Der ehemalige belgische Premierminister erinnerte daran, dass die USA das FBI auch als Reaktion auf einen Anschlag gegründet hätten - nämlich nach der Ermordung von Präsident McKinley im Jahr 1901. Eine solche Behörde mit nachrichtendienstlichen, investigativen Kapazitäten sei nach den Anschlägen von Paris und Brüssel auch in Europa nötig. "Die Terroristen kennen keine Grenzen, während unsere Sicherheits- und Nachrichtendienste durch Grenzen behindert werden", sagte Verhofstadt im DLF.
Dem Ziel, für mehr Sicherheit zu sorgen, müssten die Mitgliedstaaten ihre Souveränität unterordnen: "Vor der Wahl zwischen Souveränität und Sicherheit sollten wir uns für die Sicherheit entscheiden."
Verhofstadt kritisierte, dass die EU die Ursachen des Terrorismus zu lange geleugnet habe - nämlich den Konflikt in Syrien und die Ausbreitung der Terrormiliz "Islamischer Staat". Auch der Krieg im Irak sei ein großer Fehler gewesen.
Das Interview mit Guy Verhofstadt in der Originalsprache Französisch können sie ebenfalls sechs Monate nachhören.
Das Interview in voller Länge:
Christoph Heinemann: Vor dieser Sendung haben wir Guy Verhofstadt erreicht. Der frühere belgische Ministerpräsident leitet heute die Fraktion der Liberalen im Europäischen Parlament. Haben die Anschläge vom 22. März Belgien verändert?
Guy Verhofstadt: Ich weiss nicht, ob sie Belgien verändert haben. Aber ich hoffe, dass sie Europa verändern werden.
Heinemann: In welche Richtung?
Verhofstadt: Wir stellen zum x-ten Mal fest, dass wir in den Bereichen Sicherheit und Kampf gegen den Terrorismus ein anderes Europa benötigen. Und sicherlich nicht ein Europa der Nationalstaaten, die nicht miteinander reden und keine Informationen austauschen. Nicht angesichts der Tragödien von Paris und Brüssel.
Heinemann: Welche Änderungen befürworten Sie?
Verhofstadt: Wir benötigen ein Europa der Sicherheit und des Kampfes gegen den Terrorismus. Wir benötigen nachrichtendienstliche, investigative Kapazitäten auf europäischer Ebene. Genau das, was die USA nach einem Terrorangriff, nach der Ermordung von Präsident McKinley 1901 gemacht haben. Die haben damals gesagt: Zwar sind die Bundesstaaten für Polizei und Nachrichtendienste zuständig. Aber wir benötigen eine entsprechende Bundesbehörde. Deshalb wurde das FBI gegründet.
Heinemann: Die belgische Transportministerin musste zurücktreten. Gibt es in Belgien auf Sicherheitsebene Nachlässigkeiten?
Verhofstadt: Dazu kann ich nicht viel sagen, da dies eine parlamentarische Untersuchungskommission seit der vergangenen Woche sehr detailliert untersucht.
"Wir benötigen Kapazitäten auf europäischer Ebene"
Heinemann: Viele Menschen fragen sich, wieso die belgischen Behörden Hinweise etwa aus der Türkei nicht berücksichtigt haben?
Verhofstadt: Im Fall der Anschläge in Belgien verfügten die Türken, aber auch Niederländer und Schweden über Informationen, die teilweise nicht nach Belgien übermittelt wurden. Dasselbe geschah vor dem Anschlag in Paris im Bataclan-Saal. Die Franzosen haben einen Verdächtigen in Cambrai festgenommen, den sie aber nicht kannten. Die belgischen Behörden kannten ihn, hatten diese Informationen aber nicht nach Frankreich übermittelt. Deshalb benötigen wir Kapazitäten auf europäischer Ebene.
Heinemann: Der türkische Präsident hat gesagt, im Fall des mutmaßlichen Selbstmordattentäters Ibrahim El Bakraoui hätten die Türken die Belgier gewarnt. Diese hätten darauf aber nicht reagiert.
Verhofstadt: Das ist einer der Punkte, der von der parlamentarischen Untersuchungskommission bearbeitet wird. Aber dies beweist, dass die Terroristen keine Grenzen kennen, während unsere Sicherheits- und Nachrichtendienste durch Grenzen behindert werden.
Heinemann: Die nationalen Behörden müssen allerdings auch ihre Hausaufgaben machen: Salah Abdeslam, ein mutmaßlicher Attentäter von Paris, lebte monatelang quasi zu Hause im Brüsseler Stadtteil Molenbeek. Wie ist so etwas möglich?
Verhofstadt: Entschuldigung, aber auch das untersucht die Kommission. Sie wird sich anschauen, was geklappt hat und was nicht. Und sie wird daraus Schlussfolgerungen ziehen. Daneben muss man sich natürlich mit den Ursachen des Terrorismus beschäftigen, dem Konflikt in Syrien. Jahrelang wurde dieser Konflikt geleugnet. Man hat sich geweigert, der demokratischen moderaten Opposition zu helfen. Die Folge war die tragische Flüchtlingskrise. Eine andere Folge ist der Terrorismus des "Islamischen Staates", der ursprünglich aus dem Irak stammt und sich in Syrien und in Europa verbreitet hat.
"Auf jeden Fall darf man die islamische Gemeinschaft nicht stigmatisieren"
Heinemann: Der belgische Innenminister Jambon hat gesagt, ein bedeutender Teil der muslimischen Bevölkerung habe nach Bekanntwerden der Anschläge gefeiert.
Verhofstadt: Er hat das inzwischen berichtigt. Was er gesagt hat, wurde offenbar nicht richtig verstanden oder geschrieben. Über das, was er gesagt hat, herrscht Verwirrung. Auf jeden Fall darf man die islamische Gemeinschaft nicht stigmatisieren. Auf der anderen Seite muss man die radikalen Netzwerke, die überall in Europa bestehen, bekämpfen und auch die Radikalisierung.
Heinemann: Haben die Anschläge das Verhältnis zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen in Belgien verändert?
Verhofstadt: Hoffentlich nicht. Das wäre tragisch. Man darf die Menschen, die in unserer Gesellschaft leben und manchmal sehr gut integriert sind, nicht verwechseln mit dem radikalisierten Teil. Diese Radikalisierung ist einerseits durch den Krieg im Irak entstanden. Das war ein großer Fehler. Nur drei Regierungen in Europa, Deutschland, Frankreich und Belgien haben sich damals erbittert dagegen gewehrt. Eine andere Ursache ist das Nicht-Eingreifen in Syrien. Wir müssen den Terrorismus bekämpfen. Wir müssen aber auch einsehen, welche Folgen es haben kann, wenn wir in unserer Nachbarschaft keine Verantwortung übernehmen oder riesige Fehler begehen, wie im Irak. Das erleben wir gerade.
Heinemann: Die nationalistischen Parteien verspüren Auftrieb. Profitiert in Belgien der Vlaams Belang von diesen Anschlägen?
Verhofstadt: Wir sehen, dass die populistischen und nationalistischen Parteien überall in Europa wegen solcher Ereignisse zulegen. Einerseits sind Menschen zugänglich für diese nationalistische und populistische Rhetorik. Es ist so einfach, zu sagen, diesen Terrorismus gibt es nur wegen Europa, was vollkommen unsinnig ist. In vielen Ländern, gerade auch in Südeuropa, herrscht andererseits die Meinung vor, dass wir die Europäischen Union stärken, reformieren, verändern und die Integration und die europäische Zusammenarbeit vertiefen müssen. Gerade auch um den Terrorismus bekämpfen zu können. Vor der Wahl zwischen Souveränität und Sicherheit, sollten wir uns für die Sicherheit entscheiden. Mit nationaler Souveränität werden wir den Terrorismus nicht bekämpfen und unsere Sicherheit nicht bewahren können. Terroristen kennen keine Grenzen, keine nationale Souveränität, die kennen nur den Tod.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.