Doris Simon: Streit ist programmiert heute auf dem europäischen Gipfel in Brüssel. Dafür sind die Positionen der 27 EU-Regierungen, der Europäischen Kommission und des Europäischen Parlamentes zum Haushalt der Europäischen Union, zum Rahmen 2014 bis 2020, einfach zu unterschiedlich und zu festgefahren. Vorher wird aber noch gebeichtet, bereits in einer Stunde beginnen die Einzelgespräche mit den Regierungschefs im sogenannten Beichtstuhl-Verfahren. Bei denen wollen die Präsidenten von Europäischer Kommission und Rat, Barroso und van Rompuy, ausloten, ob und wenn ja welchen Spielraum es denn gibt für eine Einigung auf diesen mehrjährigen Finanzrahmen. Egal wie also, Einstimmigkeit muss her zwischen den 27 Ländern. Und das Europäische Parlament muss zustimmen, sonst gibt es keinen Haushaltsrahmen 2014 bis 2020.
- Am Telefon ist jetzt Martin Schulz, der Präsident des Europäischen Parlamentes. Guten Morgen.
Martin Schulz: Guten Morgen, Frau Simon.
Simon: Herr Schulz, so unterschiedliche Forderungen – wie sind denn die auf einen Nenner zu bringen, wo ist da der Kompromiss?
Schulz: Ich glaube, dass das sehr schwierig wird, einen Kompromiss zu finden. Wenn man davon ausgeht, dass man unter die Zahlen, die die Kommission vorgelegt hat, deutlich runtergehen will. Dann wird es eben so sein, dass die Interessenlagen, die ja geschildert worden sind, so unterschiedlich sind, weil dann ja umgeschichtet werden muss. Dann müssen Sie von der Landwirtschaft was kürzen zum Beispiel, da wird Frankreich nicht mitmachen. Da werden Sie die Kohäsion kürzen müssen, da werden die Kohäsionsstaaten nicht mitmachen. Also, das wird dann sehr, sehr schwierig werden. Deshalb war ja der Kommissionsvorschlag, wie ich fand, ein sehr sinnvoller Kompromissvorschlag. Und wenn der halt um 80 Milliarden gekürzt werden soll, dann sehe ich nicht, wie man sich da heute einigt.
Simon: Sie sagen, der Kommissionsvorschlag war sehr sinnvoll. Aber eine ganze Reihe Länder finden das zu hoch. Was spricht denn gegen den Kompromissvorschlag des Ratspräsidenten, Einsparungen von zwei Prozent?
Schulz: Ich glaube, dass Herman van Rompuy versucht, eine Quadratur des Kreises zu erreichen. Man muss das noch mal sagen: Sie brauchen für eine dramatische Kürzung der Landwirtschaft – das ist bei van Rompuy vorgesehen – die Zustimmung Frankreichs. Ich glaube nicht, dass es die geben wird. Und man braucht die Einstimmigkeit. Sagen Sie den Franzosen, na gut, dann behaltet eure Landwirtschaft, dann müssen Sie halt bei den Kohäsionsländern kürzen. Das sind aber genau die, die ja schon in einer tiefen Rezession stecken, wie Spanien, Portugal, Griechenland. Oder es sind dynamisch wachsende Wirtschaften wie Polen, deren Wachstum Sie abwürgen würden. Deren Zustimmung kriegen Sie auch nicht. Dann können Sie nur noch sagen, okay, dann kürzen wir bei der Innovation, bei der Forschung, bei der Qualifizierung, beim Jugendaustausch. Das sind aber die Prioritäten der Deutschen, übrigens auch der Engländer. Denken Sie mal an EADS, "Galileo", da lebt dieses Unternehmen ja mit, das satellitengestützte Navigationssystem "Galileo" soll darüber finanziert werden. Dann müssen Sie da streichen, das werden die Deutschen nicht wollen, die Franzosen nicht, die Engländer nicht. Also Sie kriegen da, wenn Sie diesen populistischen Forderungen nachgeben - überall muss gekürzt werden, dann auch in Brüssel, ja bitte, aber dann müssen die Regierungschefs sagen wo -, keinen gemeinsamen Nenner hin und das ist ihr Problem. Und deshalb glaube ich, dass es sehr, sehr schwierig wird, einen Kompromiss heute zu finden.
Simon: Sie sprechen von populistischen Forderungen nach Kürzungen. Aber es sind ja nicht nur die Regierungen in etlichen Ländern, es sind ja auch die Bürger, die nicht unbedingt akzeptieren wollen, dass der EU-Haushalt steigt, wenn zuhause überall gespart wird.
Schulz: Stimmt ja auch nicht. Den Bürgern wird in dieser Hinsicht, finde ich, auch etwas vorgegaukelt. Der EU-Haushalt ist in den letzten Jahren weniger gewachsen als die nationalen Haushalte. Unser Haushalt, für den ich ja Mitverantwortung trage, ist im Schnitt um 1,9 Prozent gewachsen in den vergangenen Jahren. Im Durchschnitt sind die nationalen Haushalte um drei Prozent gewachsen, 2,8 bis drei Prozent. Das heißt, die nationalen Haushalte sind alle mehr gewachsen als der EU-Haushalt. Im übrigen Mal zu einer konkreten Ziffer: Der EU-Haushalt beträgt zwei Prozent der Gesamtausgaben aller Staaten der Europäischen Union. Das heißt, in den 27 Mitgliedsländern der Europäischen Union, Deutschland bis Zypern, wird 50 Mal so viel über nationale Haushalte ausgegeben wie in Brüssel. Wenn Sie dann den Leuten erzählen, mit einer Kürzung in Brüssel sanieren wir uns zuhause, ich meine, dann braucht man den Leuten wirklich keinen Sand in die Augen zu streuen. Mit einer Kürzung von einer halben Milliarde, die Deutschland vielleicht am Ende dann da einspart pro Jahr, da kriegen Sie den Bundeshaushalt nicht saniert, aber Sie kriegen in Brüssel viele Zukunftsprojekte zerstört.
Simon: Ein finnischer Politiker hat ja eingangs der Woche – wir hatten diesen O-Ton vorhin gehört – vom "Brusttrommeln a la Tarzan" der Regierungen gesprochen. Wie gefährlich sind solche Rituale, angesichts der Europaverdrossenheit und auch ganz praktisch jetzt bei der Kompromisssuche?
Schulz: Extrem gefährlich. Das, was da läuft, auch dieses sogenannte Beichtstuhl-Verfahren, auch viele Äußerungen in Berlin ...
Simon: Beichtstuhl-Verfahren muss man vielleicht noch mal sagen, wenn da jeder Regierungschef noch mal abgefragt wird, wo er denn Spielräume hat.
Schulz: Na ja, das ist ja auch schon so ein Begriff, dieses Beichtstuhl-Verfahren. Heute Morgen beginnt der Herr van Rompuy und der Herr Barroso damit, sich mit jedem einzelnen Regierungschef einzeln zu treffen, um mal zu hören, wo sind denn die nationalen Besonderheiten, wo sind die nationalen Befindlichkeiten, wo sind die besonderen Wünsche. Ich finde, schon alleine dieses Verfahren zeigt, die sind nicht in der Lage, in Gemeinsamkeit zu diskutieren, sondern vorher wird überall abgefragt, sagt uns doch mal, wo sind euere roten Linien, wo ist euer Drohpotenzial.
Nehmen Sie Herrn Cameron. Herr Cameron, der geht in eine solche Verhandlungsrunde, angebliche Verhandlungsrunde mit dem Satz, entweder ihr nehmt meine Forderungen oder ihr bekommt mein Veto. Das ist ja keine Verhandlung, das ist ein Ultimatum. Also in einer solchen Atmosphäre einen europäischen Gemeinschaftsgeist zu entwickeln, das ist nicht einfach. Und ich will Ihnen hier ganz klar etwas sagen: Da sind die 27 Regierungschefs der Europäischen Union, also die Vertreter der Nationalstaaten und der nationalen Politiken. Wenn die sich aber heute nicht einigen, wird morgen in allen Agenturen und Zeitungen stehen: "Europa scheitert". Es sind nicht die europäischen Institutionen, sondern es ist die Unfähigkeit zum Kompromiss, die die Haltung vieler Regierungschefs prägt.
Simon: Aber Herr Schulz, in puncto Drohpotenzial ist ja das Europäische Parlament auch immer ganz vorne dabei – nach dem Motto: Wenn das nicht so läuft, wie wir das haben wollen, dann werden wir dem nicht zustimmen. Das gilt ja auch für diesen Haushalt.
Schulz: Das stimmt nicht. Wir haben viele, viele konstruktive Vorschläge gemacht, wir sind zu vielen Kompromissen bereit und bereit gewesen. Aber ich gebe Ihnen gerne ein kleines Beispiel. Ich habe in der vergangenen Woche ungefähr 20 bis 30 Arbeitsstunden damit zubringen müssen, dafür zu sorgen, dass eine von 27 Regierungschefs beschlossene Hilfe für die Erdbebenopfer in Italien, mit großem Aplomb verabschiedet im Juni, auf dem Juni-Gipfel, bis in dieser Woche, bis gestern nicht ausbezahlt wurde mit der Begründung, na ja, wir haben es versprochen, aber findet ihr da mal in Brüssel das Geld. Das war zusätzliches Geld, das den italienischen Erdbebenopfern versprochen worden war, wurde dann nicht ausgezahlt. Und das führt dann zu Situationen, dass wir im Parlament sagen, entweder ihr steht jetzt zu eurem Versprechen oder wir können hier keinen Haushalt verabschieden. Wenn das ein Drohpotenzial ist, dann ist das Ihre Interpretation. Meine Interpretation ist, das ist das Umsetzen von Versprechungen, die Regierungschefs inklusive der deutschen Regierungschefin machen und anschließend nicht einhalten.
Simon: Martin Schulz, wenn es heute aller Voraussicht nach auf dem EU-Gipfel zum Haushaltsrahmen bis 2020 keine Einigung gibt, wie sieht denn der Plan B aus? Vertagen oder wenn alles scheitert vielleicht am Ende ein Haushalt, der nicht mehr alle 27 einschließt?
Schulz: Nein. Es geht ja um die Finanzplanung auf sieben Jahre. Wenn die sich da heute nicht einigen können, rate ich dazu, dass man einen neuen Anlauf macht. Manchmal kann man sich halt im ersten Anlauf nicht einigen. Wenn es dann im zweiten Anlauf keine Einigung gibt, na gut: Dann verabschieden wir halt jedes Jahr Haushalte. Also man muss keine siebenjährige Finanzplanung haben, man kann auch jedes Jahr einen Haushalt aufs neue verabschieden. Das wird dann zwar aufwendiger und schwieriger, aber ist auch möglich. Nur noch mal: Die Differenz, über die wir am Ende reden, Frau Simon, ist, ob wir pro Jahr 133 Milliarden unter 27 Staaten ausgeben oder 138 Milliarden. Es geht um eine Differenz von fünf Milliarden, verteilt auf 27 Staaten. Sie werden, glaube ich, nachvollziehen können, wenn ich sage, da müsste eigentlich ein Kompromiss möglich sein bei einem bisschen guten Willen. Und wenn der zustande kommt in dieser Spannbreite zwischen 133 und 138 Milliarden, wird auch das Europaparlament zustimmen. Wenn aber die Staats- und Regierungschefs immer wieder neue Ziele definieren, was Europa alles leisten soll, die Europa starkmachen in der Welt, eine europäische Forschungspolitik entwickeln, eine europäische Gesundheitspolitik entwickeln, das wird jedes Jahr neu propagiert und dann wird in den Haushaltsberatungen gesagt, das Geld dafür, das geben wir euch nicht, dann können Sie auch nicht verlangen, dass Volksvertreter da zustimmen.
Simon: Martin Schulz war das, der Präsident des Europäischen Parlamentes. Vielen Dank, Herr Schulz, für das Gespräch.
Schulz: Danke Ihnen, Frau Simon.
Simon: Auf Wiederhören.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
- Am Telefon ist jetzt Martin Schulz, der Präsident des Europäischen Parlamentes. Guten Morgen.
Martin Schulz: Guten Morgen, Frau Simon.
Simon: Herr Schulz, so unterschiedliche Forderungen – wie sind denn die auf einen Nenner zu bringen, wo ist da der Kompromiss?
Schulz: Ich glaube, dass das sehr schwierig wird, einen Kompromiss zu finden. Wenn man davon ausgeht, dass man unter die Zahlen, die die Kommission vorgelegt hat, deutlich runtergehen will. Dann wird es eben so sein, dass die Interessenlagen, die ja geschildert worden sind, so unterschiedlich sind, weil dann ja umgeschichtet werden muss. Dann müssen Sie von der Landwirtschaft was kürzen zum Beispiel, da wird Frankreich nicht mitmachen. Da werden Sie die Kohäsion kürzen müssen, da werden die Kohäsionsstaaten nicht mitmachen. Also, das wird dann sehr, sehr schwierig werden. Deshalb war ja der Kommissionsvorschlag, wie ich fand, ein sehr sinnvoller Kompromissvorschlag. Und wenn der halt um 80 Milliarden gekürzt werden soll, dann sehe ich nicht, wie man sich da heute einigt.
Simon: Sie sagen, der Kommissionsvorschlag war sehr sinnvoll. Aber eine ganze Reihe Länder finden das zu hoch. Was spricht denn gegen den Kompromissvorschlag des Ratspräsidenten, Einsparungen von zwei Prozent?
Schulz: Ich glaube, dass Herman van Rompuy versucht, eine Quadratur des Kreises zu erreichen. Man muss das noch mal sagen: Sie brauchen für eine dramatische Kürzung der Landwirtschaft – das ist bei van Rompuy vorgesehen – die Zustimmung Frankreichs. Ich glaube nicht, dass es die geben wird. Und man braucht die Einstimmigkeit. Sagen Sie den Franzosen, na gut, dann behaltet eure Landwirtschaft, dann müssen Sie halt bei den Kohäsionsländern kürzen. Das sind aber genau die, die ja schon in einer tiefen Rezession stecken, wie Spanien, Portugal, Griechenland. Oder es sind dynamisch wachsende Wirtschaften wie Polen, deren Wachstum Sie abwürgen würden. Deren Zustimmung kriegen Sie auch nicht. Dann können Sie nur noch sagen, okay, dann kürzen wir bei der Innovation, bei der Forschung, bei der Qualifizierung, beim Jugendaustausch. Das sind aber die Prioritäten der Deutschen, übrigens auch der Engländer. Denken Sie mal an EADS, "Galileo", da lebt dieses Unternehmen ja mit, das satellitengestützte Navigationssystem "Galileo" soll darüber finanziert werden. Dann müssen Sie da streichen, das werden die Deutschen nicht wollen, die Franzosen nicht, die Engländer nicht. Also Sie kriegen da, wenn Sie diesen populistischen Forderungen nachgeben - überall muss gekürzt werden, dann auch in Brüssel, ja bitte, aber dann müssen die Regierungschefs sagen wo -, keinen gemeinsamen Nenner hin und das ist ihr Problem. Und deshalb glaube ich, dass es sehr, sehr schwierig wird, einen Kompromiss heute zu finden.
Simon: Sie sprechen von populistischen Forderungen nach Kürzungen. Aber es sind ja nicht nur die Regierungen in etlichen Ländern, es sind ja auch die Bürger, die nicht unbedingt akzeptieren wollen, dass der EU-Haushalt steigt, wenn zuhause überall gespart wird.
Schulz: Stimmt ja auch nicht. Den Bürgern wird in dieser Hinsicht, finde ich, auch etwas vorgegaukelt. Der EU-Haushalt ist in den letzten Jahren weniger gewachsen als die nationalen Haushalte. Unser Haushalt, für den ich ja Mitverantwortung trage, ist im Schnitt um 1,9 Prozent gewachsen in den vergangenen Jahren. Im Durchschnitt sind die nationalen Haushalte um drei Prozent gewachsen, 2,8 bis drei Prozent. Das heißt, die nationalen Haushalte sind alle mehr gewachsen als der EU-Haushalt. Im übrigen Mal zu einer konkreten Ziffer: Der EU-Haushalt beträgt zwei Prozent der Gesamtausgaben aller Staaten der Europäischen Union. Das heißt, in den 27 Mitgliedsländern der Europäischen Union, Deutschland bis Zypern, wird 50 Mal so viel über nationale Haushalte ausgegeben wie in Brüssel. Wenn Sie dann den Leuten erzählen, mit einer Kürzung in Brüssel sanieren wir uns zuhause, ich meine, dann braucht man den Leuten wirklich keinen Sand in die Augen zu streuen. Mit einer Kürzung von einer halben Milliarde, die Deutschland vielleicht am Ende dann da einspart pro Jahr, da kriegen Sie den Bundeshaushalt nicht saniert, aber Sie kriegen in Brüssel viele Zukunftsprojekte zerstört.
Simon: Ein finnischer Politiker hat ja eingangs der Woche – wir hatten diesen O-Ton vorhin gehört – vom "Brusttrommeln a la Tarzan" der Regierungen gesprochen. Wie gefährlich sind solche Rituale, angesichts der Europaverdrossenheit und auch ganz praktisch jetzt bei der Kompromisssuche?
Schulz: Extrem gefährlich. Das, was da läuft, auch dieses sogenannte Beichtstuhl-Verfahren, auch viele Äußerungen in Berlin ...
Simon: Beichtstuhl-Verfahren muss man vielleicht noch mal sagen, wenn da jeder Regierungschef noch mal abgefragt wird, wo er denn Spielräume hat.
Schulz: Na ja, das ist ja auch schon so ein Begriff, dieses Beichtstuhl-Verfahren. Heute Morgen beginnt der Herr van Rompuy und der Herr Barroso damit, sich mit jedem einzelnen Regierungschef einzeln zu treffen, um mal zu hören, wo sind denn die nationalen Besonderheiten, wo sind die nationalen Befindlichkeiten, wo sind die besonderen Wünsche. Ich finde, schon alleine dieses Verfahren zeigt, die sind nicht in der Lage, in Gemeinsamkeit zu diskutieren, sondern vorher wird überall abgefragt, sagt uns doch mal, wo sind euere roten Linien, wo ist euer Drohpotenzial.
Nehmen Sie Herrn Cameron. Herr Cameron, der geht in eine solche Verhandlungsrunde, angebliche Verhandlungsrunde mit dem Satz, entweder ihr nehmt meine Forderungen oder ihr bekommt mein Veto. Das ist ja keine Verhandlung, das ist ein Ultimatum. Also in einer solchen Atmosphäre einen europäischen Gemeinschaftsgeist zu entwickeln, das ist nicht einfach. Und ich will Ihnen hier ganz klar etwas sagen: Da sind die 27 Regierungschefs der Europäischen Union, also die Vertreter der Nationalstaaten und der nationalen Politiken. Wenn die sich aber heute nicht einigen, wird morgen in allen Agenturen und Zeitungen stehen: "Europa scheitert". Es sind nicht die europäischen Institutionen, sondern es ist die Unfähigkeit zum Kompromiss, die die Haltung vieler Regierungschefs prägt.
Simon: Aber Herr Schulz, in puncto Drohpotenzial ist ja das Europäische Parlament auch immer ganz vorne dabei – nach dem Motto: Wenn das nicht so läuft, wie wir das haben wollen, dann werden wir dem nicht zustimmen. Das gilt ja auch für diesen Haushalt.
Schulz: Das stimmt nicht. Wir haben viele, viele konstruktive Vorschläge gemacht, wir sind zu vielen Kompromissen bereit und bereit gewesen. Aber ich gebe Ihnen gerne ein kleines Beispiel. Ich habe in der vergangenen Woche ungefähr 20 bis 30 Arbeitsstunden damit zubringen müssen, dafür zu sorgen, dass eine von 27 Regierungschefs beschlossene Hilfe für die Erdbebenopfer in Italien, mit großem Aplomb verabschiedet im Juni, auf dem Juni-Gipfel, bis in dieser Woche, bis gestern nicht ausbezahlt wurde mit der Begründung, na ja, wir haben es versprochen, aber findet ihr da mal in Brüssel das Geld. Das war zusätzliches Geld, das den italienischen Erdbebenopfern versprochen worden war, wurde dann nicht ausgezahlt. Und das führt dann zu Situationen, dass wir im Parlament sagen, entweder ihr steht jetzt zu eurem Versprechen oder wir können hier keinen Haushalt verabschieden. Wenn das ein Drohpotenzial ist, dann ist das Ihre Interpretation. Meine Interpretation ist, das ist das Umsetzen von Versprechungen, die Regierungschefs inklusive der deutschen Regierungschefin machen und anschließend nicht einhalten.
Simon: Martin Schulz, wenn es heute aller Voraussicht nach auf dem EU-Gipfel zum Haushaltsrahmen bis 2020 keine Einigung gibt, wie sieht denn der Plan B aus? Vertagen oder wenn alles scheitert vielleicht am Ende ein Haushalt, der nicht mehr alle 27 einschließt?
Schulz: Nein. Es geht ja um die Finanzplanung auf sieben Jahre. Wenn die sich da heute nicht einigen können, rate ich dazu, dass man einen neuen Anlauf macht. Manchmal kann man sich halt im ersten Anlauf nicht einigen. Wenn es dann im zweiten Anlauf keine Einigung gibt, na gut: Dann verabschieden wir halt jedes Jahr Haushalte. Also man muss keine siebenjährige Finanzplanung haben, man kann auch jedes Jahr einen Haushalt aufs neue verabschieden. Das wird dann zwar aufwendiger und schwieriger, aber ist auch möglich. Nur noch mal: Die Differenz, über die wir am Ende reden, Frau Simon, ist, ob wir pro Jahr 133 Milliarden unter 27 Staaten ausgeben oder 138 Milliarden. Es geht um eine Differenz von fünf Milliarden, verteilt auf 27 Staaten. Sie werden, glaube ich, nachvollziehen können, wenn ich sage, da müsste eigentlich ein Kompromiss möglich sein bei einem bisschen guten Willen. Und wenn der zustande kommt in dieser Spannbreite zwischen 133 und 138 Milliarden, wird auch das Europaparlament zustimmen. Wenn aber die Staats- und Regierungschefs immer wieder neue Ziele definieren, was Europa alles leisten soll, die Europa starkmachen in der Welt, eine europäische Forschungspolitik entwickeln, eine europäische Gesundheitspolitik entwickeln, das wird jedes Jahr neu propagiert und dann wird in den Haushaltsberatungen gesagt, das Geld dafür, das geben wir euch nicht, dann können Sie auch nicht verlangen, dass Volksvertreter da zustimmen.
Simon: Martin Schulz war das, der Präsident des Europäischen Parlamentes. Vielen Dank, Herr Schulz, für das Gespräch.
Schulz: Danke Ihnen, Frau Simon.
Simon: Auf Wiederhören.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.