Ann-Kathrin Büüsker: Tag zwei beim EU-Gipfel in Brüssel, offiziell eigentlich der Abschlusstag, aber bei den Verhandlungen der Staats- und Regierungschefs, da weiß man ja nie so genau. Es kann dann durchaus auch mal länger dauern und heute Morgen raunte dann durch Brüssel, es könne sogar bis Sonntag gehen. Das würde für sehr harte Verhandlungen sprechen. Der Casus Knacktus ist dabei Großbritannien und die Reformen, die Premier David Cameron durchsetzen möchte. In der vergangenen Nacht hat aber auch das zweite große Thema des Gipfels die Zeit der Verhandelnden beansprucht: die Flüchtlingskrise.
Seit acht Uhr heute Morgen setzt Österreich seinen Plan für Tageskontingente für Flüchtlinge um, trotz aller Kritik von der EU, und Innenministerin Mikl-Leitner, die setzt sogar noch eins drauf und will das Ganze noch einmal verschärfen.
Österreich verschärft die Flüchtlingspolitik also noch einmal. Eine nationale Lösung als Tempomacher - darüber möchte ich nun sprechen mit Jan Techau. Er ist Direktor von Carnegie Europe. Guten Tag, Herr Techau.
Jan Techau: Hallo! Guten Tag, Frau Büüsker.
Büüsker: Herr Techau, Österreich setzt jetzt die Daumenschrauben an. Ist das auch der Grund, warum beim Gipfel dann in der Nacht doch so viel über Flüchtlinge gesprochen wurde?
Techau: Es war eigentlich klar, dass auf dem Gipfel viel über Flüchtlinge gesprochen werden würde, obwohl in der offiziellen EU-Diktion Brexit eigentlich das Hauptthema sein sollte. Der Druck ist einfach zu groß. Die Österreicher haben das jetzt sicherlich nicht im Alleingang zu einem Flüchtlingsgipfel gemacht, aber natürlich, es stimmt schon, wenn die österreichische Ministerin sagt, dass das natürlich den Druck erhöht. Es ist ein bisschen eine zynische Argumentation, aber auch vorher war das jetzt schon ein Thema, das natürlich hier alle beschäftigt, eigentlich alle mehr beschäftigt als Brexit, wenn man mal ehrlich ist.
"Jeder weiß, wenn man wirklich richtig die Grenzen zumachen würde, dass dann dieser berühmte Dominoeffekt eintritt"
Büüsker: Ist das dann reine Symbolpolitik, was Österreich da gerade tut, um das Tempo zu verschärfen?
Techau: Nein, das ist nicht reine Symbolpolitik. Es ist genau der Versuch, sozusagen an der Stellschraube zu drehen, die am meisten wehtut, den Druck zu erhöhen und zu zeigen, was die Folgen sind, wenn man sich nicht auf eine gesamteuropäische Lösung einigen kann. Jeder weiß, wenn man wirklich richtig die Grenzen zumachen würde, die deutsche, die österreichische, dass dann dieser berühmte Dominoeffekt eintritt. Dann wird der Druck sozusagen nach unten, nach Süden, nach Südosten hin weitergereicht und dann werden die Länder, die auf dieser Balkan-Route liegen, größte Schwierigkeiten bekommen, das zu meistern. Die können das ja nur deswegen aushalten, weil es im Grunde nach Norden hin abfließt. So ist man in dem Dilemma, dass man einerseits die Zahlen in Westeuropa, in Deutschland vor allen Dingen verringern muss, gleichzeitig den Druck aber nicht nach unten weitergeben kann, weil man weiß, dann brechen diese Staaten zusammen, inklusive Griechenland. Das ist sozusagen die Zwickmühle, in der man steckt, in der auch die Kanzlerin steckt, und die Österreicherin hat jetzt im Grunde mit dieser Ankündigung nur noch mal klar gemacht, was auf dem Spiel steht.
Büüsker: Aber erschweren denn nicht solche nationalen Lösungen die europäische Lösung?
Techau: Ja, natürlich. Die erzeugen eine Menge Misstrauen, ist vielleicht nicht das richtige Wort. Darüber ist man eigentlich schon fast hinaus. Es ist so: Die Kalkulation für die österreichische Politikerin und auch andere ist natürlich immer die gleiche. Wie kriegen wir Bewegung in diese Sache rein? Es gibt einige, die durchaus bereit sind, so eine Art Teileskalation jetzt zu riskieren, um den anderen Ländern zu zeigen, welche Schwierigkeiten drohen, wenn man nicht zu einer gesamteuropäischen Lösung kommt. Die Österreicher wissen auch ganz genau, dass das nicht wirklich eine Lösung ist, aber der Druck ist auch dort innenpolitisch mächtig groß, ähnlich wie in Deutschland, und deswegen ist man jetzt bereit zu sagen, okay, wir setzen jetzt hier mal die Daumenschraube an, jetzt mal in einem kleinen Stil - das ist ja noch nicht wirklich eine große drastische Maßnahme -, um den anderen zu zeigen, hört zu, die Gefahr ist groß, dass wir hier komplett auseinanderbrechen. Das ist ein bisschen das, was man im Englischen Brinkmanship nennt, ganz nah an den Abgrund heranfahren, damit die Leute sehen, was ihnen blüht, wenn sie nicht zusammenarbeiten.
Büüsker: Und man könnte, wenn man zynisch wäre, auch sagen, endlich bewegt sich mal was.
Techau: Das würde ich nicht sagen. Es ist jetzt ein Nadelstich. Die eigentliche Bewegung muss ganz woanders stattfinden. Die wird nicht an der österreichischen Grenze entschieden. Das eigentliche Thema, was man hat, ist, wie man eigentlich mit der Türkei umgeht und wie man die Türkei in irgendeiner konstruktiven Rolle zurück in diese Debatte bekommt. Die Türkei ist ein extrem schwieriger, hartleibiger Partner in dieser Sache, ist aber eigentlich der Schlüssel, weil es das Kerntransit- und Aufnahmeland unten ist, bevor die Balkan-Route überhaupt anfängt. Deswegen ja auch der Versuch, da gestern einen Sondergipfel auf der Seite zu machen und durchzuführen, der dann abgesagt werden musste wegen der Anschläge, wie Ihr Kollege auch schon gesagt hat. Die Türkei ist das eigentliche Thema. Die österreichische Maßnahme ist ein zusätzliches Ärgernis, aber bei Weitem nicht das Hauptproblem, mit dem sich die Staats- und Regierungschefs da auseinandersetzen müssen.
"Alle wissen, dass es die gesamteuropäische Lösung geben muss"
Büüsker: Aber zeigen nicht diese nationalen Lösungen, die wir jetzt immer mehr sehen, dass eigentlich keiner mehr so richtig glaubt an eine Lösung mit der Türkei?
Techau: Ich würde nicht sagen, dass daran keiner mehr glaubt. Aber es ist eine Situation eingetreten in Europa, wo eigentlich alle wissen, dass es die gesamteuropäische Lösung geben muss, dass das die einzige Lösung ist, die man sich überhaupt vorstellen kann: Grenzkontrollen, gemeinsames Asylverfahren in irgendeiner Form, Hotspots, diese vorgeschalteten Aufnahmelager, und dann auch ein Resettlement, also eine Form von Verteilung. Das ist ganz klar, dass das die einzige Lösung ist. Aber weil der Druck auf die einzelnen Regierungen zuhause so groß ist, ist es immer schwieriger, die Geduld für so eine große Lösung aufzubringen, und da ist die Versuchung, diese nationalstaatliche Lösung zu fahren enorm groß, weil die Leute so unter Druck stehen, die nationalen politischen Verantwortungsträger, ihrem Heimatpublikum was auf den Tisch zu legen. Das ist ein Spagat, den wir in Europa eigentlich in fast allen Politikfeldern kennen, aber hier haben wir es jetzt in einem Politikfeld, wo die Krise richtig greifbar und sichtbar ist und wo sie auch an den Kern geht von dem, was Staatlichkeit in Europa ausmacht: Identitätspolitik. Es ist nicht ein Problem, das man mit einem finanziellen Kompromiss irgendwie wegkaufen kann. Hier muss man jetzt richtig, richtig ans Eingemachte, und das sind die verschiedenen Faktoren, die hier den Druck so furchtbar erhöhen in dieser Frage.
Büüsker: Sie haben jetzt die Schwierigkeiten benannt, unter denen die einzelnen Regierungen der Nationalstaaten stehen. Aber auch die Türkei steht ja gerade vor enormen Problem mit den Anschlägen im eigenen Land, mit dem Konflikt im Südosten der Türkei, mit Syrien, dem Konflikt an der syrischen Grenze. Sind Sie sich da sicher, dass die Türkei als Partner in dieser Sache wirklich taugt?
Techau: Nein, da bin ich mir nicht sicher. Das sagte ich ja vorhin schon. Die Türkei ist ein extrem schwieriger, hartleibiger Partner. Bisher haben sie eigentlich nicht wirklich kooperiert in dieser Sache, und das ist auch vermutlich so. Auf einige Zeit wird man die Türken nicht zu einem wirklich richtig konstruktiven Partner machen können. Die Frage ist, was man von der Türkei überhaupt kriegen kann, damit die Zahlen wenigstens ein bisschen runtergehen.
Die Türkei ist an der Flüchtlingsfrage nur marginal interessiert - oder nur zeitweise interessiert. Für die ist das ein Hebel, mit dem man aus den Europäern was rausbekommen kann. Dazu gehört zum Beispiel der visafreie Reiseverkehr zwischen der Türkei und Europa, den die Türkei sehr, sehr gerne hätte, aber natürlich auch Finanzleistungen, die man sich wünscht. Die Türkei weiß ganz genau um ihre Schlüsselstellung.
Aber das eigentliche Thema, was die Türken antreibt, sind nicht die Flüchtlinge, die Flüchtlinge werden sozusagen nur benutzt, sondern das ist die Kurden-Frage im Südosten der Türkei und in Syrien und im Irak. Das ist eine Frage, die jedenfalls aus Präsident Erdogans Sicht eine zentrale Überlebensfrage für die türkische Republik überhaupt ist: Kommt es da zu einer Autonomiebewegung? Die Kurden konsolidieren sich ja gerade mächtig, jedenfalls im Irak haben sie es schon längst getan, und auch durch die Syrien-Malaise wird dort stärkere kurdische Präsenz und Identität gefördert, und Erdogan muss um jeden Preis vermeiden aus seiner eigenen Sicht, dass das in die Türkei überschwappt. Deswegen auch dieses brutal harte Vorgehen gegen die Kurden in der Türkei.
Das ist die eigentliche Baustelle, die die Türken interessiert, und die Türken haben versucht, die Kurden-Frage mit der Flüchtlingsfrage zu verbinden, indem sie diese Camps außerhalb der türkischen Grenze auf syrischem Staatsgebiet ins Gespräch gebracht haben, wofür sie europäische Unterstützung haben wollen. Das ist der Versuch, die Flüchtlingsfrage dazu zu nutzen, den kurdischen Spielraum in Syrien zu begrenzen. Wir haben hier nicht nur eine Frage der Flüchtlings-Arithmetik für Europa, sondern wir haben hier ein geopolitisches Spiel, was auf ziemlich hohem Niveau und mit ziemlich hohem Einsatz gespielt wird, und da verbindet sich in dieser Flüchtlingsfrage der interne Druck, das interne Problem, das Europa hat, mit den ganz, ganz schwierigen geopolitischen Bedingungen, die im Nahen Osten und im Südosten Europas herrschen.
Büüsker: Jan Techau war das, Direktor von Carnegie Europe, live hier im Deutschlandfunk. Herr Techau, vielen Dank für das Gespräch.
Techau: Ich danke Ihnen sehr.
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