Ann-Kathrin Büüsker: Der EU-Rat konnte sich in der Nacht nicht darauf verständigen, wie die Spitzenposten der Europäischen Union denn nun neu besetzt werden sollen. Darüber kann ich jetzt mit Michael Gahler sprechen. Er sitzt seit vielen Jahren für die CDU im Europaparlament, sozusagen ein Brüsseler Urgestein. Es gibt wieder keine Einigung im EU-Rat. Ist der Rat handlungsunfähig?
Michael Gahler: Wir erleben ja oft, dass bei den europäischen Institutionen der Rat das Gremium ist, was nicht zu Entscheidungen kommen kann, was sich verhakt. Das geht nicht nur bei Personalfragen; das ist auch bei Inhalten – Stichwort gestern kein Beschluss zur Klimaneutralität bis 2050. Das ist ein Beispiel, wo man auch nicht zu einem Ergebnis gekommen ist. Aber was wir ansonsten über die Personalfragen erleben, ist einerseits, dass wir eine Parlamentarisierung erleben und damit die weitere Demokratisierung des Verfahrens in Europa, wie man die Exekutive bestimmt. Das will das Parlament in seiner großen Mehrheit, dass das Ergebnis einer Parlamentswahl, bei der die Menschen vorher wissen, wer Chef der Exekutive wird, dass dieses Ergebnis sich dann auch wiederspiegelt. Auf der anderen Seite haben wir einen Teil dieses politischen Pokers, wo erst mal alle Öffentlichen alle Register ziehen öffentlich in Bezug auf Personen. Aber es ist bereits angeklungen: Parallel geht es um inhaltliche Orientierung. Da verhandeln ja vier der fünf Fraktionen, die sich festgelegt haben, nur einen der Spitzenkandidaten zu wählen, und da geht es um ein Arbeitsprogramm der Kommission und da herum wird dann das Personaltableau gelegt. Da bin ich weiterhin zuversichtlich: Da wird jede politische Familie jemanden schicken, und die EVP hat deutlich gesagt, wir wollen Manfred Weber. Das will die Fraktion, das will die Partei, das wollen unsere Regierungschefs und da stehen wir auch zu.
"Merhheitsfindung Teil des politischen Pokers"
Büüsker: Aber Emmanuel Macron beispielsweise sagt ja und begründet damit auch seine Antihaltung gegenüber Manfred Weber, ihm fehle die Regierungserfahrung. Das kann man jetzt schlecht aus dem Weg räumen, das ist schon so.
Gahler: Ja gut, das können Sie bei vielen Ministerpräsidenten auch aus dem Weg räumen. Der Herr Plenkovic aus Kroatien oder der gegenwärtige, der neue spanische Ministerpräsident, der war auch vorher in keiner Regierungsfunktion und regiert jetzt das Land. Manfred Weber hat über fünf Jahre eine große Fraktion geführt, bei der man noch mehr ausgleichen muss, auch aus der gleichen Anzahl von Ländern. Da muss man sehr viel ausgleichen, politisch, und zu Lösungen kommen. Er ist ein politischer Brückenbauer. Das ist eine Bezeichnung, die er sich selber auch aneignet, um zu zeigen, wir können zu Ergebnissen kommen, wir sind kompromissfähig. Dieses Argument ist eines der schwächsten. Ich meine, wir sehen ja, dass Herr Macron trotz seiner proeuropäischen Reden eigentlich ein Europa der Regierungschefs will, und wir wollen keinen Rückschritt bei den Entscheidungsprozessen zurück in die Hinterzimmer. Der Lissabon-Vertrag hat ja bewusst diese Formulierung gewählt: Der Europäische Rat schlägt vor. Dabei muss er das Ergebnis der Wahl berücksichtigen. Und dann wählt das EP! Da soll es, da darf es keinen Rückschritt geben. Wir haben eine so hohe Wahlbeteiligung dieses Mal gehabt, wie nicht seit 20 Jahren. Das heißt, die Bürger wollen auch dieses Europa demokratischer gestalten, und da passt es nicht, dass dann ja auch ein Präsident seine eigene Fraktion "übernimmt". Die durften sich ja nicht mal mehr liberal nennen, weil offenbar Liberal in Frankreich einen negativen Beigeschmack hat, und jetzt nennen sie sich Renew Europe, "RE", und da frotzeln ja auch manche unter dem Einfluss von Herrn Macron, diese Abkürzung "RE" stünde in Wirklichkeit für Royal Elysé oder Roi Emmanuel. So geht es auch nicht!
Büüsker: Herr Gahler, Sie betonen jetzt, dass das Parlament entscheiden muss. Sie stellen Manfred Weber als den Kandidaten der EVP-Fraktion hervor. Aber im Moment sieht es ja so aus, als wäre Weber nicht mal in der Lage, im Parlament eine Mehrheit zu bekommen.
Gahler: Ich sagte ja eben schon, das ist Teil des politischen Pokers. Ich halte es auch ein bisschen für verwunderlich, dass sich dann die sozialistischen und der liberale Fraktionsvorsitzende dahinstellen und diese Formulierung da abgeben, zu einer Zeit, wo wir ja inhaltlich verhandeln. Es geht primär um Inhalte und darum herum werden die Personen gelegt. Ich meine, Herr Ciolos, der neue Vorsitzende der Liberalen-Fraktion, ist sehr dicht traditionell an Frankreich. Das nehme ich so zur Kenntnis. Und auch die neue spanische sozialistische Fraktionsvorsitzende will sicherlich hier ihrem ja auch in den Niederlanden sehr erfolgreichen Spitzenkandidaten Timmermans in diesem Zeitpunkt den Rücken stärken. Ich halte das, was im Parlament passiert, auch ein Stück weit für politische Taktik. Es wäre unfair, an Personen Dinge festzumachen, die Teil eines Tableaus sind. Am Ende wird jede Familie berücksichtigt werden und für die EVP ist es ganz klar, das ist der Manfred Weber.
"Stehen wie eine Eins hinter Manfred Weber"
Büüsker: Herr Gahler, Sie beschreiben jetzt ein Bild, wo ja eigentlich alle gegen alle kämpfen. Das klingt nicht allzu sehr nach europäischer Einigung.
Gahler: Ich sagte ja eben bereits: In Wirklichkeit wird über die Inhalte ja verhandelt. Wir haben fünf Arbeitsgruppen, wo die Vertreter aus den vier Fraktionen, Christdemokraten, Sozialdemokraten, ehemalige Liberale und Grüne, zusammensitzen. Und da bin ich zuversichtlich, dass wir keinen Koalitionsvertrag, aber eine Art Orientierung, ein Arbeitsprogramm für die künftige Kommission ausarbeiten. Dann wird das zum ersten Mal auch relevant werden in Form des Personalpakets, weil wir in der übernächsten Woche natürlich eine Präsidentin oder einen Präsidenten des Europäischen Parlaments wählen. Das ist ja bereits Teil des Personalpakets. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass wir mit einem Kommissionspräsidenten Weber dann eine vielleicht sozialdemokratische Ratspräsidentin aus dem Norden, vielleicht eine unabhängige Hohe Beauftragte aus dem Osten bekommen, und wenn dann zwei kleinere Fraktionen sich die beiden Hälften im Parlament bei dem Parlamentspräsidenten teilen und die Franzosen am Ende des Jahres dann einen EZB-Präsidenten hätten. Dann wären im Ergebnis alle zufrieden. Im Augenblick ist das viel Taktieren und öffentliches Geplänkel, aber in der Sache haben wir eine breite Mehrheit der proeuropäischen Kräfte, die diesen Kontinent voranbringen wollen und auch die Aufgaben benennen, vor denen wir stehen, und das sind große.
Büüsker: Sie sagen, viel Taktieren, und da machen letztlich im Moment auch alle mit. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel ist ja weit vorne mit dabei, wenn es darum geht, im besagten Hinterzimmer auszudealen, wer die Ämter jetzt bekommt. Ist das der Punkt, wo man vielleicht auch mal sagen muss als deutsche Bundeskanzlerin, okay, zum Wohle Europas treten wir vielleicht einen Schritt zurück, finden wir einen Kompromiss, der nicht dem entspricht, was wir uns wünschen würden, aber es geht um Europa, es geht um die Einigung?
Gahler: Ich denke nicht, dass das Aufgabe der größten politischen Familie ist, hier ihren Spitzenkandidaten, den sie aufgestellt hat, zurückzuziehen, sondern dafür zu sorgen, dass wir hier im Ergebnis dieses Paket bekommen. Wir stehen als EVP von Anfang an nach einem demokratischen Prozess. Wir hatten zwei Kandidaten, die in geheimer Abstimmung dann zur Entscheidung geführt haben. Wir haben von Anfang an auf Manfred Weber gesetzt. Wir setzen vor allen Dingen auf die Inhalte, wo wir Europa voranbringen müssen und wo es ja auch einen breiten Konsens mit den anderen demokratischen Fraktionen gibt. Da gibt es überhaupt keinen Anlass, von der Personalie Manfred Weber zurückzutreten. Das war vom Tag nach der Europawahl klar. Das hat auch der EVP-Gipfel, der unmittelbar vor dem Europäischen Rat stattfand, deutlich gemacht. Wir stehen wie eine Eins als Fraktion und als Partei und als Regierungschefs hinter Manfred Weber. Wir nehmen diesen Zwischenstand zur Kenntnis, wo es, sage ich mal, disruptive Kräfte gibt, die meinen, hier eine weitere Person ins Spiel zu bringen. Das wird das Parlament insgesamt aus institutionellen Gründen nicht akzeptieren können, denn wir wollen – ich sagte es ganz zu Beginn – diese Parlamentarisierung und damit Demokratisierung der Verfahren in Europa. Wenn eine Wahl stattfindet, dann muss auch das Ergebnis der Wahl der Bevölkerung sich wiederspiegeln in der Form,, dass einer von denen, die als Spitzenkandidaten angetreten sind, dann auch tatsächlich der Chef der Exekutive wird.
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