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EU-Sondergipfel zu Flüchtlingen
"Der Türkei ging es vor allem um die Bilder und ums Geld"

Grünen-Chef Cem Özdemir sieht das Verhandlungsergebnis des EU-Türkei-Sondergipfels in Brüssel mit Skepsis. Zwar brauche man die Hilfe Ankaras, nicht zuletzt weil die Türkei Haupttransitland für Flüchtlinge sei, sagte er im Deutschlandfunk. Ankara sei es aber nur um das Geld und um die Bilder gegangen.

Cem Özdemir im Gespräch mit Christine Heuer |
    Der Bundesvorsitzende von Bündnis90/Die Grünen, Cem Özdemir.
    Der Bundesvorsitzende von Bündnis90/Die Grünen, Cem Özdemir. (picture alliance / dpa / Britta Pedersen)
    Özdemir erinnerte zugleich daran, dass die Europäische Union mit einem Land verhandelt habe, in dem Anwälte und Journalisten verhaftet oder ermordet werden. Die türkische Regierung sei darüber hinaus mitverantwortlich für die Lage der Flüchtlinge. Syrer würden in den türkischen Lagern nicht gut behandelt und dürften auch nicht arbeiten.
    Die EU-Staats- und Regierungschef haben der Türkei beim Sondergipfel in Brüssel drei Milliarden Euro für eine bessere Versorgung der Flüchtlinge in dem Land zugesagt, zudem soll die Türkei ihre Grenzen besser kontrollieren.

    Das Interview in voller Länge:
    Christine Heuer: Die EU möchte, dass die Türkei nicht mehr so viele Flüchtlinge über die EU-Grenzen lässt. Sie ist bereit, ein Flüchtlingskontingent von der Türkei zu übernehmen, Ankara Geld für die Flüchtlinge zu geben, die in der Türkei bleiben, und Türken Visa-Freiheit zu gewähren. Außerdem sollen die Beitrittsverhandlungen wiederbelebt werden. Zahlen, Fristen und dergleichen gab es aber nicht beim EU-Türkei-Gipfel gestern in Brüssel, oder jedenfalls sind sie nicht öffentlich geworden. - Cem Özdemir, Vorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen, ist am Telefon. Guten Morgen, Herr Özdemir.
    Cem Özdemir: Guten Morgen, Frau Heuer!
    Heuer: Die Türkei macht etwas vage Zusagen, die EU, so scheint es heute Früh, große Zugeständnisse. Haben wir uns in Brüssel über den Tisch ziehen lassen?
    Özdemir: Vielleicht muss man noch mal kurz die Hörer daran erinnern, über welche Türkei wir gerade reden. Wir reden über eine Türkei, in der am 28. November Tahir Elci, der Vorsitzende der Anwaltskammer in Diyarbakir, per Kopfschuss nach einer Pressekonferenz ermordet wurde, in der Can Dündar und Erdem Gül, zwei Journalisten der "Cumhuriyet", der eine der Chefredakteur, verhaftet worden sind, nachdem der Staatspräsident sagte, er werde für einen Bericht einen hohen Preis bezahlen. Das wäre übertragen auf Deutschland so, wie wenn der Chefredakteur der "Süddeutschen Zeitung" oder der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" verhaftet wird, weil er einen der Regierung unangenehmen Bericht veröffentlicht hat. Das ist die Türkei, mit der wir da gerade verhandeln. Ich glaube, der Türkei ging es vor allem um die Bilder - die Türkei ist nicht isoliert - und natürlich ums Geld. Über die EU-Mitgliedschaft wird geredet, aber keine Seite glaubt wirklich daran.
    Heuer: Aber wenn ich Ihnen so zuhöre - und Sie haben ja mit allem Recht, was Sie da sagen -, dann darf man mit so einem Staat überhaupt nicht verhandeln.
    Özdemir: Soweit würde ich nicht gehen. Wir brauchen die Türkei tatsächlich, wenn es um die Flüchtlinge geht. Sie ist das Haupttransitland. Man muss aber wissen: Die Türkei ist eben nicht nur ein Land, das uns dabei helfen könnte, sondern sie ist auch leider mit Ursache dieser Flüchtlingsströme, indem sie die Flüchtlinge in der Türkei bis jetzt nicht gut behandelt hat. Ich erinnere daran, dass die Türkei am Anfang die Hilfe, die ihr jetzt angeboten wird, abgelehnt hat, weil damals Staatspräsident Erdogan meinte, die Türkei ist ein großes Land und braucht diese Hilfe nicht. Ein weiteres Problem ist, dass die Türkei den Flüchtlingen den Flüchtlingsstatus bis jetzt verweigert, sie als Gäste bezeichnet. Die dürfen dann nicht arbeiten, die Kinder dürfen nicht in die Schule, die Menschen leben zum Teil unter sehr schwierigsten Bedingungen. Auch das trägt natürlich dazu bei, dass die Leute dort nicht bleiben wollen. Insofern Hilfe ja, aber man muss aufpassen, wohin das Geld geht. Und man darf dabei diejenigen, die sich in der Türkei für Demokratie, für Menschenrechte einsetzen, nicht vergessen.
    Özdemir: Die EU darf mit Russland keinen Deal zulasten der Ukraine machen
    Heuer: Nun hat die Türkei ja all diese Punkte, die Sie gerade angesprochen haben, im Grundsatz zugesagt in Brüssel. Glauben Sie nicht, dass Ankara das auch einhält?
    Özdemir: Man muss genau hinschauen und die Vereinbarungen müssen belastbar sein und man muss es auch von den Menschen her denken. Warum sollten sich syrische Flüchtlinge in der Türkei darauf einlassen, dass sie in Flüchtlingslagern leben, wenn sie das Gefühl haben, da kommen sie nie wieder raus. Es gibt ja abschreckende Beispiele, denken Sie an die Palästinenser im Libanon, die dort in der zigten Generation mittlerweile in solchen Lagern leben. Das ist kein attraktives Bild. Wenn es allerdings gelingen sollte, dass man glaubwürdig versichert, dass man von dort über großzügige Kontingente nach Europa, vielleicht übrigens auch nach Kanada, in die USA, wohin auch immer gehen kann, wenn gewährleistet ist, dass die Kinder in die Schule gehen können und nicht Zeit verlieren, wenn gewährleistet ist, dass die Eltern Arbeitsmöglichkeiten haben, dass die Versorgung in den Lagern menschenwürdig ist, dann kann es tatsächlich sein, dass es hilft. Aber das will präzise verhandelt sein und man muss wissen, mit wem man verhandelt. Hier habe ich ja gerade schon ein bisschen was dazu gesagt.
    Heuer: Herr Özdemir, müsste man von der Türkei nicht auch noch ganz anderes verlangen, den Stopp illegaler Öllieferungen zum Beispiel aus dem IS-Gebiet, oder den Stopp von Ankaras Waffenlieferungen an syrische Extremisten, von denen ja immer wieder die Rede ist?
    Özdemir: Na ja, da sind wir jetzt natürlich genau bei dem Thema, dass der Kampf gegen den Terror, der ja notwendig ist, dass man ISIS militärisch bekämpft, dass man ISIS finanziell, politisch bekämpft, dass wir da gerade dabei sind, sehr seltsame Bündnisse einzugehen. Ein Fall ist die Türkei, den Sie angesprochen haben. Die Türkei - das ist ja der Grund, warum zwei Journalisten verhaftet worden sind - hat wohl in der Vergangenheit Waffen geliefert an al-Nusra, an ISIS. Sie kauft das Öl ab, ISIS-Kämpfer sind in türkischen Krankenhäusern behandelt worden. Dafür gibt es ja glaubwürdige Berichte. Aber auch Russland, mit dem wir jetzt ein Bündnis eingehen wollen, bombardiert nicht hauptsächlich ISIS-Stellungen, sondern auch da nach glaubwürdigen Darstellungen zu 80 Prozent die gemäßigte Opposition. Das zeigt das ganze Dilemma der Syrien-Strategie.
    Heuer: Erdogan war nicht unser Freund, ich sage es mal so, Assad ganz klar unser Feind, Putin eine sehr schwierige Hausnummer. Nun ist, Sie sagen es selber, eine Zusammenarbeit mit allen plötzlich möglich. Machen wir da einen schweren Fehler?
    Özdemir: Natürlich müssen wir Solidarität zeigen mit Frankreich. Da geht es auch um die Zukunft der Europäischen Union. Da kann es kein Vertun geben. Dass Frankreich sich an die Europäische Union gewandt hat, ist ja richtig. Aber es muss da zwei Bedingungen geben. Erstens: Es kann nicht sein, dass wir einen Deal machen zu Lasten der Ukraine. Das heißt, wir machen mit Putin einen Deal, wo wir dann die Ukraine quasi opfern. Das kann nicht sein. Die Sanktionen, die wegen der russischen Übernahme der Krim-Halbinsel beziehungsweise wegen der Unterstützung der Separatisten in der Ostukraine ergriffen worden sind, die können nicht einfach aufgegeben werden, sondern nur dann, wenn es in der Ukraine entsprechende Deeskalationssignale gibt von Herrn Putin. Und zweitens: Es kann keine wie auch immer geartete Zusammenarbeit mit dem Regime Assad gegen ISIS geben. Damit würden wir die Sunniten in der Region direkt in die Arme von ISIS treiben. Das macht keinen Sinn und ist nicht durchdacht.
    Özdemir: Brauchen gemeinsame Strategie im Kampf gegen IS
    Heuer: Klare Absage an die Äußerungen von Ursula von der Leyen. Die hat ja gestern im ZDF gesagt, eine Zusammenarbeit mit syrischem Militär sei nicht ausgeschlossen.
    Özdemir: Ich habe auch Herrn Röttgen dazu gehört.
    Heuer: Zweiter Punkt, ja.
    Özdemir: Und ich hatte das Gefühl, dass es da Gesprächsbedarf geben dürfte innerhalb der Koalition. Also noch mal: Was ist das Ziel? Das Ziel ist, ISIS zu bekämpfen. Das Ziel ist nicht, ein vorhandenes Chaos noch zu vergrößern. Wenn das das Ziel ist, dann mag das Sinn machen, was Frau von der Leyen sagt. Aber ich würde dringend dazu raten, dass wir ISIS nicht weiteren Nachwuchs zutreiben, und dazu ist es wichtig, dass der Westen ein Problem dringend angeht, nämlich das Problem der Glaubwürdigkeit. Das ist in höchstem Maße gefährdet, nicht nur durch uns, natürlich auch durch unsere amerikanischen Partner, durch den Irak-Krieg. Jetzt müssen wir mal zeigen, dass die Werte, von denen wir reden und über die wir reden, dass wir die auch gelegentlich selber ernst nehmen.
    Heuer: Zur Erläuterung für die Hörer, die vor einer Stunde nicht den Deutschlandfunk gehört haben. Norbert Röttgen, der CDU-Außenpolitiker, hat bei uns im Interview auch gesagt, dass er Ursula von der Leyens Idee nicht so richtig gut findet. Er hat aber auch noch was anderes gesagt. Da möchte ich Sie noch nach fragen, Herr Özdemir. Er hat gesagt, er fände es eine gute Idee, mal zu prüfen, ob türkische Soldaten nicht eine humanitäre Sicherheitszone im Nordwesten Syriens einrichten könnten, also ausdrücklich nicht in den Kurden-Gebieten. Das würde aber heißen, türkische Soldaten am Boden in Syrien. Wie finden Sie das?
    Özdemir: Ich habe das gehört und war etwas verwundert darüber, denn bis jetzt bezog sich die türkische Forderung nach einer solchen Sicherheitszone vor allem auf die Regionen, in denen gerade die Kurden gegen ISIS kämpfen, und ich hatte den Eindruck, dass das ein Vorwand ist, um den Kampf gegen ISIS zu schwächen und das eigentliche Anliegen, nämlich dass die Kurden dort stärker werden, zu verhindern. Das muss verhindert werden. Wie man das verhindert, wenn man gleichzeitig der Türkei sagt, aber nebenan könnt ihr einen Korridor errichten, das halte ich für sehr schwierig. Viel sinnvoller wäre doch, dass es eine kohärente Strategie gibt, in der nicht jeder sein eigenes Süppchen kocht. Wenn die Türkei jetzt ihr eigenes Süppchen in Syrien noch kocht, glaube ich nicht, dass die Lage dort besser wird für die Flüchtlinge. Was wir sicherlich brauchen ist eine Art Flugverbotszone, damit das Bombardieren der Städte durch Assad dringend beendet wird durch Fassbomben, nach wie vor eine der Hauptfluchtursachen trotz der Bestialität von ISIS. Und was wir brauchen ist eine gemeinsame Strategie im Kampf gegen ISIS. Es kann nicht sein, dass jedes Nachbarland dort eine eigene Strategie macht und de facto Saudi-Arabien und der Iran eine Art Stellvertreterkrieg ausführen, jeweils unterstützt durch entsprechende Großmächte.
    Heuer: Cem Özdemir, Vorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen. Herr Özdemir, danke für das Gespräch.
    Özdemir: Gerne.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.