Dirk Müller: Das neue Personal an der Spitze der Europäischen Kommission, dazu gehört auch der neue Zuschnitt - unser Thema mit dem Europa-Experten Joachim Fritz-Vannahme. Er arbeitet und forscht für die Bertelsmann-Stiftung. Guten Tag!
Joachim Fritz-Vannahme: Schönen guten Tag, Herr Müller.
Müller: Wir haben gerade Peter Kapern gemeinsam gehört. Wird jetzt alles noch viel komplizierter?
Fritz-Vannahme: Nein. Ich glaube, es wird nicht komplizierter. Ich will vielleicht an einigen Stellen Peter Kapern einmal ergänzen, ohne ihn wiederholen zu wollen. Das erste ist die Art und Weise, wie die neuen Kommissariate beschildert worden sind. Ich greife mal den erwähnten Frans Timmermans heraus, der nun im weitesten Sinne mit der Klimawende irgendwo zu tun haben wird. So heißt das aber hier nicht. Das heißt hier European Green Deal. Das ist ein Versprechen nach vorne, wir werden einen grünen Vertrag, wenn wir das Wort Deal mal so übersetzen, für Europa und mit ganz Europa schließen.
Dann haben wir eine Wirtschaft, die für die Menschen wirkt, bei Herrn Dombrovskis untergebracht - nicht einfach Wirtschaft. Wirtschaft gibt es zwar auch, das ist Herr Gentiloni, aber es gibt hier, beim Wein würde man sagen, bei der Etikettierung der Flasche ganz, ganz erstaunliche Ansprüche, die hier eigentlich formuliert werden.
"Vorgaben, die können ganz schnell in sich zusammenfallen"
Müller: Und das ist mehr als Kosmetik, wenn ich da unterbrechen darf?
Fritz-Vannahme: Ja, und das ist jetzt genau die Frage. Ist das für den Augenblick Kosmetik, oder versteckt sich dahinter nicht schon eine Methode, die da lautet - ich will das Beispiel auch gleich noch ausführen -, wir wissen ja um die Probleme und dieses Europa ist ja unruhig und aufgewühlt genug, Europa muss Ziele haben, Europa muss nach vorne gucken können, und das machen wir jetzt mit Hilfe von solchen neuen Etiketten.
Das Beispiel, das ich jetzt noch ausgelassen habe, ist Margaritis Schinas, in Brüssel ein seit langem bestens bekannter Grieche. Der hat als Aufgabe: Protecting our european way of life. Darunter kann man sich alles vorstellen. Wer natürlich reinschaut, was soll er denn dann eigentlich machen - er soll sich zum Beispiel um Migration, Grenzschutz und so weiter kümmern und auf die Art und Weise den europäischen way of life besser schützen.
Das sind Vorgaben, die können ganz schnell in sich zusammenfallen. Da bin ich vollkommen Ihrer Meinung. Die können aber auch motivieren erst mal für das Kollegium selber, dann für die Administration der 30, 35.000 Kommissionsmitarbeiter und als Transmissionsriemen dann auch hin in die Mitgliedsstaaten wirken.
Müller: Es hat ja immer viel Kritik gegeben in den vergangenen Jahren, auch Jahrzehnten, Herr Fritz-Vannahme, dass Europa und gerade auch die personelle Spitze der Europäischen Kommission häufig mit der zweiten Reihe ausgestattet worden ist, ausgestattet wird. Ist das immer noch so?
Fritz-Vannahme: Nein, das sehe ich überhaupt nicht, denn hier hat etwas ganz Überraschendes stattgefunden. Peter Kapern hat es ja kurz erwähnt. Hier hat was ganz Erstaunliches stattgefunden. Wir haben nicht nur eine Geschlechter-Balance gefunden, wie sie es so noch nie gegeben hat - 13 Frauen, 14 Männer. Wir haben unter den 27 Kommissaren 18 ehemalige Minister und drei ehemalige Regierungschefs. Wenn da nicht irgendwo Kraft auf die Pedale kommt, dann weiß ich eigentlich nicht mehr, mit welcher Methode das sonst noch funktionieren soll.
Ob die Struktur, die Frau von der Leyen jetzt komplett umgebaut hat gegenüber Juncker und auch vorher der Barroso-Kommission, ob die hinterher wirklich trägt, das würde ich erst mal abwarten wollen und sagen wollen, ich gucke mal hin. Aber den Kredit mit auf den Weg zu geben, dass hier geballte Erfahrung aufgeboten wird mit 18 Ministern und darunter drei ehemaligen Regierungschefs, das sollte man doch erst mal positiv zur Kenntnis nehmen.
"Klingt vollkommen harmlos, aber..."
Müller: Viele Kritiker sagen, geballtes Versagen. Es sind ja viele Minister, die in den nationalen Regierungen nicht gerade reüssiert haben.
Fritz-Vannahme: Ja. Es gibt aber auch genug, die durchaus Erfolg gehabt haben. Ich würde Herrn Reynders beispielsweise, den Belgier, nun nicht als gescheiterten Ministerpräsidenten seines Landes bezeichnen. Er hatte ein ganz schwieriges Land zu regieren, was sich hin und wieder mal über anderthalb Jahre den Luxus leistet, gar keine Regierung zu bilden. Das sind schon Leute, die auch gute und respektable Erfahrung mitbringen.
Ich will vielleicht noch auf zwei, drei kleine Kommissarbesetzungen hinweisen, die hoch interessant sind.
Müller: Bitte auch Wirtschaft! Danach wollte ich Sie gerade fragen. Gentiloni, wichtige Person!
Fritz-Vannahme: Der Ire Phil Hogan bekommt Handel - klingt vollkommen harmlos. Das heißt aber im Klartext, dass das künftige Verhältnis zum Post-Brexit-Königreich Großbritannien von einem Iren ausgehandelt wird, das heißt von dem Land, das durch den Brexit am unmittelbarsten in seiner Wirtschaftsstruktur getroffen werden wird.
Müller: Und das ist gut?
Fritz-Vannahme: Das ist gut. Ich finde das eine hervorragende Wahl, weil hier wird den Briten signalisiert, wir werden euch für die Zukunft keinen Jota Boden preisgeben, aber wir schicken euch jemanden, der ein großes Interesse daran haben muss, auch tatsächlich zu einem Abschluss beim Thema Handel und Handelsbeziehungen künftig zu kommen.
Ebenfalls eine interessante Besetzung: Der Ungar Laszlo Troczanyi bekommt das Erweiterungsressort. Das Erweiterungsressort hat ja eigentlich vom Inhalt her nur noch den restlichen Balkan und das sind alles die Nachbarn der Ungarn. Das heißt, er wird dorthin geschickt, wo er sich im Prinzip als Ungar sowieso schon mal eigentlich gut auskennt, und mit einer Erweiterung beauftragt, bei der jetzt Serbien immer noch ein heikler Fall ist, dahinter Bosnien-Herzegowina. Da gibt es, glaube ich, eine relativ geschickte Besetzung. Dasselbe gilt auch für den Griechen Schinas, der nun de facto, wie ich eben erklärt habe, für Migration zuständig sein wird.
"Gerade ein Italiener wird es richten müssen"
Müller: Jetzt haben wir noch eine knappe Minute, Herr Fritz-Vannahme. Bitte noch einmal die Personalie Gentiloni. Wirtschaft, Italien, Staatskrise, Finanzkrise. Er soll es jetzt richten, ein Italiener?
Fritz-Vannahme: Ja! Man kann ja sagen, gerade ein Italiener wird es richten müssen. Und das, was wir eben eingespielt als Kommentar von Frau von der Leyen gehört haben, heißt ja, dass sie sich im Zweifelsfall mit Gentiloni in die Haftung des gesamten Kollegiums begeben wird und damit auch sich selbst in die Haftung nehmen wird. Ich glaube nicht, dass da was anbrennt. Ganz im Gegenteil! Ich glaube, der wird mit den Italienern, vor allem mit der jetzigen neuen Regierung sehr viel deutlicher und konstruktiver reden können, als man das sich vielleicht vorgestellt hat.
Müller: Für Sie ist das glaubwürdig?
Fritz-Vannahme: Ja! Im ersten Gang, würde ich erst mal sagen, glaubwürdig. Man wird jetzt sehen müssen. Wir haben ja auch in Italien eine neue Regierung, die die Arbeit erst mal aufnehmen muss. Durchschnittliche Regierungszeiten sind in Italien anderthalb Jahre. Dann werden wir mal sehen, was in den nächsten anderthalb Jahren Paolo Gentiloni als ehemaliger Ministerpräsident seines Landes mit seinem Land alles aushandeln kann.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.