Der Streit zwischen EU-Kommission und Polen geht in eine neue Runde: Bei diesem - inzwischen dritten - Vertragsverletzungsverfahren geht es um die neue Disziplinarordnung für Richter. Frans Timmermans, Vizepräsident der EU-Kommission, erklärte am Mittag, warum das Verfahren aus Sicht der Brüsseler Behörde notwendig geworden ist:
"Hauptziel dieser Disziplinarordnung ist es - wie auch beim Rest der Justizreform - Richter der politischen Kontrolle zu unterwerfen. Wir wissen, dass disziplinarisch vorgegangen wurde gegen Richter, die sich öffentlich zur Justizreform geäußert haben, gegen Richter, die Fragen an den Europäischen Gerichtshof gerichtet haben:Diese Disziplinarverfahren haben einen Abschreckungseffekt und das ist mit der richterlichen Unabhängigkeit unvereinbar, wie sie der Europäische Gerichtshof auslegt."
Ermittlungen gegen Richer an ordentlichen Gerichten
Das neue Disziplinarverfahren erlaubt es, gegen Richter an ordentlichen Gerichten zu ermitteln und sie gegebenenfalls zu bestrafen, wegen des Inhalts ihrer Entscheidungen. Die Vorwürfe zu überprüfen liegt in der Hand der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts. Das Problem dabei: Es ist aus Sicht der Kommission nicht sichergestellt, dass die Kammer unabhängig und unparteilich ist. Denn: In der Kammer sitzen nur noch neu gewählte Richter, die vom Landesrichterrat zusammengesetzt wurden und der wird vom polnischen Parlament gewählt. Dort hat die rechts-konservative PiS-Partei die absolute Mehrheit.
Auch könnten beschuldigte Richter während des Verfahrens einen schweren Stand haben. Die neue Regelung garantiere nicht, dass die Sachen innerhalb einer angemessenen Frist bearbeitet werden. Mithilfe von Disziplinarbeauftragten könnten die Fälle sogar dauerhaft in der Warteschleife gehalten werden, falls Justizminister und Präsident den nötigen Druck ausüben – denn sie ernennen die Disziplinarbeauftragten.
Und noch ein drittes Manko sieht die EU-Kommission: Weil die Disziplinarordnung die Richter aufgrund inhaltlicher Entscheidungen sanktioniert, könnten die Richter eingeschüchtert sein, sich nicht mehr trauen, Fragen an den Europäischen Gerichtshof zu stellen. Und damit sei ein Fundament der EU-Rechtsordnung in Gefahr. Timmermans:
"Weil die Sache so dringlich ist, hat die Kommission ein Aufforderungsschreiben aufgesetzt: Die polnische Regierung hat zwei Monate lang Zeit, um darauf zu antworten."
Zwei weitere Vertragsverletzungs-Verfahren
Im Zusammenhang mit der Justizreform eröffnete die EU-Kommission noch zwei weitere Vertragsverletzungs-Verfahren gegen Polen. So kritisierte Brüssel unter anderem die Bestimmungen, mit denen die obersten Richter auf irreguläre Weise in den Ruhestand geschickt werden sollen.
Und dann wäre noch das anhängige "Artikel 7-Verfahren": Das könnte zum Stimm-Entzug Polens führen, einem drastischen, aber bislang unrealistischen Schritt, weil er einstimmig im Rat gefasst werden müsste. Polen kann sich unter den EU-Mitgliedsländern allerdings auf das Veto Ungarns verlassen, den Bruder im Geiste, aus politischer Sicht: Das Europaparlament hatte gegen Ungarn ebenso ein Verfahren angestoßen, weil es Demokratie, Rechtstaatlichkeit und Grundrechte in dem Land bedroht sieht. Ein Problem, das auch eine Debatte in Gang setzte, wie bereits frühzeitig Entwicklungen wie in Polen und Ungarn gestoppt werden können.
Die EU-Kommission will Reformvorschläge im Juni präsentieren. Bis dahin dürfte das Thema auch im Wahlkampf eine Rolle spielen. Der Spitzenkandidat der europäischen Volkspartei der christdemokratischen Parteifamilie, Manfred Weber, regte gemeinsam mit dem ehemaligen Richter am Bundesverfassungsgericht, Udo di Fabio, die Schaffung eines Expertenrates an, der alle zwei Jahre alle EU-Länder auf die Unabhängigkeit der Justiz überprüft.