Für das 9. EU-Forschungsrahmenprogramm "Horizon Europe" stehen aktuell 84,9 Milliarden Euro für den Zeitraum 2021 bis 2027 zur Verfügung. Ein Minus von knapp 10 Milliarden Euro gegenüber dem ursprünglichen Haushaltsentwurf und nur wenig mehr als beim auslaufenden 8. EU-Forschungsrahmenprogramm "Horizon 2020".
Weil eine Stagnation der Fördermittel für Wissenschaft schwer vereinbar ist, mit dem erklärten Anspruch Europas, bei der Entwicklung von Zukunftstechnologien in der ersten Liga zu spielen, regte sich breiter Widerstand gegen den Raubbau am Forschungsbudget.
21. Juli 2020
Gegenüber der Webseite ScienceBusiness sagt der Brandenburger Europaabgeordnete Christian Ehler, der an den Verhandlungen über Horizon-Europe beteiligt war, die Rotstift-Aktion gefährde Europas Wettbewerbsfähigkeit.
"Sie bedeutet ein ‚Nein‘ für Innovationen. Die Kürzungen beim Forschungsetat werden Europas Rückstand gegenüber globalen Wettbewerbern zementieren."
16. September 2020
Jean-Pierre Bourguignon, der Präsident des Europäischen Forschungsrates, erklärt gegenüber dem Fachmagazin Nature, er verstehe nicht, warum das Budget der renommierten Einrichtung zur Förderung von Spitzenforschern um zehn Prozent gekürzt werden soll, auf 13,4 Milliarden Euro für sieben Jahre. Eine Pandemie sei der falsche Zeitpunkt, um Mittel für die Grundlagenforschung zu streichen, so Bourguignon. Er fordert, die Entscheidung rückgängig zu machen.
1. Oktober 2020
Die Präsidenten der vier großen deutschen Forschungsorganisationen - Max-Planck- und Fraunhofer-Gesellschaft, Leibniz- und Helmholtz-Gemeinschaft – veröffentlichen in der Wochenzeitung "ZEIT" einen Appell, Europas Zukunft nicht kaputt zu sparen: Eine Kürzung der Ausgaben für Forschung und Entwicklung sei ein fatales Signal. "Will Europa seinen Platz in der Welt behaupten, müssen wir technologisch souverän werden. Das heißt, Top-Positionen in strategisch wichtigen Feldern wiederzuerlangen und gezielt in Spitzenforschung und den Transfer der Ergebnisse in die Anwendung zu investieren. Die Ausgaben für die Forschung zu kürzen ist falsch und langfristig nicht zielführend."
7. Dezember 2020
Über 1850 Wissenschaftler, darunter einige Nobelpreisträger, haben einen offenen Brief der Kampagne "Rescue Horizon Europe" unterzeichnet. Das Schreiben warnt EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) vor den Folgen der Kürzungen des EU-Forschungsetats von 2021 bis 2027.
"Die drastischen Einsparungen werden einen verheerenden Effekt auf unsere Fähigkeiten haben, die großen globalen Herausforderungen unsere Zeit anzugehen – Klimawandel, Pandemien, Quantentechnologie, künstliche Intelligenz und personalisierte Medizin. Sie werden unweigerlich zu einem Exodus wissenschaftlicher Exzellenz führen, zu technologischen Abhängigkeiten und verminderter Gesundheitsvorsorge."
"Die drastischen Einsparungen werden einen verheerenden Effekt auf unsere Fähigkeiten haben, die großen globalen Herausforderungen unsere Zeit anzugehen – Klimawandel, Pandemien, Quantentechnologie, künstliche Intelligenz und personalisierte Medizin. Sie werden unweigerlich zu einem Exodus wissenschaftlicher Exzellenz führen, zu technologischen Abhängigkeiten und verminderter Gesundheitsvorsorge."
84 Milliarden Euro sind nicht der große Wurf für "Horizon Europe"
Die Hoffnung der Kritiker: Man könnte es irgendwie noch schaffen, das Schlimmste zu verhindern. Schützenhilfe gibt’s aus Straßburg, wo EU-Parlamentarier als Wunschziel sogar ein Forschungsbudget in Höhe von 120 Milliarden Euro formuliert haben, also 40 Milliarden mehr als derzeit veranschlagt. Am 10. November war ein kleiner Etappensieg zu verzeichnen. Die Verhandlungsführer aus dem Europäischem Parlament und den EU-Staaten haben sich im November auf einen EU-Haushalt für die Jahre 2021 bis 2027 in Höhe von 84,9 Milliarden Euro geeinigt. Vier Milliarden Euro mehr als noch Juli vorgesehen. Und die spannende Frage mit Blick auf morgen, wo in Brüssel über das EU-Budget entschieden werden soll, war das schon alles? Oder ist da vielleicht noch mehr drin?
Darüber hat Ralf Krauter mit Dr. Jan Wöpking, dem Geschäftsführer des deutschen Universitätsverbundes "German U-15", dem 15 forschungsstarke Universitäten angehören, gesprochen.
Ralf Krauter: Statt 80 Milliarden Euro sind aktuell 84 Milliarden im Topf für "Horizon Europe". Das entspricht einem Zuwachs von 5 Prozent zum Vorgänger-Programm und müsste doch eigentlich reichen, oder?
Jan Wöpking: Erst mal sind wir dankbar, dass es 84 oder sogar 85 Milliarden sind, dass das Parlament es geschafft hat, da noch vier Milliarden zusätzlich rauszuholen. Das Zweite ist die Höhe des Geldes: Es kommt natürlich darauf an, was Sie damit machen wollen, was Ihre Ziele sind. Natürlich sind 85 Milliarden erst mal nicht wenig, und es bringt auch nichts, wenn wir jetzt nur klagen, sondern man muss ja mit dem Geld, was man hat, das Beste machen. Nur man muss halt auch eins klar sehen: Wenn wir uns die Herausforderungen anschauen, vor denen Europa steht – von der Bewältigung der Pandemie über Klimaneutralität, künstliche Intelligenz –, dann relativiert sich dieser Betrag doch relativ schnell. Und er relativiert sich auch, wenn man sieht, dass Europa in einem ziemlich scharfen Wettbewerb mit den USA und insbesondere China steht.
Also wenn Europa ein weltweit führender Wissenschafts- und Innovationsstaat sein will, bleiben will, dann muss sich das auch stärker finanziell abbilden, und da sagen eigentlich alle Experten, dafür reichten diese Summen nicht. 2017 gab es diese Expertenkommission damals unter Pascal Lamy, und die hat gesagt, wir brauchen 120 Milliarden Minimum, sonst verliert Europa an Schwung und wir kriegen unsere eigenen Ziele nicht erreicht.
Jetzt sind wir bei 85 Milliarden, und das macht eigentlich gar keinen Sinn, zumal wir jetzt ja in einer Pandemie sind, die wir nur forschungsgeleitet und insbesondere forschungsgeleitet bewältigen können, und das gilt in ganz anderer und noch stärkerer Form für die künftigen Herausforderungen wie Klimawandel und KI. Also, 85 Milliarden sind nicht wenig Geld, aber andererseits, bei einem Gesamthaushalt von 1,8 Billionen ist es auch bei Weitem nicht der große Wurf, den es eigentlich gebraucht hätte.
Krauter: Um die Relation noch mal klarzustellen, für die EU-Agrarförderung werden ungefähr viereinhalb Mal so viele Mittel ausgegeben, da steht so eine Zahl von 360 Milliarden im Raum, um diese Korrelation mal klarzumachen. Schauen wir trotzdem speziell auf Horizon Europe, ein Streitpunkt bei dieser Summe, die jetzt im Raum steht, also 84, 85 Milliarden Euro über sieben Jahre, ist ja die Verteilung dieses Geldes auf die verschiedenen Säulen des Programms. Die Säule 1 nennt sich exzellente Wissenschaft, und die käme aktuell etwas schlechter weg als vorher, ihr Budgetanteil soll von 32 auf 25 Prozent schrumpfen. Welche Folgen hätte das denn für die forschungsstarken Unis in Deutschland, die Sie ja vertreten?
Am EU-Forschungsbudget zu sparen, ist gerade jetzt verkehrt
Wöpking: Das ist ziemlich klar, dass wäre ein schlechtes Ergebnis für unsere Universitäten, aber ich glaube, es wäre auch ein schlechtes Ergebnis für Spitzenforschung in Deutschland, in Europa insgesamt, denn man muss sich ja einmal anschauen, was in Säule 1 enthalten ist. Das ist insbesondere der Europäische Forschungsrat oder das Marie-Skłodowska-Curie-Programm für die Mobilität des wissenschaftlichen Nachwuchses.
Wenn Sie sich den ERC, also den Europäischen Forschungsrat anschauen, das sind eigentlich genau die Programme, deren Forschungsergebnisse uns jetzt gut durch die Krise bringen. Das lässt sich an einem Beispiel ziemlich deutlich zeigen: Wenn Sie sich jetzt anschauen, die Hoffnungen der Welt richten sich auf Impfstoffe wie BioNTech und Curevac. Einer der Gründer von BioNTech, der Ugur Sahin, der kommt eigentlich aus der personalisierten Krebsmedizin, und der Impfstoff gegen Corona, den er entwickelt, das ist eine Art Nebenprodukt der dabei entwickelten Methoden. Just dieser Ugur Sahin hat sich im Jahr 2017 um einen ERC Grant, einen Advanced Grant, also die höchste Kategorie beworben und war erfolgreich, und dieser Grant geht für personalisierte Krebsimpfstoffe raus.
Das ist die Art von Forschung, die wir in Säule 1 exzellenter Wissenschaft fördern, und es ist doch eigentlich völlig absurd, dass gerade der Anteil dieser Art von Forschung inmitten dieser Jahrhundertpandemie jetzt heruntergefahren wird, wo wir ihn im Gegenteil eher stärken müssen.
Krauter: Beim Europäischen Forschungsrat ERC war man ja auch entsprechend frustriert, als die ersten Budgetvorlagen kamen. Wir haben den Präsidenten Jean-Pierre Bourguignon eben schon gehört, und der hat gestern mitgeteilt, mit den gut zwei Milliarden im Jahr, die man jetzt für die Förderung von Spitzenforschern in Europa bekommen soll, das wäre sozusagen der Stand, den man auch die sieben Jahre davor schon hatte. Das wäre Stagnation, das reiche nicht, man brauche mindestens 250 Millionen Euro mehr pro Jahr. Ist diese Forderung gerechtfertigt?
Wöpking: Die ist absolut gerechtfertigt, wir unterstützen diese Forderung klar. Der ERC ist das Beste, was die europäische Forschungspolitik erfunden hat, muss man so klar sagen. Der wird weltweit beachtet, er hat in den wenigen Jahren – den gibt es ja erst seit 2007 – einen Nobelpreisträger hervorgebracht und diverse andere Auszeichnungen. Die Arbeit des ERC wird jedes Jahr unabhängig evaluiert, und da kommt immer das Gleiche heraus, dass nämlich der weit überwiegende Teil der Projekte, 80 Prozent aufwärts, bahnbrechende oder erhebliche Fortschritte in der Wissenschaft voranbringt und dass viele Projekte – und das ist auch ganz wichtig – mittel- und langfristig einen sehr großen und positiven Einfluss auf Gesellschaft und Wirtschaft haben.
Beim ERC haben wir jetzt aktuell die Situation, dass es ein knallharter Wettbewerb ist um die Grants. Das ist auch gut so, wenn es um Qualität geht, denn der ERC hat deswegen sein Renommee, weil er ganz streng ist in der Auswahl der Projekte. Das Problem ist aber, dass es jetzt schon deutlich mehr Projekte gibt, die eigentlich so exzellent sind, dass sie gefördert werden müssen, dass es dafür aber einfach schlicht kein Geld gibt. Der ERC selber schätzt, dass sie 30 Prozent mehr förderungswürdige Forschung hätten, also 30 Prozent mehr exzellente Forschung, ohne an der Qualität zu sparen, und die werden einfach nicht im Moment finanziert. Europa verschenkt da immenses Potenzial, Jahr für Jahr, und das kann man sich eigentlich nicht leisten angesichts der Herausforderungen. Und wenn man sich einmal vor Augen führt, dass da Leute wie Ugur Sahin gefördert werden – was da verloren geht, sowohl an Erkenntnisgewinn als auch an gesellschaftlichem Nutzen, das ist immens.
Die Europäische Union hat gezeigt, dass sie in der Krise handlungsfähig ist
Krauter: Welche Rolle spielt eigentlich die Bundesforschungsministerin Anja Karliczek bei diesem Feilschen um den EU-Forschungsetat? Sie ist ja derzeit auch Vorsitzende des EU-Forschungsministerrats. Hat sie ihren Einfluss im Sinne der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler geltend gemacht bei diesen Verhandlungen?
Wöpking: Ich glaube, nachdem was ich jetzt hier gesagt habe darüber, was man kritisieren kann an diesem Budget und was man sich hätte besser vorstellen können, dass man einmal auch anerkennen muss, dass gerade Deutschland hier, glaube ich, in einer Zwickmühle war. Auf dem Ratsgipfel im Juli, auf dem ja die erste große Kürzung des Budgets beschlossen worden ist, da ging es nicht primär um Wissenschaft, sondern da ging es ums große Ganze, letztlich ja um die Frage, ob die Europäische Union inmitten der größten Krise ihrer Geschichte noch handlungsfähig ist und ob sie solidarisch sein kann. Und wenn es damals diese Einigung, die zulasten der Wissenschaft ging, nicht gegeben hätte, dann haben ja schon manche darüber spekuliert, dass es auch zu einem Auseinanderbrechen der EU führen könnte.
Deswegen ist es auch eine historische Leistung, was da passiert ist, dass man einen Haushalt von 1,8 Billionen erreicht hat in diesen langen Verhandlungsnächten, und das ist erst mal was, was auch ja für die Wissenschaft gut ist. Wenn man sich jetzt das einzelne Budget anschaut, dann bin ich mir ziemlich sicher, dass die Ministerin sich da auch ein anderes Ergebnis hätte vorstellen können. Das ist ja insgesamt für die deutsche Ratspräsidentschaft anders gelaufen, als es sicherlich geplant war – das liegt natürlich an Corona –, und wichtiger jetzt an diesem Punkt, wo wir stehen, als die Frage, was hätte man sich auch anders vorstellen können, ist, wo geht es jetzt eigentlich hin.
Es gibt ja noch die Verhandlungen, wir haben über die vier Milliarden, die jetzt verteilt werden, gesprochen. Es gibt auch noch die offene Frage der Assoziierung, also welche Länder werden wie schnell möglicherweise zu Horizon Europe assoziiert, was ist mit Großbritannien. Das sind alles sehr konkrete Handlungsfelder, auf denen noch sehr viel zu gewinnen ist, und ich würde sagen, darauf muss man sich jetzt konzentrieren.
Krauter: Was genau wäre denn Ihr Wunsch, Ihre Botschaft, Ihre Forderung an die Unterhändler in Brüssel?
Wöpking: Denken Sie mittel- und langfristig, schauen Sie sich an, worauf jetzt die Hoffnungen der Welt beruhen, um aus der Pandemie rauszukommen, konkret Impfstoffe, wie sie Firmen wie BioNTech und Curevac entwickeln, und schauen Sie sich an, woher diese Firmen kommen, nämlich aus exzellenter Grundlagenforschung – das hat nämlich alles bei den Firmen vor ein paar Jahrzehnten in Mainz und Tübingen angefangen.
Es wäre doch jetzt genau das Verkehrte, was wir tun können, an genau der Art von Forschung zu sparen, die uns durch die Jahrhundertkrise bringt. Wir müssen im Gegenteil jetzt kräftig in diese Forschung investieren, damit man bei der nächsten Krise, von denen wir wissen – sei es Klimawandel – oder von denen wir nicht mal ahnen, dass sie kommen werden, dass wir dann wieder Forschung und Unternehmen haben, die uns da in so einer Rekordzeit rausholen.
Und dafür, wenn man sich das überlegt, worum es da geht, da sind doch zwei Milliarden Euro für ganz Europa auf einen Zeitraum von sieben Jahren gerechnet wahrlich keine große Summe.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.