Man könne zwar den Brenner schließen, nicht aber die Außengrenzen der EU, außer man lasse die Menschen ertrinken oder erschieße sie im Wasser, sagte Asselborn. Die Herausforderungen der Flüchtlingspolitik hätten eine europäische Dimension, darum müsse auch die Lösung eine europäische sein.
Finanzhilfen nicht als Druckmittel gegen Polen einsetzen
Mit Blick auf die Kontroverse um die Rechtsstaatlichkeit in Polen äußerte Asselborn die Befürchtung, dass der Artikel 7 angewandt werden müsse - was am Ende einen Stimmrechtsentzug für Polen bedeuten könnte. Er wandte sich aber dagegen, die europäischen Finanzhilfen als Druckmittel einzusetzen. Wenn die EU das mache, sei sie auf einem ganz schlechten Weg, so der Außenminister.
Das Interview in voller Länge:
Jürgen Zurheide: Der Rechtspopulismus ist in Europa auf dem Vormarsch. Daran ändert auch der Erfolg von Emmanuel Macron in Frankreich wenig. Zuletzt zeigte sich das wieder in Österreich. Dort gibt es jetzt eine Regierung aus ÖVP – oder vielleicht sollte ich besser sagen: der Liste Kurz – und eben der FPÖ. In anderen Zeiten hat es schon mal heftige Eruptionen gegeben. Die Frage ist jetzt: Was heißt das eigentlich für die Europäische Union und welche Reaktionen sind angemessen, gerade jetzt, wo Bulgarien demnächst die Ratspräsidentschaft übernehmen wird? Über all das wollen wir reden mit Jean Asselborn, dem Außenminister Luxemburgs, den ich jetzt ganz herzlich am Telefon begrüße. Guten Morgen, Herr Asselborn!
Jean Asselborn: Guten Morgen, Herr Zurheide!
Zurheide: Herr Asselborn, Sie haben die Sorge geäußert jetzt in einem Interview, dass die Visegrád-Länder – also Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei –, dass die jetzt mit Österreich ein weiteres Land dazubekommen, also quasi Verstärkung. Was meinen Sie damit?
"Man kann die Außengrenze der Europäischen Union nicht schließen"
Asselborn: Ich meine damit, dass Flüchtlingspolitik vor allem - ich habe das auf die Migrationsflüchtlingspolitik bezogen -, dass die Herausforderung eine europäische Dimension hat und dass die Lösung auch nur eine europäische sein kann. Darum gibt es keinen Sinn, wenn man sagt, jedes EU-Land soll entscheiden, ob es Flüchtlinge aufnimmt, das heißt, sich total desolidarisieren mit Ländern an den Außengrenzen, vor allem Griechenland und Italien. Und ich bin auch der Meinung, dass es falsch ist, das Relocation-Programm, das wir ja beschlossen haben 2015 durch Abstimmung, dass man das Fehlgriff interpretiert. Was denken die Mitgliedsländer, die ihre Pflicht erfüllt haben seit 2015, und was denken auch die 32.000 Menschen, die umgesiedelt wurden - um das Wort zu gebrauchen -, relokalisiert wurden und eine neue Chance bekamen. Darum, ich finde, dass man in der Europäischen Union das nicht dem Europäischen Rat überlassen soll, dass man im Dezember 2017 zu nichts gekommen ist und dann sagt, okay, wir machen das jetzt im Juni 2018. Wissen Sie, die Kommission hat Vorschläge gemacht. Das Europäische Parlament steht zu diesen Vorschlägen, will eine Reform von Dublin, will auch ein Reset-Element-Programm aufstellen. Wir müssen wissen, wenn die nächste Krise kommt, was jeder zu tun hat, und das ist, glaube ich, eine Herausforderung, die wir als Europäer - ich unterstreiche: als Europäer -, die wissen, was Verantwortung ist und was Solidarität ist, tragen müssen. Die Grenzen schließen ist Populismus. Man kann den Brenner schließen, das kann man machen, aber man kann nicht die Außengrenze der Europäischen Union schließen, es sei denn man lässt die Menschen ertrinken oder man erschießt sie im Wasser.
Zurheide: Jetzt kann man natürlich sagen, alles richtig, was Sie da gerade anführen, allerdings sagen die anderen, na ja, also wenn man die Flüchtlingspolitik von Frau Merkel nicht mehr kritisieren darf, dann ist da auch irgendwas falsch. Geht dieses Argument aus Ihrer Sicht fehl?
"Die Europäische Union ist ein Friedensprojekt"
Asselborn: Es ist nicht die Flüchtlingspolitik von Madam Merkel. Das ist ja total falsch. Das ist die Flüchtlingspolitik der Europäischen Union. Wir eiern seit 2015, um eine europäische Position zu bekommen. Wissen Sie, die Europäische Union ist ein Friedensprojekt, um alles zu tun, sei es die Sicherheit, sei es natürlich auch Fragen der Wirtschaft, des sozialen Europas, was ein einziges Land oder ein einzelnes Land nicht fertig bringt. Die Migrationspolitik wird nicht von einem einzigen Land, schon gar nicht von den Größten, selbst bewältigt. Dafür brauchen wir europäische Zusammenarbeit, wir brauchen europäische Gesetze, wenn ich es so sagen darf, und wir brauchen europäische Solidarität. Ich kritisiere nicht Österreich. Ich kritisiere, dass wenn eine Regierung in Österreich sagt, jedes Land soll selbst entscheiden, ob es Flüchtlinge aufnimmt oder nicht, dann desolidarisiert es sich von den Ländern, die eben mit der Flüchtlingsfrage zu tun haben, weil sie an den Außengrenzen liegen, und wir können nicht einfach sagen, das geht uns nichts an. Wir brauchen eine europäische Flüchtlingspolitik, Migrationspolitik. Das ist eine Sache von uns allen.
Zurheide: Im Übrigen sind die Zahlen ja auch deutlich zurückgegangen, und ich möchte in diesem Gespräch jetzt nicht nur mit Ihnen über Flüchtlinge reden, ich will noch mal einen anderen Aspekt einführen: Die Entwicklung der Rechtsstaatlichkeit - ich nenne mal Polen auf der einen Seite Richtung Justiz, ich nenne Ungarn Richtung Presse -, die macht natürlich auch vielen Sorgen, die gerade am Jahreswechsel sich über die Verfasstheit der Europäischen Union Gedanken machen. Wie sehen Sie das?
"Wir sind leider auf dem Weg zum Artikel 7"
Asselborn: Ich glaube, wir haben ja jetzt Bulgarien, die Präsidentschaft im ersten Semester. Es ist ein Land aus dem Osten Europas, es ist ein Land, das zum ersten Mal die Präsidentschaft hat. Gut, die Präsidentschaft heute ist nicht mehr das, was die Präsidentschaft vor Lissabon war. Das Ruder ist nicht total in der Hand des Landes, das die Präsidentschaft hat, aber ich glaube, dass die Bulgaren die Chance haben, vielleicht den Ländern wie Polen und Ungarn zu sagen, dass wir in Brüssel kein Diktat installiert haben, keine Diktatur, dass alles gemacht werden muss, was in Brüssel entschieden wird. Das entscheiden wir ja alle zusammen selbst, auch in der Flüchtlingsfrage. Dass die Kriterien von Kopenhagen, die Sie indirekt anschneiden, dass die zu respektieren sind, freie Medien, Unabhängigkeit der Richter, wir haben jetzt ein Land, wo die Richter nicht mehr frei sind, wo sie fürchten müssen, wenn sie eine Entscheidung treffen, dass das der Regierung nicht gefällt und dass sie abgesetzt werden können, wie das in Polen jetzt der Fall ist. Die Gewaltentrennung muss heilig sein. Jeder Bürger der Europäischen Union hat Recht, in einem Rechtsstaat zu leben, und Rechtsstaat gibt es. Das ist wie … ja, man ist schwanger oder man ist es nicht, und ob man eine linke Partei, eine rechte, eine grüne, eine gestreifte … der Wähler gibt nie den Auftrag, nie den Freifahrtschein, dass der Rechtsstaat verbogen werden kann. Das muss eingesehen werden.
Zurheide: Ist denn die Reaktion Europas bisher gegen Polen aus Ihrer Sicht ausreichend? Es gibt manche, die sagen, man soll nicht lange diskutieren über bestimmte langwierige Prozesse - die Frage des Geldes, und Polen bekommt viel Geld von Europa -, da gibt es auch entsprechende Gutachten inzwischen, das könne man einsetzen sehr viel schneller als anderes. Wie sehen Sie das?
Asselborn: Nein. Auch das … Ich glaube, man muss den Kontext sehen. Wir haben Verträge, die Kommission hat ihre Arbeit gemacht, der Rat muss jetzt seine Arbeit machen. Leider, leider sind wir auf dem Weg zum Artikel 7. Das heißt, dass das Stimmrecht entzogen werden kann in Sachen Polen, vielleicht noch in einem anderen Land, aber die materielle, die finanzielle Solidarität, diese Einstellung, wenn man diese, ich sage mal, jetzt dieses Mittel, diese Waffe, wenn Sie so wollen, benutzt, dann sind wir sehr weit gekommen.
Zurheide: Das ist so wie Herr Trump das mit der UNO gerade versucht.
"Es ist unsere Verantwortung, dieses Europa weiterzugeben"
Asselborn: Ja, also … Richtig. Ich glaube, da soll man jetzt sehr, sehr vorsichtig damit vorgehen. Wir haben ein Finanzprogramm bis 2020. Das neue Finanzprogramm läuft 2020 an. Ich kann mir aber auch nicht vorstellen - und da bin ich nicht alleine, da sind viele andere, viele Menschen auch, also viele Länder auch, die sagen, Rechtstaatlichkeit und Solidarität müssen eingebracht werden, wenn es auch um finanzielle Verteilung geht, um finanzielle Solidarität geht. Das ist das ja: Die reicheren Ländern helfen den weniger reicheren Ländern, dass der Lebensstandard in ganz Europa sich annähern kann. Das ist die Idee davon. Wenn das gebrochen werden muss, sind wir auf einem ganz, ganz schlechten Weg, und ich glaube, wir müssen noch immer versuchen, jetzt gerade in der bulgarischen Präsidentschaft, zu zeigen, wie gefährlich dieses Spiel ist. Europa ist ein Friedensprojekt, das, wenn es einmal, sagen wir mal, zertrampelt ist, nicht mehr wieder aufgebaut werden kann in der Form, und das ist unsere Verantwortung, trotzdem dieses Europa weiterzugeben an die Generationen, die nach uns kommen.
Zurheide: Deshalb will ich gerade jetzt nach den vielen schwierigen Dingen, über die wir gerade gesprochen haben, den überzeugten Europäer Jean Asselborn fragen: Die europäische Idee, die ja lautet, zusammen sind wir mehr als die Summe der Einzelteile, und das in Zeiten von, ich habe den Namen Trump schon mal gerade genannt, Brexit könnte ich auch noch anführen - wie kann diese Idee wieder neu belebt werden? Sehen Sie das?
"Wir müssen aufpassen, dass wir dieses Gefälle nicht weiter ausbauen "
Asselborn: Ich glaube, dass man die Idee nicht neu belebt, wenn wir zum Beispiel jetzt ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten … sagen wir, wenn wir uns darauf konzentrieren würden. Juncker hat das in seiner Rede im September sehr intelligent gemacht, weil das ja wieder eine Provokation wäre gegenüber dem Osten, weil der Osten ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten eigentlich sieht als etwas, was sie benachteiligt, was zwar nicht der Fall ist, aber sie sehen es so. Wir müssen aufpassen, dass wir dieses Gefälle, was wir jetzt ein Jahrzehnt hatten zwischen dem Süden und dem Norden, dass wir diese Verkrampfung mit dem Osten, dass wir das weiter ausbauen statt zurückzuführen, und darum, ich glaube, es gibt nur eins: Wir müssen die Basis regeln, richtig das Einmaleins der europäischen Idee, was wir besprochen haben - Verantwortung, Solidarität, ein Konstrukt, das einzigartig ist auf der Welt, durch eben dieses Integrationspotenzial, und dass wir gemeinsam, glaube ich, im Interesse nicht nur der Europäischen Union, sondern gemeinsamen Interessen der einzelnen Länder, dass wir das wieder mehr ins Bewusstsein bringen können.
Zurheide: Jetzt habe ich allerdings die Populisten angesprochen, die natürlich genau auf einer anderen Welle surfen und deutlich politische Zustimmung kriegen. Wie wollen Sie da mehr Menschen überzeugen? Das war meine Frage.
"Wir zu klein sind, um unsere Werte verteidigen zu können"
Asselborn: Wir haben vor einem Jahr, Herr Zurheide, gefürchtet um Frankreich. Es war ja - Sie haben es anfangs gesagt - nicht evident, dass Macron - also einer, der proeuropäisch ist - gewonnen hat. Wir haben gefürchtet auch für die Holländer, das ist aber auch nicht in diese Richtung gegangen, dass die Eurozerstörer obsiegt haben. Wie man die Menschen von Europa mehr überzeugen kann, ist natürlich eine philosophische Frage, glaube ich. Entweder man glaubt daran, dass wir in einer Welt leben, wo wir, wenn wir auf die Landkarte von Europa schauen, dass wir zu klein sind, um auf dem Erdball unsere Ideen, die wir haben, unsere Kultur der Rechtsstaatlichkeit, unsere Kultur auch der Diplomatie und so weiter, unsere Werte, in einem Wort, dass wir die verteidigen können, wenn wir einer gegen den anderen stehen, und ich glaube, dass die jungen Menschen es viel, viel besser verstehen als die, die noch immer glauben, dass das Nationale wichtiger einzuordnen ist als eben das Gemeinsame, das Europäische, und da … Es gibt keine Zauberformel, aber ich glaube, wir müssen den Menschen klarmachen, dass dieses Projekt Europa etwas ist, wo wir eine große, große Verantwortung haben, um das weiterzugeben, dass die Menschen, die ins 22. Jahrhundert hineinwachsen, auch in Frieden und auch in einigermaßen, sage ich mal, sozialem Frieden auch selbstverständlich und in Wohlstand leben können. Das ist eine Überzeugungsarbeit, der wir uns jeden Tag zu stellen haben.
Zurheide: Ich bedanke mich bei Jean Asselborn, dem dienstältesten Außenminister in Europa, heute Morgen im Deutschlandfunk für dieses Interview! Danke schön, auf Wiederhören!
Asselborn: Bitte, Herr Zurheide!
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