Paolo Gentiloni ist kein Mann, der zur Hysterie neigt. Darum wog sein Hilferuf, im Vorfeld des G20-Gipfels, besonders schwer. Italien stehe unter Druck, so der Regierungschef, und benötige konkrete Unterstützung von seinen europäischen Bündnispartnern.
Was Premier Gentiloni Sorgen macht, ist die stetige Zunahme von Bootsflüchtlingen, die von Libyen aus übers Mittelmeer nach Italien gelangen. Während sich die Ankunftszahlen auf den griechischen Inseln, entlang der sogenannten Ägäis-Route, seit dem EU-Türkei-Abkommen bei etwa 50 pro Tag eingependelt haben, werden es an der italienischen Küste seit Jahresbeginn beinah täglich mehr. Die Vereinten Nationen schätzen ihre Zahl seit Januar auf fast 85.000. Derzeit kämen rund 12.000 pro Woche. Laut UNHCR hat sich damit schon ein Fünftel mehr Menschen aus Nordafrika nach Europa auf den Weg gemacht als im gleichen Zeitraum 2016.
Man werde Italien helfen, beteuern EU-Spitzenpolitiker wie Kanzlerin Merkel, für die das Thema wegen des Wahlkampfs besondere Sprengkraft besitzt. Bilder von kenternden Schlauchbooten, überfüllten Camps und kilometerlangen Flüchtlingstrecks, wie im Krisensommer 2015, möchte die Unions-Chefin aus nachvollziehbaren Gründen vermeiden. Ebenso wie den Eindruck, die EU reagiere wieder mal zu spät auf eine humanitäre Notlage.
Auf Anregung Deutschlands und Frankreichs hatten sich die Innenminister aus Berlin, Paris und Rom schon vor Tagen getroffen, um sich über die drängendsten Fragen auszutauschen. Dabei vereinbarte man einen Sechs-Punkte-Plan, der unter anderem einen "Verhaltenskodex" für private Hilfsorganisationen vorsieht. Deren Rettungsaktivitäten im Mittelmeer will man auf Wunsch Italiens strenger regulieren, weil sie angeblich einen "Sogeffekt" auf Flüchtlinge hätten.
Beim informellen Ministerrat in Tallinn soll die Debatte nun vertieft werden. Dimitris Avramopoulos, der für Migration zuständige EU-Kommissar, fordert mehr gemeinsames Engagement und kann sich durch die jüngste Entwicklung bestätigt fühlen. Seit über zwei Jahren kämpfen er und Kommissionspräsident Juncker mit eher mäßigem Erfolg für eine umfassende, vor allem aber solidarische Antwort Europas auf das Flüchtlingsproblem. Kernelemente: Ein halbwegs einheitliches Asylsystem durch eine Reform der veralteten Dublin-Regeln sowie die faire Verteilung von Schutzbedürftigen aus Italien und Griechenland.
Eine andere Lage als vor zwei Jahren
Dass man trotz aller Differenzen eine Krise heute besser managen könne als noch vor zweieinhalb Jahren, wie der Innenkommissar aus Griechenland tapfer behauptet, werden selbst EU-Kritiker nicht bestreiten. Immerhin hat man es inzwischen geschafft, die Grenz-schutzagentur FRONTEX personell, materiell und kompetenzmäßig aufzuwerten und die Registrierung von Flüchtlingen in geordnete Bahnen zu lenken. Auch der EU-Türkei-Deal und die weitgehende Schließung der Balkanroute haben den Druck reduziert.
Bei der Angleichung der Asylstandards und der Umverteilung von Flüchtlingen nach Quote hinkt man den eigenen Beschlüssen dagegen weiter hinterher. Knapp drei Monate vor Ablauf der Frist haben von 160.000 Personen erst etwa 21.000 eine neue Bleibe gefunden. Die gebetsmühlenhaft wiederholte Mahnung, die Aufnahme sei für alle verbindlich, hat am Widerstand der Osteuropäer und Österreichs bisher genauso wenig geändert wie die Vertragsverletzungsverfahren, die Mitte Juni gegen Ungarn, Polen und Tschechien eingeleitet wurden.
Der Bundesinnenminister betont, er mache sich keine Illusionen. Unter der Ratspräsidentschaft Maltas hatte Thomas de Maizière noch ein mehrstufiges Kompromissmodell präsentiert, das es den sogenannten Visegrad-Staaten erlaubt hätte, sich von künftigen Verpflichtungen weitgehend freizukaufen. Doch selbst dieser Vorschlag brachte nicht den erhofften Durchbruch. Dass dieses Wunder nun, unter dem Vorsitz Estlands, bis Jahresende gelingt, scheint ziemlich unwahrscheinlich.
Die EU-Innenminister wollten sich auf das politisch Machbare konzentrieren, wie es heißt. Deshalb lege man den Akzent auf weniger umstrittene Teile der Reform. Zum Beispiel auf die konsequentere Rückführung von nicht-asylberechtigten Personen, auf Kooperations-Abkommen mit wichtigen Herkunfts- und Transitländern, wie Libyen, und auf noch mehr Grenzkontrolle, auch im technischen Bereich. Voran-kommen will man schließlich bei der Vernetzung relevanter Daten-banken, wie dem elektronischen Fingerabdruckregister EURODAC, oder beim Umbau des Europäischen Unterstützungsbüros EASO in eine vollwertige Asylagentur.