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EU-Freizügigkeit
Merkels Warnschuss in Richtung Großbritannien

Die mit der Freizügigkeit einhergehende unkontrollierte Einwanderung aus der EU ist seit Monaten Thema Nummer eins in Großbritannien. Getrieben von der Angst vor den EU-Feinden ist in Regierungskreisen immer wieder von einer Quote für EU-Einwanderer zu hören. Jetzt soll Bundeskanzlerin Merkel deutliche Worte gefunden haben.

Von Jochen Spengler |
    David Cameron redet am Rande des Gedenkens an den Ersten Weltkrieg in Ypern in Belgien mit Angela Merkel.
    Der britische Premierminister David Cameron und Bundeskanzlerin Angela Merkel beim EU-Gipfel im belgischen Ypern. (picture alliance / dpa / Dospiva Jakub)
    Die Spiegel-Meldung schlägt ein wie eine Bombe. "Auf Wiedersehen, Britain", titelt eine Zeitung, und auch die Fernseh-Sender bringen die Warnung der Bundeskanzlerin an prominenter Stelle: Das Vereinigte Königreich steuere auf den Punkt zu, von dem aus es kein Zurück in die EU gebe.
    "Welcome to BBC News. The German Chancellor Angela Merkel has reportedly warned David Cameron"
    "Very good morning, you watching Sky News. Top Stories this morning..."
    Großbritanniens "wichtigste" Verbündete werde seinen EU-Austritt eher akzeptieren als am Grundprinzip der Bewegungsfreiheit in der EU zu rütteln. Shocking. Die Kanzlerin habe am Rande des EU-Gipfels, so berichtet der "Spiegel", mit Premierminister David Cameron hinter verschlossenen Türen Klartext geredet. Doch Finanzminister George Osborne versucht, Merkels Warnschuss herunterzuspielen:
    "Was wir hier haben, ist eine Geschichte, die auf der Spekulation beruht, was Angela Merkel gesagt haben könnte zu etwas, das David Cameron künftig sagen werde. Das ist ein wenig dünn, wir hatten gute Diskussionen mit den Deutschen, ich war erst letzte Woche in Berlin."
    Dort aber bekräftigt Regierungssprecher Seibert gestern Mittag vor der Bundespressekonferenz:
    "Dass auch für uns in Deutschland die Bekämpfung von möglichem Missbrauch dieser Freizügigkeit ein legitimes Interesse ist, das wir teilen, dass aber das hohe Gut der Freizügigkeit generell nicht angetastet werden darf, darin sehen wir eine wichtige europäische Errungenschaft."
    Nun ist aber gerade die mit der Freizügigkeit einhergehende unkontrollierte Einwanderung aus der EU seit Monaten das Thema Nummer eins in Großbritannien und für viele Bürger Umfragen zufolge das wichtigste Problem. Boulevard-Zeitungen und die rechtspopulistische UKIP werden nicht müde, vor einer Immigrantenflut und Sozialbetrügern zu warnen; während Regierungschef Cameron die Flucht nach vorn versucht.
    "Ich werde bekommen, was Großbritannien braucht"
    "Großbritannien, ich weiß, Du willst das geklärt haben. Deswegen werde ich nach Brüssel gehen und ein Nein als Antwort nicht akzeptieren. Wenn es um die Bewegungsfreiheit geht, werde ich bekommen, was Großbritannien braucht."
    Das Versprechen auf dem Tory-Parteitag hat wenig gefruchtet. Die Unabhängigkeitspartei steigt in den Umfragen weiter und gefährdet die Wiederwahl der Konservativen im nächsten Jahr. Getrieben von der Angst vor UKIP und EU-Feinden in den eigenen Reihen errichtet Premierminister Cameron selbst immer höhere Hürden für den Erfolg seiner EU-Reformverhandlungen - es entsteht eine Eigendynamik, die immer schwieriger zu stoppen scheint.
    In Regierungskreisen wird schwadroniert über Quoten für EU-Einwanderer, und Londons Bürgermeister Boris Johnson will mehr qualifizierte Immigranten aus dem Commonwealth und weniger unqualifizierte aus der EU. Er hält Merkels Warnschuss für einen bloßen Verhandlungsbluff:
    "Ich glaube nicht eine Minute, dass Deutschland möchte, dass Großbritannien die EU verlässt. Das ist das Letzte, was es will. Wir sind enge Verbündete beim freien Handel gegen die Bürokratie, und sie brauchen uns als Gegenpol zur französischen Wirtschaft und den südlichen Vorstellungen. Man muss das betrachten als Abstecken der Positionen vor sehr schwierigen, aber am Ende erfolgreichen Verhandlungen."
    Auch der EU-skeptische Tory-Abgeordnete David Davis beharrt darauf, dass eine Bekämpfung des Missbrauchs der Freizügigkeit und des Sozialtourismus nicht ausreicht:
    "Es muss eine Änderung der Freizügigkeitsregeln geben. Manchmal hat ein Land nur ein Achtel des Durchschnittslohns eines anderen und wenn man nichts tut, gibt es eine massive Flut von einem Land zum anderen."
    Dass aber der Binnenmarkt genau dazu eingerichtet wurde, um Ungleichgewichte von Arbeit, Kapital und Waren mittels Angebot und Nachfrage zum Wohle aller auszubalancieren, und die EU schon deswegen nicht vom Prinzip der Freizügigkeit abrücken kann, darauf macht Kenneth Clarke, ein konservatives Urgestein, aufmerksam:
    "Es ist nicht nur ein Prinzip der EU, sondern Grundlage jedes wirklichen Binnenmarktes. Und wenn man in einem Binnenmarkt bleiben will, in einer modernen Wirtschaft, dann ist die Freizügigkeit für Arbeitnehmer wesentlich, auch wenn diese nicht missbraucht werden sollte."
    Bedauerlich ist, dass David Cameron den Ex-Minister Kenneth Clarke unlängst entmachtet hat, und immer weniger Konservative auf ihn hören mögen. Cameron selbst wird seine genauen Einwanderungsvorstellungen demnächst in einer Rede skizzieren. Angeblich will er die EU-Regeln nicht mehr ändern, sondern so weit wie möglich ausreizen.