Dirk Müller: Was tun gegen oder was tun mit Wladimir Putin im Ukraine-Konflikt? Das ist jetzt unser Thema mit dem FDP-Politiker Alexander Graf Lambsdorff, Vizepräsident des Europäischen Parlaments. Guten Morgen!
Alexander Graf Lambsdorff: Guten Morgen, Herr Müller!
Müller: Graf Lambsdorff, ist es besser, in diesem Konflikt niemandem zu vertrauen?
Graf Lambsdorff: Ich glaube, die Europäer müssen einander vertrauen. Ich habe die Äußerungen von Präsident Komorowski gerade bei Ihnen auf dem Sender gehört. Die sind ja sehr deutlich. Aber es ist hier nicht der alte polnische Reflex, dass man gegenüber Russland skeptisch ist, sondern er wird ja von Berlin inzwischen gespiegelt. Wenn die Bundesregierung offiziell von einer militärischen Intervention Russlands in einem souveränen Nachbarstaat redet, dann haben wir tatsächlich ein Eingeständnis auch in Berlin, dass es sich hier um eine schwere Verletzung der europäischen Friedensordnung handelt. Das heißt, die Europäer können einander vertrauen, müssen einander vertrauen. Das brauchen wir auch, damit wir eine gemeinsame Antwort finden. Aber eines ist klar: Wladimir Putin, der russischen Regierung zu vertrauen, das wäre ganz sicher ein Fehler, denn dieses Vertrauen ist mehrfach schwer enttäuscht worden. Und insofern ist das, was heute hier in Brüssel besprochen wird, nämlich weitere Sanktionen, leider der einzige Weg.
"Putin hat ganz offenkundig in dieser Angelegenheit gelogen"
Müller: Also für Sie steht das auch außer Zweifel - Wladimir Putin spielt mit falschen Karten, mit gezinkten Karten und lässt seine Streitkräfte dort vor Ort operieren?
Graf Lambsdorff: Nun, er bestreitet ja seit Wochen, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen russischem Regierungshandeln auf der einen Seite und dem, was die sogenannten Separatisten in der Ostukraine tun, auf der anderen Seite. Das war ja immer im Grunde ein Widerspruch zu allem, was wir dort sahen. Das war ein Widerspruch zu den Satellitenbildern, die jetzt auch von der NATO veröffentlicht worden sind, ein Widerspruch zu dem, was Journalistenkollegen von Ihnen ja aus der Region berichtet haben. Mit anderen Worten: Er hat jetzt seit vielen Wochen und Monaten ganz offenkundig in dieser Angelegenheit gelogen. Hier noch blauäugig weiter zu vertrauen, wäre in meinen Augen ein ganz klarer Fehler.
Müller: Rebellen werden ja manchmal auch zu Freiheitskämpfern. Nehmen wir die russische Perspektive, die Kreml-Perspektive einmal ein. Ist es da in irgendeiner Form politisch nachvollziehbar, dass die Russen, dass der Kreml sagt, wir müssen die russischen Separatisten unterstützen, weil das ukrainische Militär mit aller Macht, mit allen Mitteln, äußerst brutal vorgeht?
Graf Lambsdorff: Es ist das Recht jedes souveränen Staates, die Unversehrtheit des eigenen Gebietes zu gewährleisten. Die ukrainische Armee handelt hier im Rahmen dessen, was eine normale Streitkraft tut, wenn ihr Territorium verletzt wird. Insofern ist das, glaube ich, hier völlig unstrittig. Was Russland hier getan hat ist zweierlei: Es hat zum einen die Regierung in Kiew nach den Demonstrationen des Maidan diskreditiert als eine faschistische Regierung. Das ist offenkundig unwahr. Die Menschen in Russland glauben das allerdings. Die Menschen in Russland sind durch die Propaganda der Medien der festen Überzeugung, es handele sich also bei Kiew um ein faschistisches Regime. Und das Zweite, was Moskau getan hat, es hat eine sogenannte russische Minderheit erfunden, die unterdrückt wird durch diese Kiewer Regierung. Diese sogenannte russische Minderheit, die es faktisch nicht gibt in der Ukraine, die muss nun gerettet werden, das ist die Lesart des Kreml. Auch das ist offenkundig unwahr. Ich war nun öfter in Kiew. Wenn Sie mit Ukrainerinnen und Ukrainern reden, das ist vollkommen klar - ob sie russisch oder ukrainisch reden, macht überhaupt keinen Unterschied, weder für den Zugang zu Staatsämtern noch für den Zugang zu irgendetwas anderem in der Ukraine. Also, mit anderen Worten, es gibt weder eine unterdrückte russische Minderheit noch ein sogenanntes faschistisches Regime in Kiew. Beides sind Erfindungen Moskaus.
"Was es hier an angeblicher russischer Minderheit gibt, ist eine Chimäre"
Müller: Aber da haben wir ja von unseren Reportern beispielsweise ja von der Krim oder auch aus dem Osten des Landes etwas anderes gehört. Dass sich viele Russen, jedenfalls im direkten Gespräch mit unseren Korrespondenten, schon auch unterdrückt fühlen, sich diskriminiert fühlen und sagen, dass es für uns keine Zugänge gibt in die normalen Jobs, in die Politik, in die Verwaltung. Ist das so eindeutig, wie Sie es jetzt gerade beschreiben? Also es gibt im Grunde keine russische Minderheit, die darunter zu leiden hat?
Graf Lambsdorff: Nein, ich glaube, das kann man so klar sagen. Diejenigen, die das behaupten, sind jedenfalls nicht diejenigen, die versuchen, in Kiew etwas zu erreichen. Der Zugang zu russischen Staatsämtern war nie ein Problem. Nehmen Sie mal den Bürgermeister von Kiew, Herrn Klitschko. Der spricht besser russisch als ukrainisch. Der ist im Grunde genau wie viele andere Ukrainer jemand, der sich in der russischen Sprache viel besser zurechtfindet als im Ukrainischen, genauso wie viele andere. Das heißt, was es hier an angeblicher russischer Minderheit gibt, ist eine Chimäre. Das eigentlich Beunruhigende daran ist aber, dass es natürlich Länder gibt, in denen es tatsächlich russische Minderheiten gibt. Ich denke an Estland, ich denke an Lettland, die natürlich mit großer Beunruhigung auf diese Moskauer Argumentation schauen, denn wenn diese Argumentation ihnen gegenüber angewandt wird, dann haben wir den Druck auf NATO-Staaten, auf EU-Mitgliedsstaaten. Das ist das Nächste, was wir dann zu bewältigen hätten. Und insofern ist größte Vorsicht angezeigt.
Müller: Das größte Problem ist ja, glaube ich, auch, beziehungsweise das Beunruhigende, dass es sehr, sehr schwer ist aus der westlichen Perspektive heraus, zu begreifen, was Wladimir Putin vorhat, was er will, wie er operiert. Sie haben nach wie vor auch sehr gute Kontakte nach Russland, sind häufig in Moskau gewesen. Kann es denn wirklich sein, das als Frage, vielleicht als naive Frage formuliert, dass Wladimir Putin im Stillen, ganz heimlich darüber nachdenkt, diesen östlichen Teil, ähnlich wie die Krim, herauszulösen, daraus eine autonome Republik, also militärisch den Konflikt lösen zu können?
Graf Lambsdorff: Man darf eines nicht vergessen: Für Wladimir Putin, und er hat das ja einmal öffentlich gesagt, ist der Zusammenbruch der Sowjetunion das, ich zitiere, "größte geopolitische Unglück des 20. Jahrhunderts". Diese Einstellung, die deckt sich voll und ganz mit dem, was er als junger Mann geschworen hat, nämlich, die Größe der Sowjetunion zu verteidigen. Für Wladimir Putin ist – und da hat Komorowski, der Präsident Polens, den wir gerade gehört haben hier bei Ihnen völlig recht –, die russische Reichsidee nach wie vor sehr lebendig. Das mag unseren Hörerinnen und Hörer jetzt sehr altmodisch oder gestrig erscheinen, aber die Reichsidee Russlands, also mit anderen Worten, dass alle russischsprachigen Gebiete, die ostslawischen Gebiete unter Moskauer Herrschaft sein sollten, ist eine Idee, die dem jungen Wladimir Putin als KGB-Offizier eingeimpft worden ist, darauf hat er seinen Eid geschworen. Und ich glaube, er ist dabei, das wieder zu errichten. Es gibt ein russisches Sprichwort, das sagen die Russen selber: Es gibt keinen ehemaligen KBG-Offizier. Mit anderen Worten, auch der Präsident Putin wird noch motiviert von den Idealen des damaligen KGB. Die Wiedererrichtung des russischen Reiches, die ist, glaube ich, sein tatsächliches Motiv. Und das heißt, auf Ihre Frage zu antworten, ja, das ist durchaus denkbar.
"Zwei Prozesse, die ineinandergreifen"
Müller: Also das Imperium lebt?
Graf Lambsdorff: Das Imperium lebt jedenfalls ganz sicher im Hirn und im Herz von Wladimir Putin und den Menschen, den Männern und Frauen, mit denen er zusammenarbeitet in Moskau - das ist ja ein sehr kleiner Kreis, die diese Entscheidungen treffen. Hier geht es um die Wiedererrichtung eines russischen Imperiums. Parallel zur Ukrainekrise, das vergessen wir gerne, läuft ja die sogenannte "Eurasische Union", die Errichtung der Eurasischen Union. Das ist die Vorstellung tatsächlich, dass man der Europäischen Union, der liberalen, freiheitlichen, demokratischen, rechtsstaatlichen Europäischen Union, ein spezifisch osteuropäisches, eurasisches Konzept, Konstrukt entgegensetzt. Und hier sehen wir also zwei Prozesse, die ineinandergreifen.
"Das ist kein Staatsstreich gewesen"
Müller: Graf Lambsdorff, ich muss ein bisschen auf die Uhr schauen. Mir ist eben ein Gedanke gekommen, als sie gesagt haben, also für Sie ist die Sache auch in diesen Facetten – gut, wir können jetzt nicht 40 Minuten darüber reden, aber grundsätzlich doch eindeutig. Wir haben vor ein paar Wochen, erinnere ich mich, ein Gespräch, ein Interview mit Günter Verheugen geführt, SPD-Erweiterungskommissar, Industriekommissar früher bei der Europäischen Kommission, der bei der Genese des Konflikts hier im Deutschlandfunk noch einmal ganz, ganz klar gesagt hat, das war ein Staatsstreich, was da passiert ist in Kiew. Ist das für Sie, mit ein paar Wochen, Monaten Abstand, was auf dem Maidan passiert ist, jetzt auch unter einem anderen Licht zu sehen, oder auch ganz klar demokratische Revolution, alles in Ordnung?
Graf Lambsdorff: Nein, also das ist kein Staatsstreich gewesen. Es war eine in meinen Augen falsche Lesart, das so zu sehen. Das Ganze lag ja daran, dass der Präsident Janukowitsch das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union unterschreiben wollte – wohlgemerkt, Janukowitsch wollte unterschreiben –, und dann von Moskau derartig massiv unter Druck gesetzt worden ist, dass er seine Unterschrift verweigert hat. Daraufhin sind die Demonstrationen auf dem Maidan losgegangen, weil hier ein elementares Element der europäischen Friedensordnung verletzt worden ist seitens Russlands, nämlich die freie Bündniswahl: Ich kann Verträge schließen, mit wem ich möchte.
Müller: Aber der Präsident war frei gewählt, der kann frei entscheiden.
Graf Lambsdorff: Natürlich. Aber er muss dann die politischen Konsequenzen tragen. Und es ist genauso wie in Deutschland, die Ukraine ist in der Hinsicht ja besser als Russland. Wenn ein Präsident eine Entscheidung trifft, die in der Bevölkerung keine Mehrheit findet, dann gibt es Demonstrationen. Die gab es auf dem Maidan, und Petro Poroschenko ist ja auch demokratisch gewählt. Das Ende der alten ukrainischen Regierung ist vom Parlament beschlossen worden. Also von einem Staatsstreich hier zu reden, das halte ich für verfehlt.
Müller: Bei uns heute Morgen, live im Deutschlandfunk, der FDP-Politiker Alexander Graf Lambsdorff, Vizepräsident des Europäischen Parlaments. Vielen Dank für das Gespräch. Ihnen noch ein schönes Wochenende!
Graf Lambsdorff: Danke, Ihnen auch. Tschüs!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.