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EU-Kommissar Oettinger zu Netzneutralität
"Besser diese Lösung als keine Lösung"

Das Europaparlament stimmt heute über die Abschaffung der Roaminggebühren und die Netzneutralität ab. Die Neuregelung sei ein großer Fortschritt auf dem Weg zu einem freien Netz in Europa, sagte EU-Kommissar Günther Oettinger im Deutschlandfunk. Allerdings sei es durchaus möglich, dass später noch Korrekturen vorgenommen würden.

Günther Oettinger im Gespräch mit Peter Kapern |
    Günther Oettinger (EU-Kommissar für Digitale Wirtschaft und Gesellschaft, CDU)
    Günther Oettinger (EU-Kommissar für Digitale Wirtschaft und Gesellschaft, CDU) (imago stock & people)
    Mit Netzneutralität ist gemeint, dass im Internet alle Daten gleich schnell transportiert werden; dieses Prinzip sehen Netzaktivisten als gefährdet an. EU-Kommissar Oettinger sagte im Deutschlandfunk, die Debatte über die Netzneutralität sei sehr emotional geführt worden. Zum Beispiel sei behauptet worden, die Interessen der Bürger stünden im Gegensatz zu denen der Industrie. Das sei aber so gar nicht der Fall, betonte der CDU-Politiker. Man habe nun einen Kompromiss gefunden, und diese Lösung sei besser als keine Lösung: "Ansonsten wäre der Willkür Tür und Tor geöffnet." Die Bürger hätten in Zukunft mehr Sicherheit als je zuvor.
    Ausnahmen "eng begrenzt"
    Oettinger unterstrich, die Ausnahmefälle, in denen Daten bevorzugt transportiert würden, seien eng begrenzt, etwa auf Gesundheits- und Notrufdienste. Zudem müssten die Behörden notfalls auch vor Gericht nachweisen können, dass eine Bevorzugung nötig gewesen sei. Man werde die Regeln heute beschließen und dann sehen, ob sie sich in der Praxis bewährten. Anderenfalls werde man in zwei Jahren Korrekturen vornehmen: "Wir werden mit Sicherheit heute nicht die letzte Regelung beschlossen haben", so Oettinger.
    Die geplante Abschaffung der Roaminggebühren bezeichnete Oettinger als großen Fortschritt für alle, die in Europa grenzüberschreitend unterwegs seien.

    Das Interview in voller Länge:
    Peter Kapern: Die Begleitmusik klingt schrill. "Das Internet ist in Gefahr", heißt es da im Internet - bei Netzaktivisten, die fürchten, dass es im bislang freien Netz bald so zugehen könnte wie im richtigen Leben, nämlich dass die, die viel Geld haben, es krachen lassen, während die anderen mit dem schmalen Geldbeutel sich mit den Krümeln abfinden müssen, die vom Tisch der Reichen fallen. Auf das Internet übertragen heißt diese Befürchtung: Die mit dem Geld bekommen die schnellen Verbindungen und wer nicht zahlen kann, der wird bald nur noch im Schneckentempo Informationen im Netz verbreiten oder empfangen können. Kurzum: Es geht um das Thema Netzneutralität. Heute stimmt das Europaparlament über einen Gesetzentwurf ab, der nicht nur, aber auch diese Netzneutralität tangiert.
    Bei uns ist nun am Telefon EU-Kommissar Günther Oettinger, zuständig für das Thema Digitalisierung und damit auch für die Netzneutralität. Guten Morgen, Herr Oettinger!
    Günther Oettinger: Guten Morgen!
    Kapern: Herr Oettinger, Sie haben kürzlich in einem Debattenbeitrag, in dem es um die engagierte Diskussion über den Wert der Netzneutralität ging, davon gesprochen, dieses Thema sei ein, ich zitiere, "talibanähnliches Thema". Können Sie uns noch mal erläutern, was genau Sie damit meinten?
    Oettinger: Wir haben bisher gar keine Regeln auf europäischer Ebene. Bisher wäre Diskriminierung möglich gewesen und grenzüberschreitend haben wir bisher Unklarheit gehabt. Jetzt haben wir eine Chance, europäisch die Gebühren zu regeln, das heißt einen Gebührenraum zu schaffen, und daneben die Ausnahmen von der neutralen Öffnung des Netzes eng zu begrenzen: für Spezialdienste, für Notrufdienste, für Gesundheitsdienste, für Mobilitätsdienste. Ein großer Fortschritt für alle Bürger und für alle Nutzer des offenen Zugangs im Inland und in Europa.
    Kapern: Noch mal zurück zu meiner Frage, Herr Oettinger. Sie haben von einem talibanähnlichen Thema gesprochen. Was haben Sie damit gemeint?
    Oettinger: Es geht da sehr emotional zu. Da wird behauptet, der Bürger und die Industrie seien Gegensätze. Sind sie überhaupt nicht! Wenn die Industrie Mobilitätsdienste organisiert, ist dies für den Bürger im Auto von großem Vorteil. Wenn die Wirtschaft Gesundheitsdienste organisiert, ist dies von großem Vorteil für den Bürger. Deswegen möchte ich damit ausdrücken: Lasst uns zurückkommen auf den Boden der Tatsachen. Wir schaffen jetzt Klarheit und wir schaffen einen großen Fortschritt für alle, die in Europa grenzüberschreitend den Zugang zum Internet wollen.
    "Wir haben einen Kompromiss gefunden"
    Kapern: Da fällt es dann aber auf, Herr Oettinger, dass ausgerechnet Vertreter der digitalen Wirtschaft - und wir haben das ja gerade in dem kleinen Beitrag gehört -, dass ausgerechnet Vertreter der digitalen Wirtschaft überhaupt bestreiten, dass da Klarheit geschaffen werde. Die laufen ja Sturm gegen diese Verordnung, die Sie da auf den Weg gebracht haben, die heute im Europaparlament verabschiedet werden soll.
    Oettinger: Das ist ein Teil der Wirtschaft, nicht die Wirtschaft, denn es gibt nicht die Meinung der Wirtschaft. Es gibt höchst unterschiedliche Positionen der Wirtschaft. Die Telekom-Unternehmen haben ganz andere Meinungen, würden gern weitergehende Ausnahmen haben, und die lehnen wir ab. Die Telekoms würden gern kommerzielle Dienste bevorzugen, das lehnen wir ab. Das heißt, wir haben einen Kompromiss gefunden, wie immer im Leben, zwischen den unterschiedlichen Interessen von Wirtschaft und Gesellschaft. Deswegen: Die Wirtschaft gibt es nicht. Es gab ein paar Startups, die sagten, lasst uns noch neutraler werden. Das war mit den Mitgliedsstaaten nicht möglich. Aber besser diese Lösung als keine Lösung.
    Kapern: Warum glauben Sie das?
    Oettinger: Weil ansonsten der Willkür und dem Missbrauch Tür und Tor geöffnet wäre. Jetzt haben wir Klarheit und haben enge Grenzen für Ausnahmen von der Neutralität, und die Grenzen werden von unseren Behörden vor Ort kontrolliert und wir moderieren dies. Das heißt, wir werden in Zukunft für den Bürger mehr Sicherheit haben als jemals zuvor.
    "Beliebigkeit war in der Vergangenheit"
    Kapern: Aber genau damit - das ist ja der Vorwurf der Kritiker - wird der Beliebigkeit Tür und Tor geöffnet, dadurch, dass Sie das ins Belieben stellen, welche Sonderregelungen, Ausnahmeregelungen für Unternehmen geschaffen werden können, die dann eine Vorzugsbehandlung im Internet sich erkaufen können.
    Oettinger: Nein! Beliebigkeit war in der Vergangenheit. In der Zukunft gibt es klare Regeln, ein klares Diskriminierungsverbot und eng begrenzte Ausnahmen für die Bevorzugung, und zwar für Spezialdienste, die im allgemeinen Interesse sind, in Ihrem Interesse, in meinem Interesse, Gesundheitsdienste, Notrufdienste, Mobilitätsdienste und nicht mehr.
    Kapern: Mit dem allgemeinen Interesse, Herr Oettinger, ist das ja so ein Problem. Da kommt es immer darauf an, wer das gerade definiert.
    Oettinger: Das stimmt. Und dafür haben wir Behörden. Dafür haben wir Agenturen in allen Mitgliedsstaaten und wir haben eine europäische Agentur. Die werden das ganz konkret am Einzelfall prüfen und transparent und öffentlich entscheiden.
    Kapern: Gleichzeitig wird kritisiert eine Regelung, in der es heißt, dass beim sogenannten Traffic Management, also immer dann, wenn allein die Gefahr droht, dass es zu einer Netzüberlastung kommen könnte, es zu einer Ungleichbehandlung von Datenströmen kommen könnte. Das klingt doch wie ein Gummiparagraph, der völlig nach Belieben ausgelegt werden kann, wenn nur eine Netzüberlastung schon droht.
    Oettinger: Aber genau hier müssen die Behörden nachweisen, dass eine Bevorzugung notwendig gewesen war, gegebenenfalls vor Gericht. Da kann jeder klagen. Im Rechtsstaat ist auch dies einklagbar, und zwar erst jetzt. Bisher gab es keine Regeln. Jetzt haben wir Regeln. Bisher hat der Bürger keine Rechte gehabt. Jetzt hat er Rechte, ein klarer Vorteil für alle.
    "Wir haben eine bestmögliche Regelung gefunden"
    Kapern: Diese Argumentation, die Sie da an den Tag legen, dass Regeln auf alle Fälle besser sind als keine Regeln, die trifft ja nicht auf ungeteilte Zustimmung. Ich zitiere mal Tim Berners-Lee. Das ist immerhin der Erfinder des Internets. Der hat geschrieben: "Falls der Entwurf der Verordnung in seiner jetzigen Fassung beschlossen wird, sind Innovation, freie Meinungsäußerung und Privatsphäre sowie Europas Fähigkeiten, in der digitalen Wirtschaft eine führende Rolle zu spielen, bedroht." Das ist ein massiver Vorwurf von jemandem, der es doch eigentlich wissen muss.
    Oettinger: Warten wir's ab. Der Gesetzgeber ist frei, wenn diese Fehlentwicklung käme, sich zu korrigieren. Wir werden mit Sicherheit heute nicht die letzte Regelung geschaffen haben.
    Kapern: Heißt das Regulierung im trial and error Verfahren?
    Oettinger: Nein, überhaupt nicht. Wir haben, und zwar demokratisch, mit dem Parlament, mit den Abgeordneten Europas und dem Rat und unseren Regierungen eine bestmögliche Regelung gefunden. Die wird jetzt heute beschlossen. Und dann werden wir sehen, ob sie sich in der Praxis bewährt. Ich glaube, ja. Lassen Sie uns in zwei Jahren sprechen. Wenn nicht, werden wir korrigieren.
    Kapern: Heute wird noch eine Petition überreicht werden, die allein in Deutschland bis heute über 200.000 Menschen unterzeichnet haben, für den Erhalt der Netzneutralität und gegen die Regelung, die heute beschlossen werden soll. Tangiert Sie das?
    Oettinger: Ja, aber Mehrheit ist Mehrheit und ich habe in vielen Gesprächen mit vielen Bürgern erlebt, dass unsere Regelung auf Zustimmung stößt. Deswegen: Petitionen nehmen wir ernst, aber 200.000 sind nicht die Mehrheit. Deswegen meine Bitte: Beobachten Sie als Deutschlandradio die Entwicklung sehr streng und fragen Sie mich in zwei Jahren erneut. Sie werden sehen: Unsere Regelung wird sich bewähren.
    Kapern: Ich notiere mir das jetzt im Kalender, Herr Oettinger.
    Oettinger: Gerne! - Gerne!
    Kapern: Vielen Dank für das Gespräch. Wir melden uns dann spätestens in zwei Jahren, wahrscheinlich aber noch mal früher bei Ihnen.
    Oettinger: Ich bin erreichbar! - Danke! - Guten Tag!
    Kapern: Vielen Dank und einen schönen Tag nach Brüssel.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.