Für die Liberalen sei das Thema Rechtsstaatlichkeit vorranging. "Für uns ist ganz entscheidend, dass die Justiz unabhängig ist, dass die Presse frei ist, dass Universitäten forschen können", so Graf Lambsdorff. Das Wertegerüst der Europäischen Union sei das Fundament, auf dem alles andere stehe. Ursula von der Leyen habe zugesagt, dass die Rechtsstaatlichkeit gestärkt werde und finanzielle Strafzahlungen dort eingefordert würden, wo das nicht geschehe.
Weil von der Leyen mit den Stimmen der polnischen PiS-Partei zur Kommissionspräsidentin gewählt worden sei, dürfe sie aber keine "Rabatte" bei der Rechtsstaatlichkeit geben. Das würden die Liberalen nicht mitmachen. Er glaube auch nicht, dass das der Plan sei. Vielmehr hätten sich die deutschen Sozialdemokraten und Grünen "hochgradig unverantwortlich verhalten." Sie hätten sich "aus Berliner Frustration" gegen sie gestellt. Mit ihrer Ablehnung der künftigen EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen bei der Wahl im Europaparlament hätten sie der EU einen Bärendienst erwiesen.
Der polnische Politiker von der Regierungspartei PiS, Krasnodebski,
betonte im Dlf
man erwarte Fairness und Realismus von der neuen EU-Kommissionspräsidentin. Er sagte ebenfalls im Deutschlandfunk, die Mechanismen zur Prüfung von Rechtsstaatlichkeit müssten auf alle Mitgliedsländer gleichermaßen angewendet werden.
Das Interview in voller Länge:
Dirk-Oliver Heckmann: Alexander Graf Lambsdorff, stellvertretender Vorsitzender der FDP-Bundestagsfraktion, schönen guten Morgen, Herr Lambsdorff!
Alexander Graf Lambsdorff: Schönen guten Morgen!
Heckmann: Es gab ja schon vor der Wahl von von der Leyen umfangreiche Gespräche, Verhandlungen und Zusagen, auch inhaltlicher Art, jetzt geht das Fingerhakeln in die nächste Runde bei der Zusammensetzung der neuen Kommission. Wie groß ist denn die Gefahr, dass von der Leyen hier scheitert aus Ihrer Sicht?
Lambsdorff: Ich glaube, dass sie nicht scheitern wird bei der Zusammensetzung der neuen Kommission. Entscheidend wird sein, ob sie die Kommission wieder so aufstellt, dass sie vernünftig arbeiten kann. Wir haben ja ein großes Problem nach wie vor nicht gelöst, und das ist, dass jeder einzelne Mitgliedsstaat einen Kommissar oder eine Kommissarin entsendet, und das heißt, wir haben mit 28 Mitgliedern der Kommission eine zu große Führung der Behörde. Besser wäre es, man würde die Zahl der Kommissare reduzieren. Das steht leider nicht an. Die Staats- und Regierungschefs verweigern sich dieser notwendigen Verschlankung, und da jeden, sagen wir mal, mit einem Ressort auszustatten, das relevant genug ist, um einen Kommissar zu rechtfertigen, das ist das eigentliche Thema.
Deswegen hat Jean-Claude Juncker eine neue Struktur aufgebaut mit Vizepräsidenten, die exekutive Vollmachten haben. Das muss Frau von der Leyen wieder tun, denn wenn es noch einmal so läuft wie in der Barroso-Kommission, dann gilt der Spruch: Getretener Quark wird breit nicht stark - und die Kommission wird ineffizient werden.
"Die Zahl der Kommissare reduzieren"
Heckmann: Ursula von der Leyen hat ja ein leidenschaftliches Bekenntnis zu Europa abgegeben, den verschiedenen Fraktionen auch verschiedenes gegeben, den Grünen einen verschärfteren Kurs in der Klimapolitik, den Sozialdemokraten zum Beispiel eine Arbeitslosenrückversicherung, dem Parlament insgesamt faktisch ein Initiativrecht, das es ja bis jetzt nicht hat, und eine festere Verankerung auch des Spitzenkandidatenprinzips. Was davon wird sie halten können, oder sind das alles eher wolkige Versprechungen? Was denken Sie?
Lambsdorff: In den ersten zwei Wochen, in denen sie unterwegs war, konnte sie natürlich nicht sehr präzise sein, und insofern haben auch wir das eine oder andere als wolkig kritisiert. Ich habe insbesondere kritisiert, dass sie den Grünen so weit entgegengekommen ist, die ja von vornherein gesagt haben, sie würden sich nicht hinter sie stellen als Kommissionspräsidentin und sich anschließend beschwert haben, dass sie Unterstützung beispielsweise aus der Partei Recht und Gerechtigkeit aus Polen bekommen.
Aber ich glaube, dass in den nächsten Monaten das Ganze ausbuchstabiert werden muss, dass es einen Arbeitsplan der Kommission geben muss, in dem das Ganze dann etwas detaillierter läuft. Mir ist persönlich wichtig, dass wir hier nicht vergessen die Frage der Vervollständigung, der Vollendung des europäischen Binnenmarktes. Es ist ja so, dass der Binnenmarkt für Deutschland als Exportnation im Grunde das wichtigste Element, wirtschaftspolitisch gesehen, der Europäischen Union ist, aber es gibt Felder, auf denen er einfach nicht funktioniert. Nehmen wir mal den Dienstleistungsbereich, nehmen wir den digitalen Bereich oder die Energieunion. Da ist enorm viel zu tun. Also ich hoffe, dass sie da konkreter wird, als es in den letzten Wochen der Fall war.
Heckmann: Was haben denn die Liberalen erhalten für ihre Zustimmung?
Lambsdorff: Bei uns ist es so, dass wir das Thema Rechtsstaatlichkeit nach vorne gestellt haben. Das haben Sie ja eben im Interview mit Herrn Krasnodebski auch noch mal betont. Für uns ist ganz entscheidend als Liberale, dass die Justiz unabhängig ist, dass die Presse frei ist, dass Universitäten forschen und unterrichten können so wie die das wollen, ohne dass Regierungen sie dann außer Landes treiben, wie das ja mit der Zentraleuropäischen Universität in Budapest geschehen ist. Die musste ja Budapest verlassen und nach Wien umziehen. Wir glauben, dass das Wertegerüst der Europäischen Union das Fundament ist, auf dem alles andere steht, und da haben wir auch von Frau von der Leyen auch Zusagen bekommen, dass die Rechtsstaatlichkeit gestärkt werden wird in Zukunft und dass das Ganze verbunden werden soll und – das ist das Entscheidende – mit finanziellen Strafzahlungen dort, wo das nicht geschieht im nächsten mehrjährigen Finanzrahmen. Das ist der Punkt, auf den wir insbesondere achten werden.
Heckmann: Aber dennoch war es ja so, die Mehrheit war ja denkbar knapp, gerade mal neun Stimmen über den Durst, und ohne die rechtskonservative polnische PiS-Partei hätte Ursula von der Leyen die Mehrheit verfehlt. Was dürfte sie dafür bekommen, die PiS-Partei – wir haben ja gerade mit Herrn Krasnodebski drüber gesprochen –, womöglich doch einen Rabatt beim Thema Rechtsstaatlichkeit?
Lambsdorff: Das darf es nicht geben. Also da wird es dann auch erheblichen Streit geben, das ist ganz klar. Das wird die liberale Fraktion, das werden auch meine FDP-Kollegen ganz sicher nicht mitmachen, wenn es dort Rabatte geben sollte. Ich bin allerdings auch nicht sicher, ob das tatsächlich der Plan ist. Ich glaube einfach, dass die Grünen, aber auch die Sozialdemokraten aus Deutschland, sich hochgradig unverantwortlich verhalten haben, ganz kleines Karo an den Tag gelegt haben in einer Situation, in der das Spitzenkandidatenprinzip, was ich persönlich auch sehr bedauere, nicht mehr getragen hat, sich dann sozusagen aus Berliner Frustration gegen sie gestellt zu haben.
"Die SPD hat der EU einen Bärendienst erwiesen"
Heckmann: Die Sozialdemokraten sagen, sie haben vorher gesagt, sie würden nur einen Spitzenkandidaten wählen, und sagen es auch hinterher, sie bleiben bei ihrer Linie.
Lambsdorff: Ja gut, die Sozialdemokraten aus Deutschland haben das getan. Die gesamte sozialdemokratische Fraktion hat das ja anders gesehen. Also die Positionierung der sozialdemokratischen Fraktion im Europäischen Parlament war offiziell Unterstützung für Frau von der Leyen, und dann hat die deutsche SPD davon ein abweichendes Stimmverhalten an den Tag gelegt, weil sie aus Frust über die Große Koalition in Berlin sich nicht dazu durchringen konnten. Jetzt diskutieren wir – und das finde ich das Unerfreuliche – darüber, ob man deswegen Rabatte an Herrn Kaczynski und Herrn Orban geben muss. Also mit anderen Worten, ich glaube, die SPD hat der Europäischen Union da einen Bärendienst erwiesen.
Heckmann: Wie würden Sie denn reagieren, wenn es doch noch zu solchen Signalen kommen würde, dass die EU-Kommission beispielsweise dann bei dem Rechtsstaatsverfahren dann doch weniger Tempo an den Tag legen wird in Zukunft?
Lambsdorff: Das ist eine hypothetische Frage. Ich glaube, dass mit Franz Timmermanns, der ja das Verfahren in den letzten Jahren betrieben hat und der einer der beiden exekutiven Vizepräsidenten werden soll, jemand da ist, der das Ganze weiterverfolgen wird. Margrethe Vestager wird die zweite exekutive Vizepräsidentin werden. Die beiden, als Sozialdemokrat, der da schon Erfahrung hat, und als Liberale mit ganz starken Überzeugungen, werden darauf achten, dass das in der Kommission nicht dazu kommt.
"Länger als zwei Jahre wird sie auf keinen Fall Verteidigungsministerin bleiben"
Heckmann: Noch ein Wort, Herr Lambsdorff, zu Annegret Kramp-Karrenbauer, der neuen Verteidigungsministerin: Sie haben direkt am gleichen Tag gesprochen von einer Zumutung für die Truppe und für unsere NATO-Partner sowie von fehlendem Respekt für die Bundeswehr, "nichts könnte die Geringschätzung der Bundeswehr durch die Bundeskanzlerin klarer ausdrücken, als diese Personalie", Zitat Ende. Wäre es nicht fair, Her Graf Lambsdorff, Kram-Karrenbauer 100 Tage zu gewähren?
Lambsdorff: Ja, eine Bewertung einer Ernennung ist das eine, die Gewährung einer Chance ist das andere, aber ich finde es schon bemerkenswert, dass Frau Kramp-Karrenbauer noch am 3. Juli, also vor zwei Wochen, gesagt hat, sie werde nicht ins Kabinett eintreten, weil sie alle Kraft der Reform und der Weiterentwicklung der Christlich-Demokratischen Union widmen will. Nun hat sie gestern gesagt, sie will alle Kraft der Bundeswehr widmen. Wie sie das übereinanderbringt, ist mir, ehrlich gesagt, ein Rätsel. Ich halte das Bundesverteidigungsministerium für eines, das man nicht als Nebenjob erledigen kann, und da sie ja nun nach der nächsten Wahl entweder Bundeskanzlerin werden möchte oder aber Oppositionsführerin werden muss, ist doch relativ evident, dass in dieser Personalie zum Ausdruck kommt, dass sie das Ganze als Lückenfüller betrachtet.
Heckmann: Sie selber argumentiert das anders, sie sagt, als Schwergewicht, als CDU-Vorsitzende und Verteidigungsministerin kann sie für die Truppe einiges rausholen, und das sieht der Bundeswehrverband, haben wir heute früh im Deutschlandfunk gehört, genauso.
Lambsdorff: Der Bundeswehrverband sieht das genauso, das hätte ich an seiner Stelle auch gesagt, aber aus der politischen Bewertung heraus ist eines ganz klar: Länger als zwei Jahre wird sie auf keinen Fall Verteidigungsministerin bleiben. Die Herausforderungen für die Bundeswehr in Mali, im Irak, in Afghanistan, im Cyberraum, bei der Beschaffung, sind so riesig, dass sie in 24 Monaten allerdings dort wenig, sagen wir mal, strukturell erreichen kann an Verbesserung, die die Bundeswehr dringend braucht.
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