Nach Medienberichten über die Verwicklung von Frontex in das illegale Zurückweisen von Migranten durch die griechische Küstenwache erhöht die Europäische Kommission den Druck auf die EU-Grenzschutzagentur. "Wenn sich Frontex tatsächlich an Push-back-Aktionen von Flüchtlingen beteiligt, ist das vollkommen inakzeptabel", sagte EU-Innenkommissarin Ylva Johansson im Deutschlandfunk.
Sie habe den Direktor der Agentur gebeten, diese Fälle, über die gerade gesprochen wird, zu recherchieren. "Wenn dabei herauskommt, dass es solche Push-backs mit der Beteiligung von Frontex gegeben hat, ist das absolut inakzeptabel. Das sollte niemals passieren", sagte Johansson. Der Direktor von Frontex müsse da die volle Verantwortung übernehmen, in diesen Fällen ermitteln und eine Antwort dazu präsentieren, was wirklich passiert sei.
"Laut internationalem Recht ist man verpflichtet, Personen, die in Seenot geraten sind, zu helfen, sie zu retten – und das ist die einzig menschliche Reaktion, die es darauf gibt", betonte die EU-Innenkommissarin im Dlf-Interview. "Menschen haben das Recht, einen Antrag auf Asyl zu stellen."
Kommissarin plädiert für nüchterne Debatte
Zur Debatte um ihre Reformvorschläge für eine gemeinsame EU-Asylpolitik sagte Johansson: "Ich denke, es ist wichtig, die Debatte um die Migrationspolitik zu entdramatisieren, pragmatischer und nüchterner zu agieren, sich hinzusetzen und wirklich den Details zu widmen und Kompromisse zu finden, mit denen man auch arbeiten kann."
Ihr Reformplan widme sich den Aspekten der Migration, die zurzeit noch nicht gut genug geregelt seien. Der Umgang mit der irregulären Einwanderung sei nicht optimal, bei den Abschiebungen laufe es auch nicht gut, und bei der Solidarität zwischen den einzelnen Mitgliedsstaaten gebe es ebenfalls Probleme.
Das vollständige Interview (in deutscher Übersetzung):
Tobias Armbrüster: Die Europäische Grenzschutzagentur Frontex ist zurzeit in den Schlagzeilen, weil sie beteiligt gewesen sein soll an illegalen push-Backs in der Agaeis – das heisst anstatt Flüchtlinge zu retten, waren die EU-Beamten dabei, als Flüchtlinge von der Küste zurückgedrängt wurden - was sagen Sie dazu?
Ylva Johansson: Wenn sich Frontex tatsächlich an Push-back-Aktionen von Flüchtlingen beteiligt, ist das vollkommen inakzeptabel. Nachdem ich davon gehört hatte, rief ich als erstes den Direktor der Agentur an, befragte ihn dazu und bat ihn, diese Fälle, über die gerade gesprochen wird, zu recherchieren. Wenn dabei herauskommt, dass es solche Push-backs mit der Beteiligung von Frontex gegeben hat, ist das absolut inakzeptabel. Dass sollte niemals passieren.
Armbrüster: Es ist aber offenbar alles auf Video festgehalten.
Johansson: Der Direktor von Frontex muss da die volle Verantwortung übernehmen, in diesen Fällen ermitteln und eine Antwort dazu präsentieren, was wirklich passiert ist.
Armbrüster: Das heisst, Sie wollen erst das Ende der Untersuchungen abwarten?
Johansson: Ich hätte es gerne, dass Frontex auf die Frage antwortet, ob sie sich an solchen Push-back-Aktionen beteiligt haben, die natürlich niemals stattfinden dürften. Darum haben wir dieses System von Menschenrechtsbeauftragten bei Frontex entwickelt, und auch das Management beauftragt, dieses Thema auf die Agenda seines nächsten Meetings zu setzen.
Armbrüster: Was genau soll ein Frontex-Beamter eigentlich tun, wenn er einen Flüchtling in Seenot sieht, soll er ihn retten oder soll er daneben stehen, den Fall dokumentieren und einen Bericht schreiben?
Johansson: Laut internationalem Recht ist man verpflichtet, Personen, die in Seenot geraten sind, zu helfen, sie zu retten – und das ist die einzig menschliche Reaktion, die es darauf gibt.
"Unterbinden, dass Flüchtlinge auf See zurückgeschickt werden"
Armbrüster: Aber ist das nicht genau das Bild von Frontex das die EU gerne rüberbringen will – dass man es hier mit einer robusten Grenz-Polizei zu tun hat, einer Truppe, die niemand unterschätzen sollte und die alles tut, um Flüchtlinge draussen zu halten?
Johansson: Nein, wir sollten nicht alles tun, um Flüchtlinge von Europa fern zu halten. Menschen haben das Recht, einen Antrag auf Asyl zu stellen. Wir haben unsere Verträge, wir haben unsere internationalen Verpflichtungen und wir haben unser Wertesystem, um das Recht auf Asyl zu verteidigen. Und das bedeutet, dass wir es unterbinden müssen, dass Flüchtlinge auf See zurückgeschickt werden. Deshalb habe ich das auch in meinen neuen Vorschlag aufgenommen, den ich letzte Woche präsentiert habe, nämlich, dass wir neue Gesetze brauchen, die solche Push-backs gezielt verhindern. Diese Berichte bereiten mir große Sorge und sie entsprechen absolut nicht unseren Wertmaßstäben und Verträgen.
Armbrüster: Wenn jetzt bestätigt wird, dass diese Push-Backs im Meer tatsächlich stattgefunden haben, und zwar unter den Augen von Frontex – was wären die Konsequenzen?
Johansson: Lassen Sie uns darüber sprechen, wenn wir wissen, was wirklich passiert ist, wenn wir die Antwort des Frontex-Direktors haben.
Armbrüster: Frau Johansson, die EU-Kommission hat vor einigen Wochen ihre Pläne für ein neues Einwanderungs-und Asyl-Recht vorgelegt – die Pläne sind nicht gerade auf ein freudiges Echo gestossen – wieviel Werbung müssen Sie zur Zeit in den EU-Hauptstädten machen?
Johansson: Ich habe sehr viele Gespräche mit den verschiedenen Ländern, dem Parlament und Interessensgruppen geführt, bevor ich meinen Reformvorschlag präsentiert habe. Ich wusste von Anfang an, dass mein Vorschlag nicht jeden Einzelnen zufrieden stellen würde. Aber ich denke, ich habe einen guten Ausgangspunkt für Verhandlungen geschaffen, der eine konstruktive Herangehensweise aller Mitgliedsstaaten und des Parlamentes ermöglicht, sich hinzusetzen und auf Grundlage dieses Vorschlags anzufangen zu arbeiten und zu verhandeln. So sollten wir mit dem Thema der Migration umgehen. Ich denke, es ist wichtig, die Debatte um die Migrationspolitik zu entdramatisieren, pragmatischer und nüchterner zu agieren, sich hinzusetzen und wirklich den Details zu widmen und Kompromisse zu finden, mit denen man auch arbeiten kann.
Armbrüster: Wie genau wollen Sie das Drama aus den Verhandlungen nehmen, wenn Sie es mit Ländern wie Polen oder Ungarn zu tun haben, die ganz klar sagen, wir wollen keine Flüchtlinge aufnehmen, keinen einzigen.
Johansson: Ich denke, dass viele dieser Länder, die eine negative Haltung zur Migration haben, mit meinem Vorschlag durchaus konstruktiv umgehen, dass sie bereit sind, sich die Zeit zu nehmen und daran zu arbeiten. Für viele Migranten ist die Situation dramatisch, und natürlich ist es sehr menschlich, da emotional zu reagieren, wenn man Menschen in Not sieht, oder wie sie aufs Meer zurückgedrängt werden, oder unter inakzeptablen Bedingungen leben müssen, wie im inzwischen niedergebrannten Camp von Moria. Aber ich glaube, wenn sich Politiker an einen Tisch setzen, ist es wichtig, dass sie nicht zu emotional agieren, sondern dass sie pragmatisch vorgehen, die Details betrachten und Kompromisse finden. Und ich glaube mit meinem Plan ist es möglich, das so zu machen.
Armbrüster: Das würde heißen, mehr Menschen werden abgeschoben…
Johansson: Mein Reformplan widmet sich den Aspekten der Migration, die wir zurzeit noch nicht gut genug geregelt bekommen. Viele Dinge haben wir durchaus sehr gut im Griff. Letztes Jahr kamen drei Millionen Migranten auf legalem Weg in die EU und haben eine Aufenthaltserlaubnis erhalten, 700.000 Personen sind vergangenes Jahr EU-Bürger geworden. Aber unser Umgang mit der irregulären Einwanderung ist nicht optimal, bei den Abschiebungen läuft es auch nicht gut, und bei der Solidarität zwischen den einzelnen Mitgliedsstaaten gibt es ebenfalls Probleme. Darum geht es mir. Was die irregulären Migranten betrifft, sind diese mehrheitlich keine Flüchtlinge. Mir ist es wichtig, diesen Unterschied klar hervorzuheben, zwischen denjenigen, die Anspruch auf Aufnahme haben, die wir in unserer Gesellschaft herzlich willkommen heißen sollten, und denjenigen, die dafür nicht in Frage kommen, die in ihre Herkunftsländer zurückgehen müssen.
Armbrüster: Und das würde heissen, wir in Europa müssen uns daran gewöhnen, dass die Zahl der Abschiebungen deutlich steigt…
Johansson: Ich denke, die freiwillige Rückkehr ist hier das Beste. Und es ist einfacher, eine freiwillige Rückkehr erfolgreich umzusetzen, wenn wir schnelle Prozesse haben und Menschen nicht über Jahre im Ungewissen lassen, in Mitgliedsstaaten der EU, wo sie dann über die Zeit Beziehungen aufbauen und es danach schwerer wird, zurückzukehren.
Finanzielle Zahlungen sollen keine Option sein
Armbrüster: Mit den freiwilligen Rückreisen hat man es in Deutschland lange probiert, es war kein großer Erfolg. Warum sind Sie so optimistisch?
Johansson: Lassen Sie es mich so ausdrücken: Es gibt noch einige Möglichkeiten für Verbesserungen, einmal dabei, wie Mitgliedsstaaten intern diese Prozesse und Entscheidungsfindungen zur Rückschickung betreiben und wie die jeweiligen Autoritäten mit den betroffenen Drittländern zusammenarbeiten. Aber es gibt ebenfalls noch Verbesserungsmöglichkeiten bei der Europäischen Union als ganzer, der Kommission und den Mitgliedsstaaten, was das gemeinsame Finden von Vereinbarungen mit Drittländern zur Rückführung betrifft. Ich bin überzeugt, dass wir in diesen beiden Bereichen noch Fortschritte machen können.
Armbrüster: Das Asyl-System, das Sie da planen würde ja eine weitere Ungleichheit schaffen – auf der einen Seite Länder, die Hunderttausende von Flüchtlingen aufnehmen, auf der anderen Seite Länder, die sich davon frei kaufen – ist das wirklich das geeinte Europa, das Ihnen vorschwebt?
Johansson: Nein, und ich bin hier mit Ihrer Beschreibung nicht einverstanden. Jetzt, heutzutage, haben wir dieses ungleiche System, diese unausgewogene Aufteilung von Verantwortung, besonders was die Länder des EU-Ersteintritts betrifft, aber auch einige andere Länder wie Deutschland, Schweden, die Niederlande oder Belgien, die eine hohe Zahl an Migration und Asylanträgen verzeichnen, während andere keinerlei solidarische Maßnahmen ergreifen. Meinem Plan zufolge sind finanzielle Zahlungen keine Option. Man muss immer helfen, wenn ein Land aufgrund zu vieler Migranten unter Druck gerät, wie Malta zum Beispiel – eine kleine Insel mit sehr vielen Migranten, von denen die Mehrheit keine Flüchtlinge sind, und denen eine Ausweisung bevorsteht, bei denen ist es die falsche Antwort, diese in ein anderes Land umzuverteilen. Um Malta zu helfen, muss man diejenigen innerhalb der EU verteilen, die aller Wahrscheinlichkeit nach Anspruch auf internationalen Schutz haben, und dann dabei helfen, die Verantwortung zu übernehmen, diejenigen zurückzuschicken, die nicht schutzbedürftig sind.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.