Ihn wundere die deutsche EU-Begeisterung nicht, sondern sie sei verständlich, sagte Dominik Geppert. "Es ist immer noch ein Mirakel, wie rasch nach dem von den Deutschen verbrecherisch über Europa gebrachten Zweiten Weltkrieg" die Einbindung des Westteils von Deutschland in einen europäischen Zusammenschluss gelungen sei.
Europa sei für Deutsche über Jahrzehnte mit der Rückgewinnung von Souveränität und Handlungsfähigkeit verbunden gewesen. Aus der westdeutschen Perspektive der Nachkriegszeit sei es genau umgekehrt dessen, was in Großbritannien so obsessiv diskutiert würde. "Für Großbritannien, die erst 1973 zur EU dazugestoßen sind mit einer ganz anderen Vor- und Kriegsgeschichte und mit einer ganz anderen Bilanz des 20. Jahrhunderts, ist das Gegenteil der Fall gewesen", ergänzt der Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Bonn.
Das Interview in voller Länge:
Michael Köhler: In unserer Folge über "Märchen Europa" fragen wir heute Morgen nach nichts Geringerem als der Geschichte der Europabegeisterung der Bundesrepublik. Deutschland ist ja allein schon in der Präambel des Grundgesetzes vom Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen. Das wollten Väter und Mütter des Grundgesetzes aus gutem Grund so. Woher kommt diese Begeisterung und Emphase? Darüber habe ich mit dem Bonner Neuhistoriker Dominik Geppert gesprochen, er lehrt dort Geschichte an der Universität Bonn. Das deutsche Besatzungsstatut nach dem Zweiten Weltkrieg sah Abrüstung, Entmilitarisierung vor. Es galt bis zu den Pariser Verträgen 1955. Alliierte Vorbehaltsrechte gab es sogar bis zur Wiedervereinigung, also die volle Souveränität kam also erst sehr spät. Ich hab Dominik Geppert also gefragt: Wundert Sie da die deutsche EU-Begeisterung?
Dominik Geppert: Nein, es wundert mich überhaupt nicht, dass Europa für uns Deutsche, zumal die Nachkriegsdeutschen im Westen, sozusagen positiv besetzt gewesen ist oder bis in die Gegenwart hinein ist, ist sehr verständlich, aus einer Reihe von Gründen: Das ist zum einen, über Europa gelang die Reintegration, sozusagen die Resozialisierung in der Staatenwelt – das ist sozusagen ja immer noch ein Mirakel, wie rasch nach dem von Deutschland verbrecherisch über sozusagen ganz Europa gebrachten Zweiten Weltkrieg mit dem Schuman-Plan und acht Jahre später mit den römischen Verträgen, dazwischen mit der gescheiterten Verteidigungsgemeinschaft, die Einbindung des Westteils von Deutschland in einen europäischen Zusammenschluss gelungen ist. Also hier ist es sozusagen zum einen mentalpsychologisch, man darf wieder dabei sein, man darf auch gleichberechtigt wieder dabei sein. Das ist ja bei der Montanunion der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl der entscheidende Unterschied zum Ruhestatut gewesen, dass die Alternative sozusagen vorher gewesen ist, wo sozusagen gegen Deutschland diskriminiert wurde, wo Deutschland bewacht und überwacht wurde von außen, während in der Montanunion man gleichberechtigt im supranationalen Verband mitgespielt hat. Und das ist sozusagen … das zweite Element neben dem mentalen ist sozusagen eine Zurückgewinnung von Souveränität. Das heißt, aus der deutschen Perspektive der Nachkriegszeit, der westdeutschen Perspektive der Nachkriegszeit, ist es genau umgekehrt als das, was in Großbritannien so obsessiv diskutiert wird. Europa für uns Deutsche ist zunächst einmal über Jahrzehnte mit der Rückgewinnung von Souveränität, von Handlungsfähigkeit verbunden gewesen, und für Großbritannien, das eben erst 1973 dazugestoßen ist, mit einer anderen Vorgeschichte und Kriegsgeschichte und einer ganz anderen Bilanz des 20. Jahrhunderts, ist das Gegenteil der Fall gewesen. Das sind also zwei wichtige Gründe.
Köhler: Die anderen haben sich immer über diese deutsche EU-Begeisterung ein bisschen gewundert und haben das als eine Art Überidentifizierung empfunden?
"Dieses 'nie wieder Krieg' wird als Nachhall schwächer"
Geppert: Ja, also wenn wir bei Großbritannien sind, Margaret Thatcher hat in ihren Erinnerungen mal geschrieben, sie könnte ja verstehen, dass die Deutschen mit Blick auf wie gesagt die Verbrechen des Dritten Reiches kein Vertrauen mehr darin hätten, sich selber zu regieren, aber das wäre kein Grund, dass sie allen anderen über die europäische Idee verbieten sollten, sich selbst zu regieren. Also hier sehen Sie sozusagen – böse gewendet, aber nicht ganz falsch – die Kritik, die von anderen Nationen, besonders zugespitzt aus Großbritannien, natürlich dort noch mal besonders zugespitzt von der Eisernen Lady, gekommen ist, aber ich glaube, unterschwellig und der Tendenz nach würden Sie das auch aus Frankreich und anderen Ländern finden. Ich würde sagen graduell abgestuft, aber der Gedanke, dass die Deutschen sozusagen Europa auch als Fluchtland empfunden, vor der eigenen problematischen nationalen Identität, ist gar nicht von der Hand zu weisen. Und das, wie gesagt, nimmt sich aus der Sichtweise der anderen Europäer ganz, ganz anders aus.
Köhler: Nun hatten die Deutschen ja auch Grund dazu, sie haben den Überfall auf Frankreich, auf Polen, auf die Sowjetunion begangen im Zweiten Weltkrieg, wir haben über das Besatzungsstatut gesprochen, Pariser Verträge, bis 1955 dauert es, wenn man es genau haben will, sogar bis zur Wende, Zwei-plus-Vier-Verträge. Das europäische Projekt als ein Identifizierungsangebot, so haben Sie es mal formuliert in einem Aufsatz, ist für meine Begriffe doch nachvollziehbar. Und da kommt 1962 der französische Präsident de Gaulle nach Bonn und sagt, Sie sind ein großes Volk, und schmiert ihnen nicht nur Honig ums Maul, sondern sagt, ihr seid auch ein gleichberechtigtes Volk in Europa. Das war doch eine überfällige Genugtuung, oder?
Geppert: Genugtuung weiß ich gar nicht mal, es ist sozusagen das Gefühl, von den Opfern der eigenen Aggressionspolitik wieder aufgenommen zu werden in den Zivilisationsverband der europäischen Staatenwelt oder auch der Völkbund-Nationen. Nun muss man sagen, das Problematische daran ist, dass sich diese Sichtweise, die zwischen Adenauer und de Gaulle und ihren Zeitgenossen dann selbstverständlich und auch dominierend und prägend war, dass sich das nur begrenzt über die Zeiten und Generationen weitertransportieren lässt. Also das wird ja gemacht und wir hören das auch immer wieder und es ist ja auch nicht falsch geworden, es ist nur, was die Lebenswelt und Lebenswirklichkeit unserer Generation, aber doch auch der unserer Kinder noch viel mehr anbetrifft, sehr weit weg. Die Selbstverständlichkeit, mit der junge Leute heute durch Europa reisen, andere europäische Länder wahrnehmen, in der Selbstverständlichkeit, mit der meine Studierenden Erasmus-Programme wahrnehmen und im Ausland studieren gehen, das sind sozusagen erlebte europäische Wirklichkeit, und die wird und muss zunehmend an die Stelle treten dieses "nie wieder Krieg". Wie gesagt, das bleibt ja historisch richtig und wichtig, aber es wird sozusagen als Nachhall schwächer.
Köhler: Wundert es Sie, oder andersrum gesagt, es ist doch nicht überraschend, dass auf dem Boden dieser Erfahrungen die Deutschen vielleicht Europa als das sich ausgesucht haben, was Sie so als eine Art Ersatznationalismus, glaube ich, bezeichnet haben. Das ist doch eigentlich dann nicht überraschend, einfacher gesagt, dass es da reiche, affektive Bindungen gibt.
Geppert: Ja, ich glaube, es ist ja sogar noch mehr als das, worüber wir gerade gesprochen haben, sozusagen die Lehren aus der Katastrophe, dem Desaster des Dritten Reiches. Es gibt, glaube ich, noch – das wird zunehmend deutlicher – in unserer Gegenwart sozusagen weiter zurückreichende historische Linien, die auch wirksam werden.
Köhler: Woran denken Sie?
"Wenn Sie nach England gehen, da ist Europa eher das andere und nicht das eigene"
Geppert: Der Gedanke sozusagen des alten Reiches, ein territorialer Flickenteppich, ganz unterschiedliche, große und kleine Staaten und Gebilde, die da in einer Rechtsgemeinschaft auf einem, wir würden heute sagen Mehr-Ebenen-System zusammengefasst waren. Das hallt, glaube ich, bei unseren Europavorstellungen immer noch nach sozusagen, es kommt aus der Zeit vor den Nationalstaaten, der Gedanke, es gibt so was wie eine Rechtsgemeinschaft über den einzelnen Territorien, und dieser Gedanke des alten Reiches ist, glaube ich, von Deutschland sozusagen auf die europäische Ebene auf eine Weise transponiert worden. Und was wir gegenwärtig erleben, ist, dass auch das nicht von unseren Nachbarn in dem Maße mitgemacht wird, weil das nicht ihrem eigenen Geschichtsbewusstsein und dem Bewusstsein ihrer Nationalgeschichte entspricht. Also wenn die Deutschen an den alten Reichstag denken, also nicht den in Berlin, sondern den des alten Reiches, wo sozusagen ewig verhandelt wurde und wenig vorankam, aber doch sozusagen eine Gemeinschaft das konstituierte, dann ist das etwas, woran wir positiv anknüpfen, während das aus Sicht der Briten oder Franzosen nicht Teil des eigenen Geschichtsverständnisses ist und daher fremdartig wirkt. Also der Idee, das, was Walter Hallstein, der erste Präsident der Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, in den 60er-Jahren mal gesagt hat: Die EWG, oder die europäische Gemeinschaft als Rechtsgemeinschaft, das ist eine sehr deutsche Vorstellung. Ich würde sagen, das stößt auch gegenwärtig an seine Grenzen, denn wir erleben in der Krise der letzten Jahre auch eine zugespitzte Debatte über die Frage, Primat des Rechts oder Primat der Politik. Und der deutsche Standpunkt ist sehr deutlich einer, der vom Recht her kommt, während die Franzosen, beispielsweise auch die Engländer sagen, nein, in entscheidenden Situationen muss die demokratisch gewählte Regierung, die Exekutive, Möglichkeiten der Handlung haben, die wir Deutschen sozusagen durch den Verweis aufs Recht uns selber vorenthalten.
Köhler: Ist das der Grund vielleicht für so das ein oder andere Missverständnis unter den europäischen Staats- und Regierungschefs, was Sie gerade so beschrieben haben, diese alte Reichsidee, das geht bis hin, Sie haben es sogar mal gesagt, bis hin zu sakralisierten Formen der Begeisterung?
Geppert: Ja, also dass Deutschland, aus deutscher Sicht Europa, in einer Weise sakralisiert wird, die andere Länder für ihre eigene Nation vorbehalten, scheint mir ganz deutlich zu sein. Wenn Sie beispielsweise nach England gehen, da ist Europa eher das andere und nicht das eigene, und die Sakralisierung wird der eigenen Nation vorbehalten. Und das ist ein Grund, der insbesondere zwischen Deutschland und England oder Deutschland und Großbritannien, wie man ja immer noch sagen muss, das Fremdeln ganz stark ausmacht. Wenn wir auf die Interessen gucken, wenn wir auf die wirtschaftspolitischen Vorstellungen gucken, auch aufs Staatsverständnis, da sind wir relativ dicht bei den Engländern oder bei den Briten dran, aber diese Art des ganz unterschiedlichen Europaverständnisses ist etwas, was emotional, mental die Nordsee und den Ärmelkanal doch relativ breit macht.
Köhler: Am 10. Mai 1945 hält Thomas Mann seine letzte BBC-Rede. Er beginnt sie mit: "Wie bitter ist es, wenn der Jubel der Welt der Niederlage des eigenen Volkes dient. Deutsch war es einmal, dem Geist zur Macht zu verhelfen, deutsch muss es wieder sein." Also sehr pathetische Worte von Thomas Mann, die aber doch zeigen, da gibt es so eine Tradition, so eine geistige Tradition, an der man festhält. Für Thomas Mann war die russische Literatur näher als die französische, er hat da ein ganz pathetisch-obsessives Europaverständnis – wirkt so was als Narrativ, sagt man, nach?
Geppert: Mentale Transferleistung erbringen
Geppert: Ganz sicher. Also gerade, wenn man wie Thomas Mann sozusagen auf die Dinge aus der kulturellen Perspektive als Schriftsteller schaut, dann identifiziert man sozusagen Zusammenhänge und Abstoßungen kulturell. Von Thomas Mann kommt ja der Satz dann auch bezeichnenderweise – und da liegt diese Emphase mit drin –, wir müssten jetzt sozusagen Abschied nehmen oder wir müssten uns distanzieren, verabschieden von der Vorstellung, dass man ein deutsches Europa schaffen könnte, sondern was an der Zeit wäre, wäre, ein europäisches Deutschland zu schaffen. Und das ist aus der Sicht Thomas Manns, glaube ich, genau das, was Sie angesprochen haben. Auch hier ist wieder, glaube ich, das kulturelle Missverständnis interessant. Ich habe 2004/2005 in einer Diskussion in London gesessen mit Lord Dahrendorf, der ja sozusagen ein Mittler war zwischen deutschen und britischen Vorstellungen, und da kam in der Diskussion, wie das so häufig ist, wenn Deutsche über Europa reden, dieses Thomas-Mann-Zitat auf vom europäischen Deutschland. Und der Dahrendorf sprang auf und wurde für seine Verhältnisse böse und sagte, das wäre genau der Grund, warum die Deutschen nie verstehen würden, wie andere Leute diese Zusammenhänge sehen. Ein Brite würde keinen Unterschied hören zwischen dem einen und dem anderen Teil des Zitats. Also aus britischen Ohren ist ein europäisches Deutschland und ein deutsches Europa ganz, ganz ähnlich – in beiden Fällen würde der Brite hören, die Deutschen denken Europa und Deutschland synonym. Das würde sozusagen für sie in eins gesetzt. Und das sei der große Unterschied beispielsweise oder insbesondere zu den Briten, und das müsste man in Deutschland verstehen lernen. Ich glaube, bei allen praktischen Schwierigkeiten der Politik, mit denen wir es gegenwärtig zu tun haben, diese Vorstellungsleistung zu erbringen, sich in die anderen Positionen hineinzuversetzen – und sicher ist die britische eine Extremposition, aber es sind, wenn man sich umschaut, eben mittlerweile eine ganze Reihe Extrempositionen in der EU zusammengekommen –, diese mentale Transferleistung zu erbringen, das ist, glaube ich, notwendig, um die tieferen kulturellen, historischen Schichten unserer Schwierigkeiten und der, ich würde sagen, doch der existenziellen Krise, in der sich das europäische Einigungsprojekt momentan befindet, um das zu verstehen.
Köhler: Das sagt Dominik Geppert, Professor für neueste Geschichte an der Universität Bonn. In unserer Serie "Märchen Europa" sprach ich mit ihm über die deutsche EU-Begeisterung.
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