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EU-Gipfel in Brüssel
"Cameron hat bekommen, was er wollte - und konnte"

Großbritanniens Premier David Cameron habe sich vor seinen Landsleuten erfolgreich als harten Kämpfer für Reformforderungen dargestellt, sagte Michael Wohlgemuth vom Think-Tank Open Europe Berlin im DLF. Auf dieser Grundlage halte er es für wahrscheinlich, dass die Briten bei ihrem Referendum für den Verbleib in der Europäischen Union stimmen werden.

Michael Wohlgemuth im Gespräch mit Martin Zagatta |
    Der britische Premier sitzt während der Abschlusspressekonferenz zum EU-Gipfel in Brüssel vor einer Wand mit dem Schriftzug "europäisch".
    Die Folgen des Brexit könnten auch die Briten nicht einschätzen, sagte Wohlgemuth. (afp / Emmanuel Dunand)
    Das Paket über die Notbremse für Sozialleistungen sei das wichtigste Zugeständnis, das Cameron beim EU-Gipfel erreicht habe. Die anderen Kompromisse hätten zum Großteil eher Symbolcharakter, betonte Wohlgemuth.
    Bis zum voraussichtlichen Referendum am 23. Juni müsse Cameron nun geschickt agieren. Dies sei vor allem in seiner eigenen Partei schwierig. Bei den Tories werde besonders deutlich, wie der Riss zwischen Befürwortern oder Gegnern eines Brexit quer durch die Partei gehe. Auch bei den Briten selbst zeige sich die Gespaltenheit: Ungefähr ein Drittel sei für den Verbleib in der EU, ein Drittel wolle den Austritt und ein Drittel sei noch unentschieden.
    Wohlgemuth zeigte sich überzeugt, dass die Briten am Ende pragmatisch über die Vor-und Nachteile eines Ausscheidens aus der EU entscheiden. Dabei komme vor allem auch der Faktor Schottland zum Tragen. Denn jetzt schon gilt als sicher, dass die EU-freundlichen Schotten bei einem EU-Austritt Londons ein neues Unabhängigkeits-Referendum anpeilen.

    Ein Brexit bedeute einen Sprung in die Ungewissheit. Und Ungewissheit sei den Briten eigentlich ein Graus, bilanziert Wohlgemuth.

    Das Interview in voller Länge:
    Martin Zagatta: David Cameron gilt als Sieger hervor aus diesem EU-Gipfel, hat jedenfalls Karin Bensch in diesem Beitrag eben gesagt, aber reicht das, was Cameron erreicht hat, tatsächlich aus, um die Briten in der EU zu halten? Darüber kann ich jetzt mit Michael Wohlgemuth sprechen. Er ist Direktor beim Think-Tank Open Europe Berlin, eine Einrichtung, die sich als proeuropäisch, aber EU-kritisch bezeichnet. Guten Morgen, Herr Wohlgemuth!
    Michael Wohlgemuth: Guten Morgen!
    Zagatta: Wie sehen Sie das: Hat Cameron genug erreicht?
    Wohlgemuth: Ich glaube, er hat schon bekommen, was er wollte - und was er konnte. In dem Sinne werden wahrscheinlich die großen Euroskeptiker in Großbritannien sagen, das sei nur eine ziemlich unnötige Inszenierung gewesen, während er zeigen kann, dass er nur drei Stunden geschlafen und hart gekämpft hat. Ich glaube, das war genau das Bild, das beide Seiten wollten, sowohl die anderen Kollegen, Regierungs- und Staatschefs als auch er selbst.
    Zagatta: Welche Auswirkungen – was glauben Sie da –, welche Auswirkungen wird das jetzt in Großbritannien haben? Wir haben von unserem Korrespondenten vorhin gehört. Die Zeitungen berichten überwiegend recht positiv. Auf der anderen Seite hat die Labour-Partei das Ganze schon als Theater bezeichnet, und in der Regierung wollen doch einige Minister, was man so hört, selbst also Minister der Regierung gegen diese Vereinbarung stimmen und für einen Austritt Großbritanniens aus der EU.
    "Jetzt beginnt der zweite Akt des Dramas"
    Wohlgemuth: Ja, Cameron hat jetzt eine schwierige Kabinettssitzung heute, und dann wird er seinen Ministern freien Lauf lassen, sich zu erklären, ob sie jetzt für remain oder für leave abstimmen werden. Ich glaube, er wird schon einige davon überzeugen können, dass er das, was er versprochen hat – er hat vorher gesagt, es gibt diese vier Pakete –, dass er hier überall auch wirklich etwas erreicht hat, und das könnte ein Stück weit helfen, besonders die Notbremse für Sozialleistungen. Ich glaube, das war ihm so das wichtigste Thema. Viele andere Themen waren relativ technischer und haben eher symbolische Wirkung, aber auch Symbole sind wichtig im zweiten Akt des Dramas, das jetzt ansteht wahrscheinlich bis 23. Juni, die Kampagne für Verbleib oder das Verlassen der EU.
    Zagatta: Gehen da die Risse jetzt quer durch die großen Parteien oder ist abzusehen, Labour wird sich prinzipiell dagegen aussprechen. Da hört man unterschiedliche Sätze in den letzten Wochen. Wie ist das mit den Torys, also mit der Gruppierung, mit der Partei von Premierminister Cameron?
    Wohlgemuth: Die Torys sind wirklich gespalten und repräsentieren damit ziemlich gut die Bevölkerung. Es gibt etwa ein Drittel, die wollen unbedingt in der EU bleiben, es gibt ein Drittel, die wollen unbedingt raus, und es gab dieses eine Drittel in der Mitte, die sagten, lass uns erst mal sehen, was dann der Status quo ist und was Cameron aushandeln kann. Da wird man sehen, wie sie sich entscheiden. Die Anhänger der Labour-Partei sind zum allergrößten Teil für den Verbleib in Großbritannien, und dann ist noch die schottische Komponente, die SNP, die auch sehr für den Verbleib in der EU ist, und wenn es zum Brexit käme, dann wahrscheinlich noch mal ein Referendum anstrengen könnte, um aus Großbritannien auszutreten. Das sind so diese drei. Und von UKIP nicht zu reden, das ist die United Kingdom Independence Party, die natürlich auf jeden Fall raus müsste. Das schafft ziemliche Probleme, jetzt eine einheitliche Kampagne für die Gegner des EU-Verbleibs zu organisieren, weil das von den Rechtsradikalen um Nigel Farage bis zu gemäßigten Konservativen und auch ein paar Labour-Abgeordneten geht. Das geht wirklich quer durch die Parteien, aber es geht besonders quer durch die Torys, die Konservativen.
    "Hoffen, dass die Briten pragmatisch reagieren"
    Zagatta: Von was wird das jetzt abhängen Ihrer Meinung nach, wie dieses Referendum dann ausgehen wird?
    Wohlgemuth: Wahrscheinlich zunächst mal von Emotionen, das heißt, wie sehr dieses emotionale Thema der Souveränität besonders über die eigenen Grenzen angesichts der Flüchtlingssituation in Europa aussieht. Auf der anderen Seite denke ich und hoffe ich drauf, dass die Briten am Ende dann relativ pragmatisch überlegen, okay, was sind die ökonomischen Vor- und Nachteile des Verbleibs, was sind die Unsicherheiten, was passiert eigentlich danach, wenn wir raus sind, welches andere Modell können wir überhaupt haben, werden wir so ein Staat wie Norwegen oder wie die Schweiz mit irgendwelchen Vereinbarungen mit der EU, und tatsächlich auch, was passiert mit Schottland. Diese Unsicherheiten, das war schon beim Referendum über Schottland der Fall, dürften doch viele dazu bringen, zu sagen, okay, wir wissen, die EU ist nicht unser Liebling, wir sind da nicht schrecklich zufrieden, aber es ist immer noch besser als dieser Sprung ins völlig Ungewisse. Ich denke, das könnte Cameron, und das hat er auch schon letzte Nacht angedeutet, das will er schon stark machen, dass völlig unklar ist, was nach einem Brexit passieren würde. Diese Unsicherheit ist schon etwas, was die Briten wirklich nicht sehr lieben.
    Zagatta: Von was gehen Sie aus? Wird Großbritannien in der EU bleiben damit?
    Wohlgemuth: Ja, ich denke schon. Es ist wirklich nicht klar, aber ich denke, die Wahrscheinlichkeit ist 60 Prozent, dass sie drin bleiben, wenn das jetzt geschickt argumentiert wird, wenn der Termin auch passt und die Emotionen nicht gerade hochkochen wegen anderer Themen, dann müsste ein pragmatisches Urteil für den Verbleib sein.
    Zagatta: Sagt Michael Wohlgemuth, der Direktor des Thinktanks Open Europe Berlin. Herr Wohlgemuth, ich bedanke mich für das Gespräch!
    Wohlgemuth: Vielen Dank! Wiederhören!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.