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EU-Kommissionspräsidentschaft
"Man muss den Wählerwillen ernst nehmen"

Die Wahl des EU-Kommissionspräsidenten ist eine Mehrheitsentscheidung und diese müsse auch von allen respektiert werden, sagt Guntram Wolff im Hinblick auf das Tauziehen um Jean-Claude Juncker (EVP). Sollten die Briten bei seiner Wahl aus der EU austreten, würde das wirtschaftliche Nachteile für die EU bringen, ergänzt der Chef des Brüsseler Bruegel-Instituts.

Guntram Wolff im Gespräch mit Silvia Engels | 02.06.2014
    Guntram Wolff: Direktor der Denkfabrik Bruegel.
    Guntram Wolff: Direktor der Denkfabrik Bruegel. (picture alliance / Bruegel / dpa)
    Die Wahl sei so strukturiert worden, dass es um die Wahl von Spitzenkandidaten ginge, sagt Wolff weiter. "Wenn man das ignoriert, sendet man ein falsches Signal in ganz Europa". Daher müsse man gegenüber dem britischen Premierminister David Cameron "hart bleiben".
    Folgen eines Austritts Großbritanniens
    Cameron habe angekündigt, bei der Wahl Junckers ein Referendum durchzuführen, ob das Vereinigte Königreich in der EU bleibe oder nicht. Allerdings sei die Debatte um einen Austritt Großbritanniens nicht neu, so Wolff.
    Bei einem Austritt des Landes könnte das wirtschaftliche Folgen für die EU haben: Die Briten haben die größte Volkswirtschaft in dem bisher gemeinsamen Markt. Ein Austritt würde zu weniger Handel und Geschäften vor allem für Deutschland und Frankreich führen. Ferner würde ein wichtiges Finanzzentrum wegfallen. Nicht zu unterschätzen sei auch die Bedeutung Großbritanniens für die Dynamik der EU, unterstrich Guntram Wolff.
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    Das Interview in voller Länge:
    Silvia Engels: Wer wird neuer EU-Kommissionspräsident? Am Freitag hatte sich Bundeskanzlerin Merkel ja deutlich für den Spitzenkandidaten der EVP-Fraktion, Jean-Claude Juncker, ausgesprochen. Doch bei einigen Regierungschefs der Europäischen Union ist der Widerstand gewaltig. David Cameron, Premierminister von Großbritannien, soll indirekt sogar mit dem Austritt seines Landes aus der EU gedroht haben, falls Juncker das Amt bekommen sollte. Welche Sprengkraft entwickelt der Streit um den EU-Kommissionspräsidenten für die gesamte Europäische Union? Solche Fragen legt sich auch das Brüsseler Bruegel-Institut vor. Die Ökonomen und Politikwissenschaftler liefern dort seit Jahren wissenschaftliche Analysen rund um die Europäische Union. Der Direktor ist Guntram Wolff, er ist nun am Telefon. Guten Tag, Herr Wolff.
    Guntram Wolff: Guten Tag!
    Engels: Rechnen Sie damit, dass Großbritannien tatsächlich aus der EU austritt wegen dieses Streits?
    Wolff: Nein. Großbritannien hat ja wirklich jetzt schon lange Reservationen und Kritik an der EU geäußert, und der großbritannische Premierminister hat ja angekündigt, dass er ein Referendum machen möchte über die Frage, ob das Vereinigte Königreich in Europa bleibt. Das geht ja eigentlich jetzt schon länger zurück und ist auch eine Geschichte, die schon länger in der Debatte ist, ob das UK in der EU bleibt oder nicht. Ich denke, das ist eine Frage, die wir sehr ernst nehmen müssen. Wir dürfen nicht unterschätzen die Relevanz Großbritanniens für die wirtschaftliche Entwicklung Europas, aber natürlich auch für die politische Dynamik in Europa. Es ist insofern für mich ein ganz wichtiger Punkt, dass wir das Vereinigte Königreich da sehr ernst nehmen und uns auch genau Gedanken machen, was wir machen wollen und können, um das Vereinigte Königreich in der EU zu behalten.
    Engels: Schauen wir auf die Wirkung. Was würde es denn bedeuten, wenn Großbritannien politisch und wirtschaftlich sich herauszieht?
    Wolff: Ja. Wirtschaftlich ist es natürlich schon mal ganz massiv. Wir haben in Großbritannien immer noch eine der größten Volkswirtschaften der EU. Wenn die nicht mehr im gemeinsamen single market, im gemeinsamen Markt sind, dann haben wir da natürlich schon mal wesentlich weniger Handel, wesentlich weniger Geschäfte für deutsche Unternehmen, französische Unternehmen, die wir dort machen können. Wir haben gleichzeitig ein sehr wichtiges Finanzzentrum dort. London ist für die Euro-Zone, also auch für Deutschland und Frankreich, das Finanzzentrum geworden, und das kann man auch nicht so leicht ersetzen und das wäre dann wirklich auch ein Schaden für unsere weitere wirtschaftliche Entwicklung. Insofern würde ich schon sagen, das ernst zu nehmen. Andererseits muss man aber auch sagen, dass natürlich die Besetzung des Kommissionspräsidenten eine Entscheidung der Mehrheit des Europäischen Rates ist, und wenn die Mehrheit des Europäischen Rates sich für einen Kandidaten ausspricht, dann müssen natürlich alle Mitglieder damit leben können. So sind die Verträge, man hat bestimmte Mehrheitsentscheidungen und diese Mehrheitsentscheidungen muss man dann auch respektieren.
    Engels: Wenn aber Großbritannien hart bleibt, raten Sie dann dazu, Juncker als Kandidaten zurückzuziehen?
    Wolff: Ich denke, man muss da mal ein ernstes Wort mit den Briten diskutieren. Ich glaube aber nicht, dass man das leichtfertig machen kann. Man muss schon den Willen der Wähler auch ernst nehmen, und wir haben das jetzt so strukturiert, diese Wahl, dass es um den Spitzenkandidaten ging, und wenn man das jetzt ignoriert, dann hat letzten Endes man schon auch ein sehr schlechtes Signal an alle Wähler in ganz Europa. Insofern würde ich da schon eher hart bleiben.
    Engels: Es gibt einige Regierungschefs, die sich für Juncker aussprechen, es gibt einige, die haben sich gegen ihn ausgesprochen, und dann gibt es einige, die haben sich noch nicht festgelegt. Der italienische Ministerpräsident Renzi kann sich beispielsweise vorstellen, für Juncker zu stimmen, knüpft das aber an einen Kurswechsel der europäischen Wirtschaftspolitik. Beginnt hier jetzt das Geschacher hinter den Kulissen, zu welchem Preis man Juncker akzeptiert?
    Eine EU, in der politische Entscheidungen gefällt werden
    Wolff: Na gut, ich sage mal so: Das Geschacher ist ein negativer Ausdruck. Ich würde es eher positiv wenden. Was wir jetzt eigentlich sehen ist: Wir sehen eine politische Diskussion über den weiteren Kurs der Europäischen Union, und diese politische Diskussion ist ja auch erst mal das, was überhaupt wünschenswert ist und was auch wünschenswert ist, gerade weil wir diese Spitzenkandidaten haben. Wir haben eben nicht mehr eine EU, die nur ein abstraktes Regelwerk ist, wo man den Regeln folgt, und das ist es, sondern wir haben eine EU, in der tatsächlich politische Entscheidungen gefällt werden, und da geht es dann auch um politische Entscheidungen über den richtigen Kurs. Insofern ist das eigentlich eine natürliche Entwicklung, die wir hier sehen. Wir sehen eine Entwicklung hin zu einer politischeren Union, und das ist auch notwendig, weil wir politischer geworden sind und viel, viel politischere Entscheidungen inzwischen auch fällen.
    Engels: Das heißt, der Krach zwischen Parlament und Europäischem Rat, der muss jetzt einfach mal geführt werden, um auch die Gemeinschaft voranzubringen?
    Wolff: Ja, ich sehe das grundsätzlich erst mal positiv. Genau! Wir haben einen Krach um den weiteren politischen Weg, die politischen Entscheidungen: mehr Investitionen, weniger Investitionen, mehr Deregulierung, mehr Standardisierung, weniger Deregulierung und so weiter. All das sind diese Entscheidungen, die tatsächlich ja auch gefällt werden de facto und zu denen man im Prinzip einen demokratischen Prozess braucht, und das heißt letztendlich natürlich auch Streit zwischen den Leuten.
    "Verträge müssen nachgebessert werden"
    Engels: Auf der anderen Seite gibt es ja auch Stimmen, beispielsweise die Grünen-Politikerin Keller, die vorschlägt, den Lissabon-Vertrag zu ändern, damit die Bestimmung des Kommissionspräsidenten eindeutiger wird. Im Moment ist das ja in der Tat ein Zwitter: Das Vorschlagsrecht liegt beim Rat, die Wahl muss durch das Parlament erfolgen. Hat man hier einen Fehler bei den Verträgen gemacht, muss man hier nachbessern?
    Wolff: Ja. Ich denke, die Verträge müssen nachgebessert werden. Aber das ist nicht etwas, was jetzt auf der Agenda steht, sondern das ist etwas, was wir in den nächsten fünf Jahren angehen müssen, und die Verträge müssen dann auch in der Richtung geändert werden, dass wir es auch schaffen, bestimmte Entscheidungen noch stärker zu zentralisieren und andere Entscheidungen aber auch wiederum zu dezentralisieren. Da hat das Vereinigte Königreich durchaus auch Recht, wenn sie sagen, zu viel wird schon in Brüssel reguliert. Wir müssen diesen Mix verbessern. Einige Sachen müssen auf europäischer Ebene besser gemacht werden und stärker gemacht werden, andere mehr auf nationaler Ebene, und das muss man vertraglich regeln und muss dann aber auch vertraglich die demokratische Fundierung der Entscheidungsprozesse, die in Europa passieren, stärken. Insofern, denke ich, brauchen wir diese Vertragsänderung und in dieser Vertragsänderung muss man dann natürlich auch klarer definieren, wer eigentlich den Chef der europäischen Exekutive bestimmt.
    Engels: Wir sprachen mit Guntram Wolff, er ist Direktor des Bruegel-Instituts. Das ist ein renommierter und unabhängiger Think Tank in Brüssel. Vielen Dank für Ihre Zeit.
    Wolff: Vielen Dank!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.