Im Streit um die polnischen Justizreformen hat die EU-Kommission eine härtere Gangart eingeschlagen. Die Kommission hat beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) beantragt, finanzielle Sanktionen gegen den EU-Mitgliedsstaat zu verhängen, sollte die umstrittene Disziplinarkammer in Polen nicht wie von den EU-Richtern verfügt ihre Arbeit einstellen.
Die Luxemburger Richter hatten bereits Mitte Juli in einem Urteil festgestellt, dass das 2018 von der nationalkonservativen Regierung eingesetzte Justizgremium nicht mit dem EU-Recht vereinbar sei. Die Disziplinarkammer ist befugt, Immunitätsverfahren gegen Richter und Staatsanwälte zu eröffnen und sie zu suspendieren. Nach Ansicht des EuGH wird dadurch politische Kontrolle ausgeübt und die Unabhängigkeit der Justiz gefährdet.
Nachdem ein Ultimatum aus Brüssel Mitte August abgelaufen war, will die EU-Kommission deshalb nun die Umsetzung des Urteils erzwingen, im Raum stehen tägliche Strafgelder in sechsstelliger Höhe. Polens Justizminister Zbigniew Ziobro bezeichnete die Sanktionspläne der EU als "Aggression gegen Polen" und sprach von einem "juristischen hybriden Krieg".
Die Kommission in Brüssel begründet die geplanten Sanktionen gegenüber Polen damit, dass "die jüngsten Urteile des Europäischen Gerichtshofs nicht vollständig umgesetzt" worden seien, wie die zuständige Vizekommissionspräsidentin Vera Jourova erklärte. Der Europäische Gerichtshof hatte per einstweiliger Anordnung Sofortmaßnahmen gefordert. Nach dem Willen der EU-Richter sollte die polnische Regierung die Rechtsvorschriften aussetzen, mit denen die Disziplinarkammer ermächtigt wird, über die Aufhebung der richterlichen Immunität sowie über Fragen zur Beschäftigung und Pensionierung von Richtern zu entscheiden. Der Beschluss betraf zudem noch weitere Bestimmungen des polnischen Rechts, die die Unabhängigkeit von Richter betreffen.
Polens Regierung hatte nach dem Urteil in Gesprächen mit der EU Bereitschaft signalisiert, dass die Disziplinarkammer mit ihren jetzigen Befugnissen reformiert oder sogar abgeschafft werden solle. Bislang hat sie allerdings noch keine konkreten Schritte dargelegt. Nach Auffassung der Kommission hat Polen deshalb nur unzureichend auf die Gerichtsbeschlüsse reagiert, zumal die umstrittene Diziplinarkammer zumindest in Teilen weiter arbeitet.
Nach Angaben der polnischen Nachrichtenagentur PAP gab es bei der Kammer im August 66 laufende Verfahren gegen Richter, davon 19 Disziplinarverfahren und 24 Verfahren um die Aufhebung der richterlichen Immunität. In den kommenden Wochen sind nach Angaben des Obersten Gerichtshofes weitere Sitzungen der Disziplinarkammer geplant.
Sollte Polens nationalkonservative Regierung weiter keine für Brüssel ausreichenden Antworten liefern, hat die Kommission damit gedroht, erneut vor den Europäischen Gerichtshof zu ziehen. Ein weiteres Druckmittel, neben den beantragten Sanktionen, ist das Zurückhalten von EU-Geldern. Aktuell verweigert die Kommission Polen bereits die Zustimmung zur Verwendung von Corona-Hilfen von rund 24 Milliarden Euro, und begründet dies mit Fragen der fehlenden Rechtsstaatlichkeit im Zuge des von der PiS-Regierung vorangetriebenen Umbau des Rechtssystems.
Die Disziplinarkammer steht symbolisch für den Versuch der politischen Einflussnahme der PiS-Regierung auf das polnische Justizsystem. Es sind mehrere Fälle dokumentiert, bei denen Richter dafür bestraft oder suspendiert wurden, nachdem sie im Rahmen ihrer Amtsführung offenkundig gegen den Willen der Regierung gehandelt hatten.
Grundsätzlich waren in der Vergangenheit zweierlei Auswirkungen auf die Rechtsprechung zu beobachten: Zum einen gab es kaum Ermittlungen nach mutmaßlichen Rechtsbrüchen von Regierung und Verwaltung, etwa bei umstrittenen Abstimmungen im Parlament wie zuletzt über das neue Mediengesetz. Auch eine juristische Aufarbeitung der nach Medienberichten umfangreichen Skandalliste aus der Zeit der PiS-Regierung blieb weitestgehend aus. Zum anderen tritt die Justiz kaum noch als Korrektur- und Kontrollinstanz in Erscheinung. Das Verfassungsgericht deckt in erster Linie das Regierungshandeln, zum Beispiel bei der Verschärfung des Abtreibungsrechts. Hier hatten viele Beobachter den Eindruck, dass das Handeln des Verfassungsgerichts zumindest vom Timing her politisch bestellt zu sein schien.
Auf der anderen Seite gab es im Richterwesen aber auch Kritik am Umbau des Justizsystems und Widerstand gegen die politische Instrumentalisierung. Eine Vielzahl von Richtern ließ sich nicht einschüchtern, trotz des persönlichen Risikos, ihren Beruf nicht mehr ausüben zu können. Manche widersetzten sich der Zusammenarbeit mit neu eingesetzten Richtern, die ihre Berufung dem von der PiS geschaffenen System zu verdanken hatten, oder erklärten sich solidarisch mit Amtskolleginnen und -kollegen, die von der Disziplinarkammer suspendiert wurden. Vor Kurzem scheiterte ein Disziplinarverfahren am Verfassungsgericht, nachdem ein Richter mit Verweis auf das internationale Recht die Entscheidung verweigerte.
Mit den angedrohten Zwangsgeldern möchte die EU-Kommission Härte demonstrieren und ein klares Signal gegenüber der polnischen Regierung aussenden, die sich in einem Quasi-Verfassungsstreit mit der EU sieht. Im Kern steht dabei die Frage, ob EU-Recht über polnischem Recht steht. Polens Verfassungsgerichtshof hatte als Reaktion auf das EuGH-Urteil mitgeteilt, dass die Anordnungen zur Entmachtung der Disziplinarkammer unvereinbar mit der polnischen Verfassung seien. Die EU-Kommission stellte daraufhin klar, dass "alle Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für die Mitgliedstaaten und für die nationale Gerichte bindend" seien, EU-Recht habe weiterhin Vorrang vor nationalem Recht.
Polens Regierung beruft sich in diesem Streit unter anderem auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Mai 2020 über das EZB-Staatsanleihenprogramm, bei dem sich die Karlsruher Richter gegen eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshof stellten. Dieser Beschluss aus Karlsruhe wurde in der Folge von Polens Regierung um Ministerpräsident Mateusz Morawiecki für das juristische Tauziehen mit der EU und die Vorgaben aus Brüssel zu Polens Justizreformen instrumentalisiert.
Unabhängig von machtpolitischen Interessen der nationalkonservativen Regierung - Polens Justizsystem erscheint schon seit längerer Zeit reformbedürftig. Der unter Morawiecki eingeleitete Umbau hat aber bislang kaum etwas an den oft beklagten, langen Verfahrenswegen geändert, ebensowenig an der Qualität der Rechtsprechung. Zu Beginn der umstrittenen Reformen gab es noch große Proteste innerhalb der Bevölkerung, die jedoch in letzter Zeit abgenommen haben. Es scheint, als ob die Zivilgesellschaft nach Jahren des Widerstands mürbe geworden ist. Auf der anderen Seite wächst die Stärke innerhalb der polnischen Institutionen, etwa bei den Richtern und Richerinnen, die sich gegen den Abbau von Rechtsstaatlichkeit stellen.
(Quellen: Jan Pallokat, Bettina Klein, Onlineredaktion, dpa, AFP)