Silvia Engels: Der scheidende EU-Ratspräsident Tusk war Anfang der Woche mit dabei im Ringen um ein Personaltableau für die EU-Spitzenpositionen. Heute warb er im EU-Parlament in Straßburg um Zustimmung, denn die als EU-Kommissionspräsidentin nominierte Ursula von der Leyen muss dort eine Mehrheit finden. Das ist nicht leicht, denn viele Abgeordnete fühlen sich vor den Kopf gestoßen, seitdem für den Kommissionsvorsitz niemand aus dem Kreis der EU-Spitzenkandidaten vorgeschlagen wurde.
Mitgehört am Telefon hat Professor Gero Neugebauer, Politikwissenschaftler von der FU Berlin, emeritiert mittlerweile. Ich grüße Sie, Herr Neugebauer.
Gero Neugebauer: Frau Engels, guten Tag!
Engels: Wir haben es gerade gehört. Die deutschen Sozialdemokraten stellen sich eindeutig gegen Frau von der Leyen. Doch im EU-Parlament selber schätzt unsere Korrespondentin die Lage halbe-halbe ein. Deckt sich das mit Ihren Einschätzungen?
Neugebauer: Na ja, man muss ja sehen: Es gibt ja nicht die europäische Sozialdemokratie, sondern es gibt sehr verschiedene sozialdemokratische Parteien in Europa. Manche haben Erfolg wie in Portugal, in Spanien oder auch in Dänemark; manche eilen von Niederlage zu Niederlage wie in Deutschland oder Österreich; manche gibt es fast gar nicht mehr wie die französischen. Insofern denke ich mir, dass die Entscheidungsfindung auch in der Fraktion schwierig sein wird.
Engels: Nehmen wir zum Beispiel die spanischen Sozialdemokraten. Die haben ja eine recht starke Position. Der regierende Ministerpräsident Sanchez ist zum Beispiel selbst Sozialdemokrat in Madrid und er hat im Rat der Personalie von der Leyen zugestimmt. Werden sich folglich auch seine Parteifreunde im Parlament dem anschließen?
Neugebauer: Man kann davon ausgehen, dass die spanischen Sozialisten das machen werden, weil sie ihn nicht desavouieren wollen. Und man muss möglicherweise auch sehen, dass dort andere Interessen ins Spiel kommen. Wenn man sich erinnert, dass es Gespräche zwischen den spanischen Sozialisten oder zwischen Sanchez und Macron vor der letzten Wahl gegeben haben soll, dann fragt man sich, ob ohnehin die Koordination in der europäischen Sozialdemokratie so gut gelaufen ist, dass man sagen konnte, nein, wir stehen alle hinter unserem Kandidaten Timmermans und wir werden nicht irgendeinen anderen Affront akzeptieren, wie es gegenwärtig ja der Fall sein könnte.
"Europäische Sozialdemokratie redet mit nationalen Zungen"
Engels: Ist das nicht genau das Problem ohnehin, dass eigentlich, trotz aller Unabhängigkeit des EU-Parlaments, hier nationale Regierungen schon sehr wohl Druck auf die Parlamentarier ausüben, egal aus welcher Parteienfamilie?
Neugebauer: Ja nun, es gibt einmal den formalen Grund, weil das Nominierungsrecht immer noch beim Rat sitzt. Und der andere ist, dass in der Tat die europäische Sozialdemokratie oder die Parteien immer noch sehr stark mit nationalen Zungen reden, weil sie haben nationale Interessen, die sie durchsetzen möchten. Das beginnt bei Personen bis hin zu programmatischen Sachen. Insofern ist das schwierig und das Spitzenkandidaten-Prinzip hat ja auch noch zwar seine argumentativen Stärken, aber eine besondere Schwäche liegt ja darin, dass es nicht ein Kandidat einer gemeinsamen Liste der europäischen Sozialdemokratie oder der Europäischen Volkspartei ist, sondern es ist ein Kandidat, der auf einem Kongress bestätigt wurde. Aber wir haben keine internationale europäische Liste, wo dann Timmermans an erster, Barley an zweiter und ein griechischer Kandidat an dritter Stelle steht.
Engels: Laufen die deutschen Sozialdemokraten, die sich ja gerade sehr stark gegen Frau von der Leyen positionieren, Gefahr, damit eine Niederlage nicht nur im EU-Parlament zu erfahren, sondern sogar innerhalb der SPE-Fraktion?
Neugebauer: Ich denke, dass die Sozialdemokraten Deutschlands sehen, dass ihre Position, da sie sehr stark vom Verhalten in der Koalition bestimmt sein wird, nicht so sehr auf Zustimmung stoßen kann bei den europäischen Sozialdemokraten und dass sie sich da zurückziehen werden. Möglicherweise hängt das auch, wie ja in dem Gespräch vorher schon erwähnt wurde, von den Fähigkeiten von Frau von der Leyen ab, auf sozialdemokratische Programmpunkte zu dieser Wahl einzugehen. Und wenn man weiß, diese Wahl ist ja eher gelaufen unter dem Gesichtspunkt mehr oder weniger Europa und nicht so sehr unter dem Personalaspekt – ein Viertel der Wählerinnen und Wähler haben die Spitzenkandidaten gekannt, der Rest nicht, und in der Regel werden ja auch Programme und Positionen gewählt und nicht Personen -, denke ich, dass da durchaus eine Änderung eintreten kann. Aber gut, wie Sie ja wissen: Eine Suppe wird nie so heiß gegessen, wie sie gekocht wird.
"Aushandeln von Interessen und Positionen"
Engels: Schauen wir noch mal auf die anderen Parteienfamilien. Man rechnet ja damit, dass die Liberalen mehrheitlich aus dem Europäischen Parlament sich durchaus mit der Personalie von der Leyen anfreunden können. Wäre das dann nicht umgekehrt wieder ein Rückschlag für die deutsche FDP, die hier ja in Opposition immer zu Frau von der Leyen stand?
Neugebauer: Ja, aber da wird die FDP auch ihr Gewicht bei den europäischen Liberalen einschätzen und sehen müssen, dass sie möglicherweise in einem Punkt, wo es dann nicht so sehr auf sie ankommt, nachgeben kann, um bei anderen Sachen Erfolg zu erreichen. Es ist immer auch ein Aushandeln von Interessen und Positionen. Ein bisschen Basar-Charakter hat das dann schon. Ich denke, da ist Lindner erfahren genug, um zu sagen, das kann er akzeptieren und das nicht.
Engels: Das heißt, die einzigen, die da möglicherweise geschlossen dagegen stimmen, könnten die Grünen werden, einfach weil hier kein Regierungschef sich für das Personaltableau von der Leyen im Rat ausgesprochen hat, weil einfach die Grünen keinen Regierungschef stellen. Ist da die grüne Fraktion die einzige von den großen Fraktionen im EU-Parlament, von der man geschlossene Ablehnung erwarten kann?
Neugebauer: Nach der gegenwärtigen Datenlage ja. Aber wie gesagt: Sie haben zwei Wochen Zeit. Man kann aber im Moment davon ausgehen, dass das in der Tat so laufen wird.
"Spitzenkandidaten ein immer stärkeres Argument bei Wahlen"
Engels: Sie haben es eben schon angesprochen. Es geht ja auch viel um das Prinzip der Spitzenkandidaten. Das ist nirgendwo verankert bisher in den europäischen Verträgen. Die Parlamentarier haben in den letzten Jahren de facto Macht in diese Richtung aufgebaut und um Zustimmung dafür geworben, auch nicht zuletzt mit dem Blick auf die hohe Wahlbeteiligung, die ja offenbar dafür spricht, dass die Menschen sich das wünschen, dass sie zumindest bei der Auswahl über diesen indirekten Weg mitzureden haben. Wie stark wird dieses Prinzip jetzt beschädigt und muss das den Parlamentariern auch Gedanken machen, dass sie vielleicht doch damit ihre Wähler brüskieren?
Neugebauer: Es ist ja 2014 das erste Mal so stark betont worden, damals mit Juncker, und es ist als ein Zeichen für die Demokratisierung des Parlaments gewertet worden. Insofern tut das Parlament gut daran, diesen Faktor auch aufzuwerten. Aber man müsste dann auch den nächsten Schritt machen und die Parteifamilien müssten sich bereitfinden zu sagen, okay, wenn wir die nächsten Wahlen so organisieren, dass wir als Spitzenkandidat jemanden haben und gleiche Listen in jedem Land, dann ist die Argumentation viel stärker. Aber dann geht natürlich auch der nächste Schritt: Veränderung wieder des Vertrages. Da ist man, glaube ich, kaum bereit, den einen Stein rauszuziehen, um den ganzen Haufen nicht zusammenbrechen zu lassen. Aber richtig ist: Spitzenkandidat, Orientierung auf Spitzenkandidaten wird immer ein stärkeres Argument bei Wahlen. Spitzenkandidaten können mobilisieren, können Empathie erzeugen, und insofern wollen auch bestimmte Strategen gar nicht darauf verzichten. Und es kann dann auch gewertet werden als eine größere Zustimmung der Bürger, zumindest derer, die zur Wahl gehen, zum Europäischen Parlament und damit auch zur Europäischen Union.
Engels: Wird denn nach Ihrem Überblick dieses Spitzenkandidaten-Prinzip überall im EU-Parlament so stark verteidigt, wie es ausgerechnet von deutschen Abgeordneten verteidigt wird?
Neugebauer: Ich sage mal ganz unvorsichtig: Nein! Aber ich gebe zu, nicht den totalen Überblick zu haben, um wirklich eine fundierte Aussage machen zu können.
Engels: Jetzt noch mal eine Schätzfrage. Wird von der Leyen am Ende es schaffen oder nicht?
Neugebauer: Ja, sie wird es schaffen. Sie wird es auch deshalb schaffen, weil auch unter den deutschen Sozialdemokraten welche sagen werden, sie vertritt zwar einerseits eine Position, die nicht die unsere ist, aber andererseits hat sie Positionen (ich meine jetzt nicht im Verteidigungsbereich) in der Sozialpolitik, die wir akzeptieren können. Wenn Frau von der Leyen als überzeugte Europäerin auch in der Lage ist, eine Stimmung zu erzeugen, die dazu führt, dass der europäische Gedanke, um das mal so zu formulieren, auch stärker Widerhall findet in den europäischen Ländern, in den Ländern der EU, dann ist das auch eine gute Wahl. Aber wie gesagt, es sind immer noch Wenns dabei. Nur nach meiner Einschätzung wird sie eine Mehrheit bekommen.
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