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EU-Flüchtlingspolitik und die Türkei
"Beschämend und unerträglich"

Es mache sie wütend, wie mit der Türkei in Bezug auf die Flüchtlinge verhandelt würde, sagte die SPD-Europaabgeordnete Birgit Sippel im Deutschlandfunk. Einerseits werde von ihr gefordert, Flüchtlinge aufzunehmen, andererseits sage die EU, dass sie selbst damit überfordert sei. Das sei peinlich, lächerlich und eigentlich untragbar.

Birgit Sippel im Gespräch mit Peter Kapern |
    Die SPD-Europaabgeordnete Birgit Sippel steht am 23. April 2013 in einer Halle des Europäischen Parlaments in Brüssel.
    Die SPD-Europaabgeordnete Birgit Sippel (picture alliance / dpa / Wolf von Dewitz)
    Peter Kapern: Bei uns am Telefon ist jetzt Birgit Sippel, Europaabgeordnete der SPD. Guten Abend, Frau Sippel!
    Birgit Sippel: Schönen guten Abend!
    Kapern: Frau Sippel, die Flüchtlinge, die da an der türkisch-syrischen Grenz gestrandet sind, sind das eigentlich Vladimir Putins Flüchtlinge, weil dessen Luftwaffe sie aus Aleppo hinausgebombt hat?
    Sippel: Ich glaube, es ist wenig hilfreich, darüber zu klagen, wer für welche Flüchtlinge verantwortlich ist, sondern die Situation, die wir in Syrien erleben, ist insgesamt eine, für die, glaube ich, sehr, sehr viele Staaten Verantwortung tragen. Weshalb auch viele Staaten jetzt eine Verantwortung für die Flüchtlinge haben, innerhalb der EU, aber auch darüber hinaus.
    Kapern: Aber ist es nicht hilfreich, sich Klarheit darüber zu verschaffen, wie die Mechanismen dieses Bürgerkrieges sind?
    Sippel: Natürlich ist es wichtig, zu verstehen, was passiert. Aber das hilft natürlich derzeit den Flüchtlingen relativ wenig. Es ist wichtig, sich darüber klar zu werden, um zu prüfen, mit wem muss man reden, wen muss man zu welchen Handlungen oder Unterlassen von Handlungen auffordern. Wer muss da mit wem auf diplomatischen Wege versuchen, etwas zu verändern. Für die Flüchtlinge ist jetzt vor allem wichtig, wer kümmert sich um sie, wer sichert schlicht und ergreifend ihr Überleben.
    Kapern: Wenn Sie sehen, dass permanent immer weitere Zehntausende aus Syrien die Flucht suchen, dass die Türkei nicht willens oder nicht in der Lage ist, sie davon abzuhalten, nach Europa zu ziehen: Wie lange kann es da noch dauern, bis Schengen nur noch eine Fußnote in den Geschichtsbüchern der EU ist?
    Sippel: Wenn Schengen stirbt, hat das verheerende Folgen
    Sippel: Wenn wir so weitermachen wie bisher, könnte das tatsächlich geschehen, dass Schengen endet, dass wir wieder nationale Grenzkontrollen haben, die Schlagbäume wieder aufbauen. Ich fürchte, dass viele nicht begreifen, dass wenn Schengen stirbt, zusammenbricht, dies in ganz vielen Bereichen verheerende Folgen für alle unsere Mitgliedsstaaten und auch für den Alltag der Bürgerinnen und Bürger hat. Auf der anderen Seite kann ich nachvollziehen, dass es durchaus berechtigte Fragen gibt. Können wir so viele Flüchtlinge aufnehmen, wie geht das? Deshalb will ich noch mal wiederholen, was ich in den letzten Tagen immer wieder gesagt habe: Wir müssen innerhalb der EU besser werden, Flüchtlinge aufzunehmen, wir müssen aber auch international darauf drängen, dass wenn wir unsere Hausaufgaben machen, andere sich auch kümmern, die Situation für Syrien zu verändern, aber auch Flüchtlinge aufzunehmen, etwa in den USA oder Kanada.
    Kapern: Lassen Sie mich mal einen Satz aufgreifen, den Sie gerade gesagt haben: Wir in der EU müssen besser darin werden, Flüchtlinge aufzunehmen. Das klingt, bitte sehen Sie mir das nach, wenn ich das so sage, ein wenig naiv angesichts der Tatsache, dass die Regierungschefs von Polen und Ungarn heute den Bau einer – so wörtlich – Verteidigungslinie an der griechischen Nordgrenze gefordert haben.
    Sippel: Ich frage mich, wer da welche Verantwortung nicht übernimmt
    Sippel: Da gibt es überhaupt nichts zu verzeihen, ich kann das nachvollziehen, dass man sagt, es funktioniert ja eh nicht. Was mich irritiert, ist, wer arbeitet denn daran, dass es bitte schön wieder funktioniert? Es ist doch peinlich und es macht mich wütend, zu sehen, dass wir jetzt mit der Türkei verhandeln – die Türkei soll sich um die jetzt ankommenden Flüchtlinge aus Syrien kümmern, sie soll sie bitte, wenn es nötig ist, auch aufnehmen. Sie soll aber bitte keine Flüchtlinge aus der Türkei heraus in andere Länder, also nach Europa kommen lassen. Wir, die europäischen Mitgliedsstaaten, der Europäische Rat sagt ja, aber wir können keinen aufnehmen, wir sind damit überfordert. Das ist peinlich, lächerlich und eigentlich untragbar. Wenn Frau Merkel dieser Tage zu Herrn Erdogan fährt, ist das die eine Seite der Medaille. Mich ärgert schon – und ich frage mich, wer da welche Verantwortung nicht übernimmt, weil ich würde erwarten, dass führende Politiker auch nach Ungarn, nach UK, nach Polen fahren, um da zu klären, welche Verantwortung diese Staaten übernehmen werden.
    Kapern: Können Sie sich noch vorstellen, wie diese Regierungen, die Sie gerade aufgezählt haben, zu einem Schwenk in ihrer Flüchtlingspolitik zu bewegen sind angesichts dessen, was wir da aus London, Warschau und Budapest hören?
    Sippel: Es ist wenig wahrscheinlich. Die Fronten sind festgefahren. Und dennoch muss man es immer und immer wieder versuchen. Niemand kann ein Interesse daran haben, dass dieses Europa auseinanderbricht. Wenn wir die Grenzkontrollen innerhalb Europas wieder einführen, dann hat das Konsequenzen nicht nur für die Flüchtlinge. Es wird unseren Alltag verändern. Wir haben uns dran gewöhnt, dass wir mal eben über die Grenze gehen können, um Menschen in anderen Ländern zu besuchen, zum Einkaufen, zum Arbeiten. Viele pendeln täglich über Landesgrenzen hinweg. Es hat Folgen für den kleinen Grenzverkehr für Selbstständige, für Dienstleister und natürlich auch ökonomische Folgen. Das Bild, das wir von Europa haben, würde sich verändern. Die Menschen sind, glaube ich, gar nicht gegen Europa, sie finden die Idee Europas toll, aber das, was sie jetzt gerade erleben, das ist beschämend und unerträglich. Deshalb, auch wenn es derzeit wenig wahrscheinlich aussieht, wir müssen mit all diesen Regierungen reden, weil ansonsten werden wir uns am Ende des Tages fragen, wenn es wirklich nicht funktioniert, haben wir wirklich alles getan. Deshalb, man muss immer wieder mit diesen Regierungen reden, egal, wie schwierig oder unwahrscheinlich es gerade aussieht, dass das zu Ergebnissen führt.
    Kapern: Fürs Reden braucht man Zeit. Wie viel Zeit ist noch? Man hat so ein bisschen den Eindruck, alles peilt jetzt auf den EU-Gipfel Mitte Februar. Und wenn bis dahin diese so oft beschworene europäische Lösung, die nicht einmal in Ansätzen zu erkennen ist, nicht da ist, dann kippt das Ganze und Schengen ist erledigt.
    Sippel: Fristen sind immer schwierig
    Sippel: Ich finde, solche Zeitfenster oder Fristen zu setzen, immer schwierig. Natürlich müssen wir bis zum Beginn des Frühjahrs irgendwelche erkennbaren Lösungen haben. Wir müssen zumindest erkennen können, dass sich etwas bewegt, dass wir wieder an gemeinsamen Lösungen arbeiten. Denn eines ist ja auch klar: Wenn wir als relativ großer und insgesamt ja doch wohlhabender Kontinent es nicht schaffen, zu sehen und zu klären, wo unsere eigenen Anteile sind, wie sollen wir da glaubhaft von anderen etwas fordern. So ein Zeitfenster ist immer schwierig. Es setzt andere unter Druck. Ich fände es hilfreicher, wenn man sich wirklich auch jenseits der großen medienbehafteten Ratstreffen auch mal individuell mit zwei, drei Regierungen an den Tisch setzt, um zu klären, wo sind denn wirklich eure Probleme, was braucht es, um tatsächlich Flüchtlinge aufzunehmen. Das gilt für Polen, aber es gilt auch für Länder wie Griechenland. Ich kann nicht verstehen, warum die jetzt den schwarzen Peter bekommen. Griechenland kann alleine die Grenzen nicht kontrollieren, kann nicht alle ankommenden Flüchtlinge aufnehmen und deren Asylverfahren durchführen. Wir müssen wieder zu mehr Solidarität zurückkommen. Sie können jetzt gerne noch mal sagen, das klingt naiv, aber wir müssen es immer wieder probieren.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.