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EU-Kommissar Didier Reynders zu Rechtsstaatlichkeit
"Manche Staaten haben strukturelle Probleme"

Die EU-Kommission sieht in ihrem Bericht zur Rechtsstaatlichkeit besonders in Polen und Ungarn strukturelle Probleme. Der EU-Kommissar für Justiz, Didier Reynders, sagte im Dlf: "Das wichtigste Ziel des Berichts ist es, eine permanente Debatte über Rechtsstaatlichkeit auf der europäischen Ebene in Gang zu setzen."

Didier Reynders im Gespräch mit Katharina Peetz |
Didier Reynders während einer Rede in Brüssel
Der EU-Justiz-Kommissar Didier Reynders stellt den ersten Rechtsstaatsbericht der Kommission in nationalen Parlamenten vor. (AA / Dursun Aydemir)
Vor rund einem Monat hat die EU-Kommission ihren ersten Bericht zur Lage der Rechtsstaatlichkeit in den 27 Mitgliedstaaten vorgelegt. Untersucht wurden vier Bereiche: Die Unabhängigkeit der nationalen Justizsysteme, Rahmen für die Korruptionsbekämpfung, Medienpluralismus und sonstige institutionelle Aspekte im Zusammenhang mit Gewaltenteilung. Die Kommission sieht Defizite vor allem in Osteuropa, besonders in Polen und Ungarn.
"Der Bericht zeigt, dass manche Staaten eben ein strukturelles Problem haben. Das sehen wir zum Beispiel in Polen, wo Monat für Monat Entscheidungen getroffen werden, die die Unabhängigkeit der Justiz gefährden", sagte Didier Reynders im Dlf. Auch Deutschland wurde in dem Bericht kritisiert - zum Beispiel verweist die Kommission auf die laufende Diskussion darüber, ob Justizminister gegenüber Staatsanwälten weisungsbefugt sein sollten.
Katharina Peetz: Ein anderer Kritikpunkt betraf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Mai, wonach Anleihekäufe der Europäischen Zentralbank zum Teil verfassungswidrig sind. Das Bundesverfassungsgericht hat sich dabei über europäisches Recht hinweggesetzt und gefordert, dass die Europäische Zentralbank bessere Begründungen für die Anleihekäufe liefern müsse. Wird die Europäische Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland wegen dieser Entscheidung einleiten?
Didier Reynders: Wir werden sehen, ob es nötig ist, ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland einzuleiten, nachdem der juristische Dienst dazu seine Einschätzung abgegeben hat. Was wir nach der Entscheidung des Karlsruher Bundesverfassungsgerichts sehr klar gesagt haben, ist, dass wir den Vorrang des europäischen Rechts und die exklusive Kompetenz des EuGH das EU-Recht zu interpretieren, stark verteidigen müssen. Das hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen so gesagt und natürlich müssen wir das auch in allen EU-Mitgliedstaaten durchsetzen. Jetzt schauen wir aber erst einmal, was die juristischen Optionen sind, welche Argumente für ein Vertragsverletzungsverfahren sprechen. Aber dieses Verfahren ist für alle Mitgliedstaaten gleich. Das ist ja auch das Hauptziel des Rechtsstaatsberichts, den wir Ende September veröffentlicht haben: Er soll zeigen, dass wir uns den Zustand des Rechtsstaats in allen 27 Mitgliedsstaaten anschauen. In manchen Ländern gibt es strukturelle Probleme wie Ungarn und Polen, in anderen, wie Deutschland, eher punktuelle.
Peetz: Sie sprechen Polen und Ungarn an – die Kommission scheint besonders besorgt über den Zustand der Rechtsstaatlichkeit in diesen beiden Ländern zu sein. Die Unabhängigkeit der Gerichte, die Pressefreiheit, die Gewaltenteilung – das sind einige der Kritikpunkte in dem Bericht der Kommission. Könnte dieser Bericht über alle 27 Staaten nicht auch einen gegenteiligen Effekt haben – schließlich können Polen und Ungarn jetzt darauf verweisen, dass es auch in anderen Ländern Probleme mit der Rechtsstaatlichkeit gibt?
Reynders: Ja, aber dieser Bericht hat gezeigt, dass manche Staaten eben ein strukturelles Problem haben. Das sehen wir zum Beispiel in Polen, wo Monat für Monat Entscheidungen getroffen werden, die die Unabhängigkeit der Justiz gefährden. Das ist der Grund, warum wir Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen eingeleitet haben – auf der einen Seite wegen verschiedener polnischer Gesetze, aber auch gegen sehr spezifische Einzelentscheidungen, wie Disziplinarmaßnahmen gegen Richter. Deswegen haben wir den EuGH gebeten, Maßnahmen dagegen zu ergreifen.
"Ziel des Berichts ist, permanente Debatte in Gang zu setzen"
Peetz: Aber Sie haben ja Verbesserungspotenzial bei fast allen Mitgliedsstaaten ausgemacht in dem Report – also wie sehr ist der Bereich Rechtsstaatlichkeit ein Problem in der EU?
Reynders: In manchen Ländern haben wir grundlegende Probleme festgestellt, aber ich denke, das wichtigste Ziel des Berichts über die Rechtsstaatlichkeit ist es, eine permanente Debatte darüber auf der europäischen Ebene in Gang zu setzen. Wir haben seit Jahrzehnten Debatten über die Finanzhaushalte der Mitgliedstaaten, wir reden auch über strukturelle Reformen in den Mitgliedsländern, zum Beispiel über die Rentensysteme, aber es ist heute auf der europäischen Ebene immer noch schwer, eine echte Debatte über Rechtsstaatlichkeit zu führen. Ich habe deshalb vorgeschlagen, dass wir einen jährlichen Bericht dazu einführen, das hat einige Jahre gedauert, jetzt liegt der erste Bericht vor und dank der deutschen EU-Ratspräsidentschaft reden wir darüber auf der europäischen Ebene, über den Rechtsstaatsbericht im Allgemeinen, aber auch über die Situation in Polen und Ungarn. Diese Gespräche werden wir natürlich auch mit dem nächsten Land, das die EU-Ratspräsidentschaft innehaben wird, weiterführen. Es ist einfach sehr wichtig, die Debatte über Rechtsstaatlichkeit überhaupt zu beginnen, um zu zeigen, dass wir diese Frage genauso anhaltend diskutieren wie die Finanzhaushalte der Mitgliedsstaaten.
"Wir kürzen die Mittel, aber nicht komplett"
Peetz: Lassen Sie uns zum Stichwort Budget kommen. Denn die entscheidende Frage ist ja: Welche Konsequenzen folgen aus einer Verletzung von Rechtsstaatlichkeitsprinzipien? Es wird gerade verhandelt über den Rechtsstaatlichkeitsmechanismus, der eine Verkürzung von Geldern vorsieht für Länder, die gegen Rechtsstaatlichkeitsprinzipien verstoßen. Die Kommission hatte einen Entwurf vorgelegt, die deutsche Ratspräsidentschaft hat einen Kompromiss vorgeschlagen, der von der Mehrheit der Mitgliedsstaaten akzeptiert worden ist. Aber das Europäische Parlament findet diesen Kompromiss deutlich zu schwach. Wo steht die Kommission?
Reynders: Wir arbeiten auf der Grundlage unseres Vorschlags, das ist ein Vorschlag der EU-Kommission aus dem Jahr 2018. Wir haben damals einen sehr weit gefassten Vorschlag gemacht, um einen effizienten Rechtsstaatsmechanismus zu bekommen. Jetzt beschäftigen sich das EU-Parlament und der Rat mit diesem Vorschlag und da gibt es vor allem zwei Schwierigkeiten: Zum Einen geht es um die Frage, wann ein solches Verfahren ausgelöst werden soll. Der Anwendungsbereich darf nicht zu eng gefasst sein, damit die EU-Kommission den Rechtsstaat in einem Mitgliedstaat auch wirklich analysieren und dann einen Vorschlag für Konsequenzen machen kann. Die zweite Schwierigkeit ist, sich darauf zu einigen, mit welcher Mehrheit ein Strafverfahren in Gang gesetzt werden soll. Wir haben dafür die sogenannte umgekehrte qualifizierte Mehrheit vorgeschlagen, also, dass es eine Zwei-Drittel-Mehrheit der Mitgliedstaaten braucht, um Strafmaßnahmen, die die Kommission verhängt hat, noch zu stoppen. Und der dritte wichtige Punkt ist, dass die Kürzungen von EU-Geldern am Ende nicht die treffen dürfen, die die EU ja eigentlich fördern will. Um Ihnen ein Beispiel zu nennen: Natürlich wollen wir Bauern in allen Mitgliedstaaten unterstützen, auch in Ländern, in denen es ein Problem mit der Rechtsstaatlichkeit gibt. Wir müssen also die Zahlungen von EU-Mitteln an die Regierungen aussetzen und gleichzeitig dafür sorgen, dass die Endempfänger der EU-Subventionen ihr Geld erhalten. Wir kürzen also die Mittel, aber nicht komplett.
"Wenn ein Land kein unabhängiges Justizsystem hat, ist auch das Budget in Gefahr"
Peetz: Aber das ist die Kritik daran: Dass der Mechanismus sehr viel weniger effektiv sein wird, weil er nur aktiviert wird, wenn EU-Gelder veruntreut werden und nicht für generelle Verstöße gegen Rechtsstaatlichkeit gilt. Untergräbt das nicht die gesamte Idee des Rechtsstaatlichkeitsberichts, wenn am Ende wahrscheinlich keine echten Konsequenzen folgen werden?
Reynders: Das ist der Grund, warum wir gerade große Diskussionen haben zwischen dem Rat und dem Parlament, mit der Unterstützung der Kommission, um einen fairen und korrekten Anwendungsbereich für den Rechtsstaatsmechanismus zu finden. Wir müssen also das Risiko von möglichen Verstößen gegen Rechtsstaatlichkeit und generelle Defizite bei der Rechtsstaatlichkeit bedenken, bevor wir ein Verfahren beginnen. Ein Beispiel: Wenn ein Land kein unabhängiges Justizsystem hat, ist natürlich auch das Budget in Gefahr. Denn es ist in diesem Land dann nicht möglich, ein Gerichtsverfahren wegen der Veruntreuung von EU-Geldern zu führen, wenn die Justiz nicht unabhängig ist. Wir müssen also einen breiten Anwendungsbereich haben, um die Möglichkeit zu haben, ein Verfahren einzuleiten. Wir versuchen, die EU-Gelder vor Defiziten beim Rechtsstaat zu schützen. Wir müssen EU-Gelder gegen verschiedene Korruptionsfälle, Betrug und Missbrauch sichern und wir arbeiten deshalb jetzt mit der Europäischen Staatsanwaltschaft zusammen. Zum ersten Mal werden wir Ermittlungen auf europäischer Ebene beim Kampf gegen Betrug und Missbrauch von EU-Geldern führen. Aber das gilt natürlich nur für die 22 Mitgliedsstaaten, die bei der europäischen Staatsanwaltschaft mitmachen. Das ist ja ein freiwilliges System. Und Polen und Ungarn machen dabei nicht mit. Also, wenn es unmöglich ist, Ermittlungen auf europäischer Ebene zu starten, müssen wir unabhängige Justizsysteme vor Ort haben.
Peetz: Was ist die Mindestforderung der EU-Kommission für diesen Rechtsstaatlichkeitsmechanismus?
Reynders: Nochmal, effizient zu sein.
Peetz: Aber was heißt das genau?
Reynders: Das bedeutet, wir brauchen einen weitgefassten Anwendungsbereich, damit wir auch wirklich ein Verfahren starten können, wenn wir Rechtsstaatsdefizite sehen. Natürlich kann man den Rechtsstaatsmechanismus verknüpfen mit Gefahren für den EU-Haushalt. Aber diese Verknüpfung muss weit ausgelegt werden, denn wenn man das EU-Budget schützen will, dann muss es in allen Mitgliedstaaten eine ernsthafte Korruptionsbekämpfung und eine unabhängige Justiz geben. Also versuchen wir jetzt gemeinsam mit dem EU-Parlament und dem Rat ein Instrument zu schaffen, dass es der Kommission ermöglicht zu handeln, wenn das nötig ist. Vom EU-Parlament bekommen wir starke Unterstützung, aber wir brauchen auch die Zustimmung vom Rat und das ist schwierig. Und in diesem Trilog befinden wir uns gerade: Dass der Rat, das EU-Parlament und die Kommission nach einer Einigung suchen.
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