Die da durch die krachigen Lautsprecher singt ist Madeleina Kay, alias "EU Supergirl". Wasserstoffblonde Haare, ein Trenchcoat im Union Jack-Muster, auf die Wange ein Herz in den Farben der EU-Flagge geschminkt. Die Künstlerin aus Sheffield ist eines der jungen Gesichter der Anti-Brexitkampagne und zum EU-Gipfel nach Brüssel gekommen. Während hinter ihr die Autokolonnen der Staats- und Regierungschefs in die Einfahrt zum Ratsgebäude einbiegen, singt Kay vor einer kleinen Gruppe britischer Brexit-Gegner.
Mit Plakaten und Bannern versuchen sie, den Austritt doch noch abzuwenden. Francesca Geita arbeitet für eine NGO in Brüssel. Wie Theresa May ihr Land auf den Brexit zugesteuert hat, hält sie für eine Schande. "Es ist schlimmer, als wir es uns vor drei Jahren vorstellen konnten. Viele dachten, es würde ein Desaster. Aber wir haben nicht kommen sehen, wie schlimm es werden würde."
Ist ein zweites Referendum noch möglich?
Auf einer Holzpalette stehend spricht Lord Andrew Adonis zu den Demonstrierenden. Der Labour-Politiker ist Mitglied im britischen Oberhaus und einer der Köpfe der "Peoples Vote"-Kampagne, die ein zweites Referendum fordert. Dafür sollte die EU den Brexittermin möglichst weit in die Zukunft schieben.
"Das Parlament wird den Austrittsvertrag erneut ablehnen und dann um eine weitere Verlängerung bitten. Ich hoffe, dass Merkel und Macron doch noch eine lange Verlängerung zusagen, damit wir in dieser Zeit ein zweites Referendum abhalten und den Brexit aufhalten können."
Zur selben Zeit erläutert drinnen im Ratsgebäude die britische Premierministerin Theresa May den anderen EU-Regierungschefs ihre Bitte um einen Brexitaufschub. Diplomaten zufolge klingt sie dabei nicht wirklich überzeugend.
Labor-Chef Corbyn will "alternativen Deal"
Statt eines Aufschubs bis Ende Juni gewähren die EU-Regierungschefs am Ende stundenlanger Verhandlungen nur zwei Wochen: Neuer Brexittermin - der 12. April - wenn das britische Parlament dem Austrittsabkommen nicht überraschend doch noch zustimmt. "An diesem Zeitpunkt würden wir dann entweder ohne Deal die EU verlassen oder einen alternativen Plan vorlegen. Eine weitere Verschiebung würde auch eine Teilnahme an den Europawahlen bedeuten."
Während May weiteres Vertrauen bei den europäischen Staatschefs verspielte, versuchte ein anderer, sich in Stellung zu bringen: Der britische Oppositionsführer Jeremy Corbyn kam am Vormittag nach Brüssel, um mit der EU-Kommission darüber zu sprechen, wie er den Brexit regeln würde. "Die Gespräche waren positiv. Wir haben getan, was die Regierung hätte tun sollen, nämlich nach einem alternativen Deal zu suchen." Wie der aussehen sollte, verriet Corbyn jedoch nicht.
"Alles kann passieren"
Ein harter Brexit ohne Abkommen - dieses Schreckensszenario wurde gestern zwar verschoben, aber nicht ausgeräumt. Wegen dieser Unsicherheit überlegt Demonstrantin Geita, sich in einem EU-Land einbürgern zu lassen - um für alle Fälle gewappnet zu sein. "Alles kann passieren. No Deal ist eine wirkliche Möglichkeit und das wird noch schrecklich, wenn es so weitergeht."
Kurz nach Mitternacht war der erste Gipfeltag zu Ende. Es wird noch nicht der letzte Gipfel für die Briten gewesen sein, vermutet Jack Blanchard, Journalist bei der Londoner Ausgabe des Politikmagazins Politico: "Ich glaube nicht, dass das Vereinigte Königreich die EU so bald verlassen wird. Eine lange Verlängerung erscheint mir am wahrscheinlichsten. Es ist unwahrscheinlich, dass Theresa May kommende Woche doch noch den Austrittsvertrag durchs Parlament bekommt. Und alles was ich hier in Brüssel hinter den Kulissen höre ist: Das würde eine weitere Verschiebung des Austrittstermins bedeuten."
Um darüber zu entscheiden müssen die EU-Regierungschefs wohl bald erneut zusammenkommen - zu einem Notfallgipfel noch vor dem 12. April.