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EU-Kommission
Wirtschaftsexperte: Juncker betreibt Beerdigung des Stabilitätspaktes

Der neue EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker handelt aus Sicht von Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Commerzbank, nicht im Geiste des Stabilitätspaktes. Juncker habe es versäumt, die Wächterfunktion in der Europäischen Union zu übernehmen. Stattdessen rede er "wie ein Kuschelpädagoge", kritisierte Krämer im DLF.

Jörg Krämer im Gespräch mit Dirk Müller |
    Jean Claude Juncker hält eine Rede im EU-Parlament
    Krämer: Juncker hat ganz klar einen schlechten Start hingelegt. (picture alliance / dpa / Patrick Seeger)
    Dirk Müller: Kann ein Start schlechter sein, kann er miserabler verlaufen? Jean-Claude Juncker, ein Kommissionspräsident, der jahrelang im eigenen Land Steuertricks und Steuerprivilegien gedeckt hat, ein Kommissionspräsident, der fragwürdige Politiker zu Kabinettskollegen gemacht hat - alles Vorwürfe seiner Kritiker -, und der jetzt diejenigen stützt, die gegen alle Regeln der Kunst in der Haushaltspolitik verstoßen. Die notorischen Defizitsünder Frankreich und Italien gehören dazu.
    Sie haben die Drei-Prozent-Hürde genommen, wieder einmal, nämlich nach oben, mehr neue Schulden also aufgetürmt, als sie nach den Regeln der Europäischen Union dürfen.
    Frankreich wird geschont, Italien wird geschont, andere auch - darüber wollen wir nun sprechen mit Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Commerzbank. Guten Tag.
    Jörg Krämer: Guten Tag.
    "Es geht hier nicht um hart durchgreifen"
    Müller: Herr Krämer, würden Sie jetzt hart durchgreifen?
    Krämer: Ich sehe das anders, auch anders als Ihr Korrespondent. Es geht hier nicht um hart durchgreifen, sondern es gibt ja klare Regeln, die sich die Staatengemeinschaft gegeben hat, einen Stabilitätspakt. Und wenn jetzt die Länder ihre Haushalte eingereicht haben und sich nicht an die Versprechungen halten, dann sehen diese Regeln jetzt vor, dass die EU-Kommission den Ländern Vorgaben macht, und wenn Sie sich daran nicht halten, dann eben Strafen.
    Das sind ganz normale Beschlüsse und es ist schon sehr erstaunlich, wenn dann Juncker sagt, ich zitiere, "Regeln, Sanktionen, Strafe, aber ich habe mich anders entschieden."
    Das heißt, Juncker nimmt seine verfassungsmäßige Aufgabe als Wächter der EU-Verträge offensichtlich gar nicht mehr wahr und er redet hier wie ein Kuschelpädagoge.
    Müller: Wenn ich jetzt Sprecher der Kommission oder dieses Kuschelpädagogen wäre, dann würde ich jetzt sagen, haben wir immer so gemacht.
    Krämer: Ja. Leider hängt das auch damit zusammen, dass Deutschland und Frankreich vor vielen Jahren, damals noch unter Schröder, den Anfang gemacht haben und Sanktionen verhindert haben.
    Eine weitere Beerdigung des Stabilitätspaktes
    Müller: Wir waren der Sündenfall?
    Krämer: Wir waren sicher nicht der Auslöser, aber das hat jetzt wirklich eine andere Qualität, wenn man liest, was Juncker der "Süddeutschen Zeitung" hier sagt, wie er offensichtlich gar nicht mehr den Versuch unternimmt, die Regeln durchzusetzen, und das ist eine weitere Beerdigung des Stabilitätspaktes, obwohl ja gerade gemeinsame Fiskalregeln nach der Staatsschuldenkrise ganz wichtig wären, um die Währungsunion auf eine solide Grundlage zu stellen.
    Müller: Das heißt, die Europäer haben keinen Grund mehr, diesem Kommissionspräsidenten zu vertrauen?
    Krämer: Sein Start, was die Durchsetzung des Stabilitätspaktes anbelangt, in diesen Aspekt habe ich wenig Vertrauen.
    Müller: In der Steuerpolitik fair zu sein, ja auch eher nicht.
    Krämer: Das ist eine andere Diskussion ...
    Müller: ... , die aber mit dazu gehört, wenn man über Juncker redet, für viele jedenfalls, Herr Krämer.
    Krämer: Für viele mag das der Fall sein. Als Ökonom möchte ich mich hier beschränken auf den Stabilitäts- und Wachstumspakt, und da hat Juncker ganz klar einen schlechten Start hingelegt heute.
    Müller: Aber die Steuerpolitik hat auch was mit Ökonomie zu tun. Sie sagen, ist jetzt nicht mein Thema?
    Krämer: Die Steuerpolitik des Landes, die seit vielen Jahren dort betrieben wird, auch mit Juncker verknüpft wird, aber das hat mit seiner Rolle als Kommissionspräsident nichts zu tun.
    Problematisch ist: Er sollte eigentlich seine Rolle übernehmen als Wächter des Stabilitäts- und Wachstumspaktes, und direkt zu Beginn hat er eigentlich diese wichtige Funktion leider abgegeben, obwohl es entscheidend wäre, damit die Währungsunion auf eine solide Basis gestellt wird.
    Müller: Lassen wir, Herr Krämer, noch mal den anderen Punkt dazu nehmen, weil Sie versuchen, das zu trennen. Das leuchtet mir im Moment nicht so ein, wenn wir über Juncker reden und über das Vertrauenspotenzial, was die Europäer, zumindest die Bürger davon erwarten, von ihrem Kommissionspräsidenten. Er ist schließlich vom Europäischen Parlament mit großer Mehrheit gewählt worden. Sie sagen, er ist kein Wächter mehr des Stabilitätspaktes. Dann ist er vermutlich auch vorher wegen seiner Rolle als Ministerpräsident und Finanzminister in Luxemburg auch kein glaubwürdiger Wächter mehr von Steuergerechtigkeit, von Steuerfairness innerhalb der Europäischen Union. Steht dieser Mann nicht mehr für das europäische Solidarprinzip, von dem wir immer wieder hören in den Sonntagsreden?
    Krämer: Das würde deutlich zu weit gehen. Ich meine, man darf nicht vergessen: Juncker hat viele Jahre die Euro-Gruppe geleitet, hat viele Jahre wichtige Arbeit geleistet, um auch die Staatsschuldenkrise zu stabilisieren. Jetzt sollte man da die Kirche im Dorf lassen. Aber wie gesagt, bei dem Aspekt, über den wir eingangs sprachen, Stabilitäts- und Wachstumspakt, das war ein schwacher Auftakt.
    Man sollte Juncker umfassend bewerten
    Müller: Und die Steuern, das ist für Sie in dem Punkt kein Thema?
    Krämer: Sie fragen mich jetzt zum vierten Mal schon nach dem Thema. Ich habe Ihnen eben schon eine Antwort darauf gegeben, dass man Juncker umfassend bewerten sollte und dass man würdigen muss seine Arbeit in der Stabilisierung der Staatsschuldenkrise. Aber dieser Aufschlag heute war nicht gut.
    Müller: Um jetzt bei diesem zweiten Aspekt zu bleiben, Schuldenkrise, Sanktionen, hat das Wirkungen auf die Haushaltsdisziplin der anderen, die gerade ganz, ganz knapp mit den 3,0 zurecht kommen?
    Krämer: Ja, natürlich hat das Auswirkungen. Es gibt ja einige Länder, die ihre Hausarbeiten dort gemacht haben, und es gibt auch Länder wie Spanien, Portugal und auch Irland, die auch sehr große Anstrengungen übernommen haben, ihre Wettbewerbsfähigkeit wiederherzustellen, herauszuarbeiten sich aus der Krise. Und wenn Sie dann anderen Ländern regelwidrig alles durchgehen lassen - damit meine ich vor allen Dingen Frankreich, aber auch Italien -, dann fragen sich natürlich die anderen Länder, warum sollen wir uns an die Regeln halten, und das ist das problematische Signal.
    "Er sollte eine Wächterfunktion übernehmen"
    Müller: Jean-Claude Juncker verstößt, wenn ich Sie jetzt richtig verstehe, gegen die Regeln, gegen die Bestimmungen der Europäischen Union?
    Krämer: Er sollte eine Wächterfunktion übernehmen, und die Regeln sehen ja vor, dass er dann Empfehlungen ausspricht, wenn die Länder einen Haushalt vorlegen, der ein Defizit über drei Prozent hat, und er hat heute im Interview einseitig darauf verzichtet.
    Müller: Und die Regeln außer Kraft gesetzt?
    Krämer: Ja. Er sagt ja selber, ich habe mich anders entschieden. Das ist sicherlich nicht im Geiste des Stabilitäts- und Wachstumspaktes.
    Müller: Dann reden wir über diesen Vertrauensaspekt - wir haben ja eben über die Bevölkerung in Europa geredet - mit Blick auf Finanzwirtschaft, auf Bankwirtschaft. Mit welchen Konsequenzen ist das verbunden?
    Krämer: Ich denke, wenn Sie den Stabilitäts- und Wachstumspakt weiter lockern - und das ist ja jetzt dadurch geschehen -, dann nimmt das Druck von den Ländern, ihre Haushaltsdefizite zu senken.
    Das heißt, wir werden weiterhin ansteigende Staatsschulden relativ zur Wirtschaftsleistung haben. Das haben wir beispielsweise jetzt auch in Italien gesehen. Und damit werden die Ursachen der Staatsschuldenkrise nicht bekämpft, ganz im Gegenteil, sondern die Probleme wachsen. Zum Beispiel in Italien hat das Verhältnis der Staatsschulden zum Bruttoinlandsprodukt bis zuletzt zugenommen, und das ist das Problem.
    Müller: Die Krise ist noch nicht überwunden. Die Krise ist noch längst nicht überwunden. Das sagen viele Beobachter, viele Ökonomen. Ist die Krise jetzt mit dieser Entscheidung schon wieder ein bisschen wahrscheinlicher geworden, dass sie wieder größer wird?
    Krämer: Mit dieser Entscheidung ist die Wahrscheinlichkeit gestiegen, dass die Staatsschulden in einigen Ländern des Euro-Raums weiter schneller steigen, und damit ist die Lösung der Ursache der Staatsschuldenkrise weiter in die Zukunft verschoben, was in der Zukunft natürlich Risiken bedeutet.
    Müller: Und Wolfgang Schäuble sagt, lass ihn mal machen, er wird schon das Richtige tun.
    Krämer: Das sagen Sie, das habe ich jetzt nicht gelesen.
    "Die Europäische Zentralbank hat die Ursachen der Krise übertüncht"
    Müller: Hat er bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk so mehr oder weniger interpretiert, in diese Richtung zumindest gesagt.
    Krämer: Ich kann nur wiederholen: Wenn die Anreize zur Haushaltskonsolidierung in Italien und Frankreich geschwächt werden, dann steigen die Staatsschulden weiter schneller als die Wirtschaftsleistung, und damit entfernen wir uns von einer Lösung, einer wirklichen Lösung der Staatsschuldenkrise.
    Sie müssen ja sehen: Die Renditen der Staatsanleihen sind sehr stark gefallen, auch in Italien, auch in Frankreich, aber nicht, weil die Schulden runtergekommen sind, sondern einfach, weil die Europäische Zentralbank angekündigt hat, im Fall der Fälle Staatsanleihen zu kaufen.
    Das heißt, sie hat die Ursachen der Krise übertüncht. Aber die Ursache der hohen Staatsschulden, das ist noch nicht beseitigt in vielen Ländern des Euro-Raums.
    Müller: Bei uns heute Mittag im Deutschlandfunk Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Commerzbank. Danke für das Gespräch und auf Wiederhören nach Frankfurt.
    Krämer: Auf Wiederhören.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.