Archiv

EU-Gipfel
"Weniger Drohgebärden, sondern Vertrauen schaffen"

Das Vertrauen zwischen den EU-Mitgliedsstaaten sei in den letzten zwei Jahren massiv abhandengekommen, sagte die Fraktionsvorsitzende der Linken im Europaparlament, Gabi Zimmer, im DLF. Jetzt gelte es, das "tiefe Misstrauen" und die Spaltung innerhalb der EU zu überwinden: "Ansonsten werden überhaupt keine Maßnahmen helfen", so Zimmer.

Gabi Zimmer im Gespräch mit Oliver Ramme |
    Fallback Image
    "Wenn es uns nicht gelingt, das Misstrauen innerhalb der EU wieder zu überwinden, dann wird es praktisch auch in dieser Flüchtlingsfrage zu keinen weiteren Ergebnissen kommen", sagte die Linken-Politikerin Gabi Zimmer im Deutschlandfunk. (Deutschlandradio)
    Oliver Ramme: Der EU-Gipfel tagt in Brüssel. Reizthema Nummer eins die Flüchtlinge, Reizthema Nummer zwei der mögliche Austritt Englands aus der Europäischen Union. Wir möchten die angespannte Lage der EU mit einem Gespräch weiter ergründen. Am Telefon begrüße ich jetzt Gabi Zimmer. Sie ist die Fraktionsvorsitzende der Linken im Europaparlament. Guten Abend, Frau Zimmer.
    Gabi Zimmer: Guten Abend, Herr Ramme.
    Ramme: Man soll das Jahr ja nicht vor dem Ende loben oder kritisieren. Trotzdem: Wie fällt denn Ihre EU-Bilanz 2015 aus? So schlimm wie die von Parlamentspräsident Schulz?
    Zimmer: Ja, bloß mit dem Unterschied, dass sich diese Entwicklungen eigentlich schon über einen längeren Zeitraum angedeutet haben, und sie beziehen sich nicht nur auf die Flüchtlingskrise, sondern auch auf die Art und Weise des Umgangs insbesondere mit den verschuldeten Staaten in der Europäischen Union, das Agieren der Eurogruppe, die sich ja praktisch als die Regierung der Europäischen Union in diesem Jahr herausgestellt hat.
    Frontex-Ausbau: "Kein gutes Signal für eine gemeinsame Basis"
    Ramme: Bleiben wir beim Thema Flüchtlinge vielleicht. Das ist ja nun auch das Hauptthema heute in Brüssel und auch morgen. Welche Richtung soll denn von diesem Gipfel Ihrer Ansicht nach ausgehen? Was kann Brüssel auf den Weg bringen, um mehr Harmonie zu schaffen beim Thema Flüchtlinge?
    Zimmer: Ich denke, beim Gipfel wären alle gut beraten, weniger mit Drohgebärden zu arbeiten, sondern zu versuchen, wieder Vertrauen zu schaffen. Denn das ist in den letzten Monaten und in den letzten zwei Jahren massiv abhandengekommen zwischen den einzelnen Staaten. Und insbesondere auch die Vorstellung, man könne beispielsweise Frontex umfunktionieren in einen EU-Außengrenzschutz, der auch bei Nichteinverständnis der betroffenen Mitgliedsstaaten dann eingreifen könne, schafft viel Verwirrung, und ich glaube, das war kein gutes Signal, um tatsächlich eine Basis zu finden, miteinander zu arbeiten.
    Ich halte es auch für falsch - und Sie haben Herrn Faymann gebracht, den österreichischen Staatschef, der vor dem Gipfel noch mal klar gesagt hat, man muss die Staaten, die sich nicht beteiligen wollen an der Aufnahme von Flüchtlingen, bestrafen. Ich denke, wenn man Drohkulissen aufbaut, dann müssen sie auch einen gewissen Realitätssinn haben, aber genau das ist ja nicht der Fall und das wissen die Mitgliedsstaaten auch genau.
    Ramme: Die Länder können ja nicht zustimmen oder werden wahrscheinlich nicht zustimmen, dass sie selber finanziell beschnitten werden.
    Zimmer: Ja, ganz genau. Und der Haushalt ist auch bis 2020 festgezurrt. Es kann überhaupt keine Veränderung in den Strukturfonds beispielsweise geben vor 2020.
    "Tiefes Misstrauen in der EU hinsichtlich fast aller Konflikte"
    Ramme: Sie plädieren ja für Freiwilligkeit, höre ich heraus. Aber die Freiwilligkeit, die wirkt gar nicht.
    Zimmer: Ja! Ich denke, es muss um andere Maßnahmen gehen, mit denen man sich gegenseitig unterstützt, und vor allem vielleicht auch eine andere Bewertungsgrundlage beispielsweise für die Quoten. Warum ist denn der Vorschlag der griechischen Regierung abgelehnt worden zu sagen, die Aufnahme von Flüchtlingen sollte nach Wirtschaftskraft und Bevölkerungszahl erfolgen und wäre dann wirklich eine Hilfe, sodass die Länder nicht das Gefühl haben, die einen müssen viele aufnehmen, die anderen weniger und dass hier auch Ungerechtigkeit im Umgang miteinander herrschen würde.
    Das mag zwar eine gefühlte Ungerechtigkeit sein, aber sie ist einfach da. Und nach wie vor in der Union - und das ist das Grundproblem, vor dem wir stehen - ist hinsichtlich fast aller Konflikte, die wir haben, ein tiefes Misstrauen zwischen den Staaten inzwischen entstanden, und wenn es uns nicht gelingt, das wieder zu überwinden und deutlich zu machen, dass wir miteinander vorangehen wollen, miteinander die Europäische Union entwickeln wollen, ich glaube, dann wird es praktisch auch in dieser Flüchtlingsfrage zu keinen weiteren Ergebnissen kommen. Das wäre zu bedauern.
    "Die Spaltung existiert ja schon"
    Ramme: Wenn wir das nicht täten, sehen Sie eine mögliche Spaltung der EU? Wir hatten ja vor dem Gipfel heute ein Treffen der Willigen. Elf Länder haben sich getroffen, die bereit sind, Flüchtlinge aufzunehmen. Sehen wir damit schon gewisse Auflösungserscheinungen?
    Zimmer: Wir haben ja schon gewisse Spaltungen. Wir haben die Spaltung zwischen der Eurozone und der Nicht-Eurozone, zwischen den Schuldenstaaten und denjenigen, die Maßnahmen vorgeben, wir haben diejenigen, die bereit sind, Flüchtlinge aufzunehmen, und die, die keine aufnehmen wollen. Die Spaltung existiert ja schon und es muss jetzt darum gehen, die zu überwinden. Das ist die große Frage.
    Warum wird beispielsweise nicht darüber diskutiert, wie man den am meisten belasteten Staaten, nämlich Italien und Griechenland, viel stärker helfen kann?
    Es ist versprochen worden, 160.000 Menschen aufzunehmen, freiwillig aufzunehmen. Sie haben die Zahlen vorhin selber genannt: 184 sind bisher von den Staaten aufgenommen worden und die größten Lasten hat zum Beispiel Griechenland zu tragen. Was ist mit den versprochenen 1.600 Beamten, die zum Beispiel für die Hotspots in Griechenland mit zur Verfügung gestellt werden sollten seitens der EU?
    "Legale Wege in die EU schaffen"
    Ramme: Die Probleme sind ja bekannt, aber sie werden ja nicht umgesetzt beziehungsweise die lösen sich ja nicht auf. Sie plädieren für Freiwilligkeit, aber auch das wurde probiert und das Ganze landet bisher im Nirwana. Wo genau konkret kann man eingreifen, damit ein solidarisches Verhalten beim Thema Flüchtlinge geschehen wird?
    Zimmer: Ich denke, zuerst muss es wirklich darum gehen, klar und deutlich zu sagen, wir wollen, dass legale Wege in die EU geschaffen werden. Wir müssen dort weitermachen, an den Erkenntnissen weiterarbeiten, die selbst von der Bundeskanzlerin ja schon eingeräumt worden sind, dass zum Beispiel Dublin überhaupt nicht funktioniert.
    Und anstatt darüber zu spekulieren, dass diejenigen, die sich nicht beteiligen wollen an der Schließung der Außengrenzen, dass man die aus dem Schengen-Raum rausnimmt, sollte man wirklich jetzt konkrete Schritte unternehmen, um beispielsweise Dublin endlich aufzukündigen und eine generelle Neuregelung, Neuverhandlung auch vorzunehmen. Darin liegt doch die Krux.
    Wenn sich Staaten wie Deutschland über viele Jahre bisher aus der Aufnahme von Flüchtlingen herausziehen konnten, dann hat sich eine Stimmung aufgebaut, die jetzt, wenn Deutschland eine Million Flüchtlinge in diesem Jahr praktisch genommen hat, dazu führt, dass man sagt, was soll das Ganze? Deutschland hat die ganze Zeit daneben gestanden, zugeguckt, was passiert, jetzt ruft Deutschland um Hilfe, warum sollen wir jetzt agieren? Das ist das, was ich immer wieder meine: Es geht um das Vertrauen. Das brauchen wir. Ansonsten werden überhaupt keine Maßnahmen helfen.
    "Jeder Staat muss seinen Verpflichtungen nachkommen"
    Ramme: Zum Schluss, Frau Zimmer. Ich hätte gern noch gewusst: Sie sind ja die Vorsitzende der Fraktion der Vereinten Europäischen Linken. Sie haben auch Abgeordnete aus Ländern, die nicht gerade gastgeberfreundlich sind, was Flüchtlinge betrifft, wie zum Beispiel Tschechien. Wie kontrovers wird denn in Ihrer Fraktion das Thema diskutiert?
    Zimmer: Wir haben das sehr heftig diskutiert. Wir haben das sehr heftig diskutiert, weil ja diese Einstellung, so wenig wie möglich nehmen zu müssen, oder dann vielleicht sogar mit diesen Auswüchsen, wir wollen nur christliche Flüchtlinge nehmen, weil die ja offensichtlich durch viele Parteien auch in Ländern wie der Tschechischen Republik durchgeht, oder in Polen oder fast in ganz Osteuropa. Wir sind generell der Meinung - und das hat die Diskussion auch gebracht -, dass wir für diese legalen Wege sind, dafür, dass wirklich den Flüchtlingen geholfen wird, dass jeder Staat seinen Verpflichtungen nachkommt.
    Ramme: Das heißt, die Spanier, Portugiesen und Tschechen in Ihrer Fraktion sind jetzt gewillt, Flüchtlinge aufzunehmen? Sie sind zwar nicht in der Mehrheit in ihrem Land, aber sie würden es tun?
    Zimmer: Ja!
    Ramme: Okay. - Die Fraktionsvorsitzende der Linken im Europaparlament war das, Gabi Zimmer. Ich bedanke mich für das Gespräch und Ihnen noch einen schönen Abend.
    Zimmer: Ich bedanke mich auch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.