heer aller Nato-Länder eine wichtige Rolle im Kampf gegen die Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) spielen.
    Für Syrien forderte der österreichische Außenminister erneut die Einrichtung von Schutzzonen. "Wir halten das für notwendig und immer realistischer", sagte er. "Die Herausforderung dabei ist, dass es Staaten braucht, die die militärischen Möglichkeiten haben und bereit sind, diese Zonen abzusichern." So könne es aber gelingen, gegen den IS-Terror vorzugehen und gleichzeitig Flüchtlingen zu ermöglichen, in der Region zu bleiben. Dabei sei auch Syriens derzeitiger Machthaber Baschar al-Assad notgedrungen ein Verhandlungspartner. "Dass Assad kein Teil einer langfristige Lösung sein kann, ist klar", sagte Kurz. Es sei aber Realität, dass Assad noch immer einen Teil des Landes und die Armee kontrolliere.

    Das Interview in voller Länge:
    Jürgen Zurheide: Die Flüchtlingspolitik überfordert Europa, das zeigt sich in diesen Tagen und Stunden an den Grenzen, und wir haben in dieser Sendung mehr als einmal darüber gesprochen. Umso wichtiger wird es allerdings, über die Ursachen dieser Flüchtlingsbewegung nachzudenken – immerhin scheint das jetzt auch zu geschehen. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier war in der Türkei, gestern und vorgestern, und jetzt ist der österreichische Außenminister auch in der Türkei, Sebastian Kurz, und mit ihm wollen wir reden. Ich begrüße ihn am Telefon und sage guten Morgen nach Ankara, Sebastian Kurz!
    Sebastian Kurz: Schönen guten Morgen!
    Zurheide: Herr Kurz, beginnen wir mit der Lage in der Türkei respektive dem, was im Moment über Syrien hört. Sie sind gerade und führen Gespräche auch dort. Die neueste Idee lautet, möglicherweise Sicherheitsschutzzonen in Syrien einzuführen. Wie realistisch ist das? Sie sind ja auch dafür.
    Kurz: Ja, wir sind nicht nur dafür, sondern wir halten das auch für notwendig und auch für immer realistischer. Die Herausforderungen bei den Schutzzonen sind vor allem, dass es Staaten braucht, die über militärische Möglichkeiten verfügen und auch bereit sind, diese Schutzzonen zu schaffen und in weiterer Folge abzusichern. Da ist die Türkei als Nachbarland ein ganz wesentlicher Player, und dass es hier jetzt so positive Signale gibt, das gibt auch ein Stück weit Hoffnung.
    In Syrien darf kein Stellvertreterkrieg stattfinden
    Zurheide: Auf der anderen Seite stellt man sich die Frage, wer soll das tun. Müssen nicht eigentlich zunächst mal die Amerikaner und die Russen, die ja, so möchte ich sagen, glücklicherweise wieder miteinander reden, müssen die nicht sozusagen das zunächst positiv aufnehmen? Was glauben Sie, was da passieren muss?
    Kurz: Also ganz entscheidend ist einmal, dass wir in Syrien keinen Stellvertreterkrieg zwischen dem Iran und Russland auf der einen Seite und Saudi-Arabien und den USA auf der anderen Seite haben. Das heißt, es braucht natürlich ein An-einem-Strang-Ziehen aller Supermächte und Regionalmächte, da gehört auch die Türkei dazu. Wenn das gelingt, wenn es uns auch gelingt, Verhandlungen zu führen, wo natürlich auch das Regime am Tisch sitzen muss – alles andere ist unrealistisch –, wenn uns das gelingt, dann, glaube ich, kann es uns auch parallel dazu gelingen, gemeinsam in einem Schulterschluss aller Vernünftigen gegen den IS-Terror dort vorzugehen und gleichzeitig Schutzzonen zu schaffen, in denen die Flüchtlinge auch in Sicherheit in der Region bleiben können. Das wäre in unser aller Interesse.
    Zurheide: Das heißt – Sie haben es gerade in einem Nebensatz gesagt –, das heißt dann doch, Baschar al Assad sitzt wieder mit am Tisch?
    Kurz: Ja, das heißt natürlich, dass das Regime mit am Tisch sitzen muss, wenn es drum geht, zu verhandeln. Dass Assad kein Teil einer langfristigen Lösung für Syrien sein kann, das ist klar, aber dass jetzt ein Teil des Landes vom Regime kontrolliert wird, dass nach wie vor die Armee unter der Kontrolle des Regimes ist, das ist Realität, und insofern müssen natürlich in den Verhandlungen alle Player eingebunden sein.
    Der Friedensprozess zwischen Türkei und PKK muss weiter gehen
    Zurheide: Welche Rolle messen Sie der Türkei in diesem Spiel zu?
    Kurz: Ja, die Türkei hat eine ganz wesentliche Rolle in der Befriedung der Situation in Syrien als eine starke Regionalmacht. Die Türkei kann als das Land mit dem zweitstärksten stehenden Heer in der NATO natürlich auch eine wichtige Rolle im Kampf gegen den IS-Terror spielen, und die Türkei ist der Startpunkt der Westbalkanroute. Das ist jene Route, über die die Masse der Flüchtlinge nach Österreich und nach Deutschland kommt. Das heißt, ein wichtiger Teil wird auch sein, mit der Türkei zu kooperieren, was die Versorgung der Flüchtlinge betrifft, die Türkei auch mit humanitärer Hilfe zu unterstützen, aber gleichzeitig von der Türkei auch einzufordern, dass es hier einen aktiven Kampf gegen die Schlepper gibt und dass man auch versucht, gemeinsam so etwas wie Grenzsicherheit an der türkisch-griechischen Grenze herzustellen. Denn das ist für uns die Basis, dass wir Europa auch in Zukunft so erleben werden, wie wir es kennen, nämlich ein Europa ohne Grenzen nach innen.
    Zurheide: Über die Flüchtlinge möchte ich gleich noch mit Ihnen reden, ich will nur noch einen Moment bei der Türkei bleiben. Was heißt denn das für die Türkei und für ihr Verhältnis zu den Kurden, denn im Moment hat man ja den Eindruck, nicht nur den Eindruck, wir wissen es, dass die Türkei in allererster Linie gegen die Kurden vorgeht und weniger gegen den IS. Das kann doch so auch nicht weitergehen, oder?
    Kurz: Ja, da haben wir eine ganz klare Position. Wir haben so viele Krisenherde auf der Welt, dass es definitiv keinen zusätzlichen braucht. Der Friedensprozess zwischen der Türkei und auch der PKK, der muss definitiv fortgesetzt werden. Es braucht hier ein ordentliches Zusammenleben mit den Kurden in der Türkei. Wir lehnen selbstverständlich jede Gewalt hier ab, und insofern können wir hier nur die Türkei auch dazu drängen, alles zu tun, um dieses vernünftige Verhältnis wiederherzustellen. Die Türkei war in der Aussöhnung mit den Kurden auf einem guten Weg, und auf diesen Weg sollte man möglichst schnell wieder zurückkehren. In dieser Linie sind wir genauso klar, wie wir uns gleichzeitig klar sind, dass wir die Türkei auch als Partner für eine bessere Situation in Syrien, aber auch für ein In-den-Griff-Bekommen der Flüchtlingskrise brauchen.
    Die Flüchtlinge werden vor allem weitergewunken
    Zurheide: Verstehen Ihre türkischen Gesprächspartner das, was Sie gerade da so klar gesagt haben?
    Kurz: Die Gespräche, die gehen erst los, aber was das Verhältnis zu den Kurden betrifft, da waren wir mit der Türkei ja schon oft in Kontakt, da ist unsere Position auch keine Überraschung für die Türkei, und ich glaube, dass die Türkei selbst ein Interesse daran haben muss, dass es ein friedliches Zusammenleben im Land gibt.
    Zurheide: Jetzt haben Sie zu Recht gesagt, dass eigentlich alle politischen Lösungen da beginnen müssen, wo die Flüchtlingsströme beginnen, und damit haben wir diesen Teil ja gerade schon besprochen. Wenn wir jetzt in Europa uns die Situation anschauen, die heute Morgen da ist, dann kann man eigentlich nur sagen, im Moment werden die Flüchtlinge hin und her geschoben, das kann doch niemanden zufriedenstellen, oder?
    Kurz: Ja, die Flüchtlinge werden vor allem weitergewunken, und das kann nicht funktionieren. Da nehme ich uns selbst als Österreicher auch gar nicht aus. Ganz gleich, wer das tut, unterstützt ein System, das nicht funktionieren kann. Warum wird das getan? Weil einzelne Staaten - Transitländer, aber auch Zielländer - natürlich überfordert sind, auch zu lange von der Europäischen Union alleingelassen wurden. Insofern ist das keine Überraschung, dass dieses Weiterwinken stattfindet. Wir müssen einmal klar aussprechen, dass der Hauptgrund dafür natürlich ist, dass unser System, so wie wir es derzeit kennen, gar nicht funktionieren kann.
    Zurheide: Das heißt – ich gehe dazwischen –, Dublin ist tot, sehen wir das richtig?
    Kurz: Dublin funktioniert so nicht mehr, und wir müssen schleunigst daran arbeiten, es auf funktionierende Beine zu stellen. Solange es kein besseres System gibt, ist es aber natürlich geltendes Recht. Was ich aber meine, ist, was nicht funktionieren kann, ist, dass die Flüchtlinge durch mehrere Staaten durchziehen und sich das für sie attraktivste Zielland aussuchen. Das ist menschlich total verständlich, aber es kann nicht funktionieren. Und wir müssen auch klar aussprechen, dass ein Flüchtling, der vielleicht aus einem Kriegsgebiet flieht, natürlich aufgrund des Krieges flieht. Aber wenn er dann durch Mazedonien, Serbien und Ungarn durchzieht, um nach Österreich oder nach Deutschland zu gelangen, dann sind die Gründe für sein Weiterziehen natürlich vor allem wirtschaftliche. Das kann so nicht funktionieren, und da müssen wir das System dringend auf neue Beine stellen, denn andernfalls werden Zielländer wie Deutschland, Österreich oder Schweden noch weiter überlastet und überfordert werden.
    Wir müssen eine Systemdebatte führen
    Zurheide: Ja, aber wir haben nicht mehr viel Zeit, das zu tun. Bis wann kann denn das geschehen, denn die aktuelle Welle läuft ja weiter, und offensichtlich gibt es im Moment keine Lösung.
    Kurz: Ja, ich hoffe sehr, dass es hier schon ein erstes Umdenken beim Gipfel in Brüssel am Mittwoch gibt. Aus meiner Sicht ist es dringend notwendig, das System umzustellen. Wir müssen eine Möglichkeit schaffen, Asylanträge im Herkunftsland zu stellen beziehungsweise mit Resettlement-Programmen auch wirklich die Ärmsten der Armen in der Region auszuwählen. Es kann uns nicht befriedigen, dass diejenigen Asyl in Europa bekommen, die am fittesten sind und das notwendige Geld haben, einen Schlepper zu bezahlen. Und wir müssen ein System finden, dass es unmöglich macht, dass man durch zahlreiche Länder durchzieht und sich dann ein Land aussucht. Das kann so nicht funktionieren. Und bis dahin wird es leider Gottes immer mehr Einzelmaßnahmen geben, immer mehr an Grenzkontrollen und den ständigen Versuch von Einzelstaaten, das alleine zu lösen. Darum plädiere ich sehr dafür, dass wir eine Systemdebatte führen und parallel dazu nicht nur darauf schauen, was wir in Europa tun können, sondern bei den Ursachen anfangen, in der Region ansetzen, denn das kann schon auch sehr schnell Wirkung zeigen. Wenn wir zum Beispiel mit der Türkei eine Lösung zustande bringen, was die Versorgung der Flüchtlinge vor Ort betrifft, wenn wir mit der Türkei eine Lösung zusammenbringen, was den Kampf gegen den Schlepper und die Grenzsicherheit an der griechischen Grenze betrifft, dann kann das schon innerhalb von wenigen Wochen positive Auswirkungen auf uns in Mitteleuropa haben.
    Zurheide: Danke schön! Das war Sebastian Kurz, der österreichische Außenminister, den wir in Ankara erreicht haben.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.