Die EU will zum fünften Mal bei einer Geberkonferenz mit den Vereinten Nationen Hilfsgelder für das Kriegsland Syrien sammeln. Die Lage in Syrien sei dramatisch, sagte Peter Neher, Präsident des deutschen Caritas-Verbandes, im Deutschlandfunk. Er wünscht sich eine neue Definition der Nothilfe. Die Menschen hausten vielfach in Wohnungen ohne Fenster und Türen, schliefen in Autos. "Der Kampf um das Brot bestimmt den Alltag. Es ist einfach dramatisch", sagte Neher. Dazu komme die Corona-Pandemie. "Wir wissen allerdings wenig von der aktuellen Situation. Wir haben fehlende Testmöglichkeiten, unzureichend dokumentiert. Es ist von einer hohen Dunkelziffer auszugehen", so Neher. Schutzausrüstungen, Desinfektionsmittel und Masken fehlten. "Das kann man sich ja vorstellen, wenn schon die alltäglichen Dinge zum Leben fehlen, die zum Überleben notwenig sind."
"Wir kennen die Situation und wissen was nottut"
"Wir kennen die Situation und wissen, was nottut"
Man habe ein gutes Bild von der Lage, da mit der Caritas Syrien zusammengearbeitet werde und auch mit einzelnen privaten syrischen Organisationen. "Wir kennen die Situation und wissen, was dort nottut", so Neher.
Man habe ein gutes Bild von der Lage, da mit der Caritas Syrien zusammengearbeitet werde und auch mit einzelnen privaten syrischen Organisationen. "Wir kennen die Situation und wissen, was dort nottut", so Neher.
Die EU-Geberkonferenz sei wichtig, um zum einen das Thema im Bewusstsein zu halten. "Hier ist ein Krieg im elften Jahr, der katastrophale Folgen hat", sagte er. Die längere politische Hilfe müsse kommen. "Aber ich denke, die EU und ihre Mitgliedstaaten müssen dringend neue Strategien für die humanitäre Hilfe in Syrien entwickeln. Denn es ist tatsächlich so. Es fehlen Gesundheitsstationen, Kindergärten, Schulen. Und diese sind unter dem Diktum nur Nothilfe zu leisten, nicht wieder aufzubauen", sagte er. Das habe katastrophale Folgen.
"Das ist politisch hochbrisant, das weiß ich"
Die Nothilfe, die bisher zugelassen sei aufgrund der EU-Sanktionen, gestatte nur die Unterstützung durch Nahrungsmittel, Hygienemittel, Medizin oder psychosoziale Betreuung. "Alles andere ist uns nicht möglich", so Neher. Der Aufbau von Gesundheitsstationen, Kindergärten oder Schulen laufe unter dem Aspekt "Wiederaufbau". Das sei aus politischen Gründen derzeit nicht möglich. Die Gesundheitsversorgung finde faktisch nicht statt, mehr als 2,5 Millionen Kinder gingen derzeit nicht in die Schule. "Wir brauchen neue Strategien", sagte er. Denn mit diesem engen Diktum der Nothilfe erreiche man die Menschen nicht. "Das ist politisch hochbrisant, das weiß ich", sagte Neher. Aber die Nothilfe müsse weiterentwickelt werden, wenn man den Menschen helfen wolle.
Natürlich gelte es, dass Assad-Regime nicht zu unterstützen. Aber man müsse zur Kenntnis nehmen, dass das Assad-Regime fest im Sattel säße und Menschen nicht mehr leben könnten. "Wir können natürlich sagen: 'Gut, dann verhungern die Menschen halt, dann sterben sie halt. Hauptsache, wir haben der politischen Linie ein Profil gegeben', aber das glaube ich, ist nicht mehr zu verantworten und muss dringend revidiert werden", sagte Neher weiter.
"Es geht darum, die Basics wiederherzustellen. Dass das indirekt eine Folge für das Regime haben wird, das ist möglich", so Neher. Um der Menschen Willen müsse man an dieser Stelle jetzt neu ansetzen. Mit seinem Appell stoße er bei den westlichen Regierungen auf taube Ohren. Es werde alles an Maßnahmen abgelehnt, was unter dem Diktum des Wiederaufbaus gesehen werden könnte, so Neher.
Das gesamte Interview lesen Sie hier:
Dirk-Oliver Heckmann: Herr Neher, wie würden Sie die Lage in Syrien beschreiben?
Peter Neher: Die kann nur so dramatisch beschrieben werden, wie in dem Bericht bereits geschildert. Man muss einfach deutlich machen, dass die Menschen vielfach in Wohnungen hausen, nach wie vor ohne Fenster und Türen. Menschen stehen an, übernachten im Auto, um am anderen Tag sofort in der Früh an der Tankstelle zu sein, und buchstäblich der Kampf um das Brot bestimmt den Alltag. Es ist einfach dramatisch.
Heckmann: Inwiefern verschärft die Corona-Pandemie die Lage noch zusätzlich?
Neher: Das ist natürlich die Geschichte, die kommt zusätzlich dazu, wobei wir natürlich von der aktuellen Situation dort wenig wissen, weil wir haben fehlende Testmöglichkeiten, unzureichende dokumentiert. Es ist von einer hohen Dunkelziffer auszugehen. Es fehlt natürlich Schutzausrüstung, Masken, Desinfektionsmittel. Das kann man sich vorstellen, wenn schon die alltäglichen Dinge fehlen, die zum Überleben notwendig sind.
Heckmann: Wie können Sie sich denn ein Bild von der Lage machen in der derzeitigen Situation?
Neher: Wir haben insofern ein gutes Bild, weil wir mit der Caritas Syrien und mit einzelnen privaten syrischen Organisationen intensiv zusammenarbeiten. Wir haben eine Mitarbeiterin vor Ort, im Libanon ist sie, und die hat einen engen Kontakt mit unseren Kolleginnen und Kollegen der Caritas Syrien, so dass wir unmittelbar die Situation kennen und wissen, was dort Not tut.
"Wir brauchen dringend aktuelle Hilfe"
Heckmann: Was erwarten Sie sich jetzt von der Konferenz?
Neher: Ich denke, zum einen ist es wichtig, die Konferenz und das Thema im Bewusstsein zu halten, dass hier ein Krieg im elften Jahr ist und katastrophale Folgen hat.
Das zweite ist, dass wir aber auch dringend aktuelle Hilfe brauchen. Das eine ist die längere politische. Die muss kommen, weil sonst alle anderen Hilfen ins Leere laufen. Aber ich denke, die EU und ihre Mitgliedsstaaten müssen dringend neue Strategien für die humanitäre Hilfe in Syrien entwickeln, denn es ist tatsächlich so, es fehlen Gesundheitsstationen, Kindergärten, Schulen, und die sind unter dem Diktum, nur Nothilfe zu leisten, nicht wieder aufzubauen, was katastrophale Folgen hat.
Heckmann: Wer hindert Sie daran, diese Nothilfe zu leisten?
Neher: Die Nothilfe ist klar definiert. Nothilfe, die bisher nur zugelassen ist, aufgrund der Sanktionen der EU und natürlich auch deswegen der Bundesrepublik, geht nur auf Nahrungsmittel, Hygieneartikel, Medizin oder psychosoziale Betreuung. Alles andere ist uns nicht möglich, aufgrund des Sanktionsregimes. Und weil bereits diese Aufgaben wie Gesundheitsstationen oder Kindergärten und Schulen laufen bereits unter Wiederaufbau. Wiederaufbau ist aus politischen Gründen derzeit praktisch nicht möglich und ist untersagt.
Heckmann: Mit welchen Folgen für die Menschen?
Neher: Das kann man sich vorstellen. Sie müssen sich denken, dass ja viele der Krankenhäuser komplett zerstört sind, dass die Gesundheitsversorgung faktisch nicht stattfindet, und dass mehr als 2,5 Millionen Kinder derzeit nicht in die Schule gehen können. Deswegen glaube ich, dass wir tatsächlich da neue Strategien brauchen, und mit diesem engen Diktum auf humanitäre Hilfe, wie sie definiert ist, wir in Syrien die Menschen dort nicht erreichen. Das ist politisch hoch brisant, das weiß ich, aber wenn es darum geht, Menschen zu retten und zu helfen, muss man diese enge Nothilfe unbedingt überwinden und weiterentwickeln.
"Es geht darum, die Basics wiederherzustellen"
Heckmann: Sie wissen ja auch, Herr Neher, dass die politische Grundsatzentscheidung getroffen worden ist, diese Wiederaufbauhilfe aus dem Westen jedenfalls nicht zu unterstützen, weil das nämlich das Regime von Assad stabilisieren würde. Das sehen Sie nicht?
Neher: Das ist genau das Dilemma. Natürlich geht es darum, das Assad-Regime nicht weiter zu unterstützen. Aber wir müssen ja zur Kenntnis nehmen, dass das Assad-Regime fest im Sattel sitzt und dass Menschen nicht mehr leben können. Ich glaube, deswegen muss man umswitchen und überlegen, wie können wir gezielt die Not der Menschen lindern. Wir zum Beispiel mit Caritas, wir unterstützen über die eigenen Partnerschaftsstrukturen und über freie Träger tatsächlich unmittelbar die Menschen dort in Not und müssen natürlich täglich die Übergriffe des Regimes abwehren. Das Dilemma sehe ich. Nur wenn wir nur auf die großen politischen Strategien gucken, dann vernachlässigen wir die Not der Menschen, und das ist in der gegenwärtigen Situation eigentlich nicht mehr akzeptabel. Wir können sagen, ja gut, die Mensch, dann verhungern sie halt, dann sterben sie halt, Hauptsache wir haben der politischen Linie ein klares Profil gegeben. Aber das, glaube ich, ist nicht mehr zu verantworten und muss dringend revidiert werden.
Heckmann: Das heißt, ich habe Sie richtig verstanden, Sie plädieren dafür, dass man auch den Menschen in den Regionen, die das Regime beherrscht, Hilfe zuteilwerden lässt, auch wenn Assad dadurch noch stärker stabilisiert wird?
Neher: Das bleibt nicht aus. Es geht nicht darum, Autobahnen zu bauen oder Fabriken aufzubauen, sondern es geht darum, die Basics wiederherzustellen. Dass das indirekt auch eine Folge für das Regime haben wird, das ist möglich, aber wenn ich den Menschen helfen will, kann ich nicht daran vorbeigehen, dass das Assad-Regime im Sattel sitzt und dass die Mächte, die darum herum sind, alles verhindern werden, dass Assad aus der Verantwortung kommt. Deswegen hilft uns nichts, nur darauf zu spekulieren. Ich glaube, das ist zehn Jahre lang ins Leere gelaufen. Sondern um der Menschen willen müssen wir jetzt an dieser Stelle tatsächlich neu ansetzen.
"Bisher stoßen wir damit auf taube Ohren"
Heckmann: Sie sind ja mit den westlichen Regierungen in Kontakt, nehme ich stark an, auch mit der Bundesregierung. Wie fällt denn die Reaktion aus, wenn Sie diesen Appell formulieren?
Neher: Bisher stoßen wir damit auf taube Ohren, um es ganz deutlich zu sagen, weil alles wird im Moment abgelehnt, was wir an Maßnahmen einreichen zur Unterstützung, was unter diesem Diktum des Wiederaufbaus gesehen werden könnte. Deswegen plädiere ich so stark dafür, hier noch mal neu zu gucken, was heißt Wiederaufbau im engeren und im weiteren Sinne und wo braucht es Maßnahmen, die durchaus als Wiederaufbau betrachtet werden können, aber weil sie den hungernden notleidenden Menschen und den Kindern zugutekommen. Deswegen plädiere ich so stark, diese enge Strategie Wiederaufbau absolut auszuschließen, tatsächlich zu überdenken und weiterzuentwickeln.
Heckmann: Sehen Sie irgendwelche Anzeichen dafür, dass sich da was bewegen könnte?
Neher: Im Moment nicht. Aber vielleicht hilft die Geberkonferenz, hier noch mal einen neuen Blick zu schärfen, damit tatsächlich hier auch die politischen Verantwortlichen da ins Nachdenken kommen und doch den Mut haben, hier ein Stück nach vorne zu gehen.
Heckmann: Nothilfe und Wiederaufbau ist ja gut und schön. Aber wäre der Schlüssel nicht eigentlich, dass sich politisch an der Situation etwas ändert, und sollte sich der Westen nicht da stärker wieder engagieren?
Neher: Absolut! Das ist das A und O. Nur ich muss sagen, das eine tun und das andere nicht lassen. Sie können Menschen, die das tägliche Brot nicht haben und die die Gesundheitsversorgung nicht haben, nicht auf eine politische Lösung vertrösten. Insofern: Das ist das eine, was dringend notwendig ist, und das A und O ist der politische Schlüssel. Ich glaube schon, aufgrund der Gelder, die jetzt auch eine Geberkonferenz zur Verfügung stellen kann, dass da wesentlich mehr politischer Druck ausgeübt werden müsste, um zu Friedensverhandlungen zu kommen, um tatsächlich Frieden zu schaffen, der letztlich die Basis für alle Entwicklungen auch in Syrien darstellt.
Heckmann: Wie stark, Herr Neher, denken Sie denn, wird die Hilfsbereitschaft der Weltgemeinschaft sein, auch angesichts der Corona-Pandemie und der massiven wirtschaftlichen und finanziellen Folgen?
Neher: Ich kann nur hoffen, dass die Bereitschaft da ist. Seitens der Bundesregierung und der EU habe ich dafür durchaus deutliche Zeichen, das zu unterstützen. Aber es ist natürlich ein Krieg, der im elften Jahr ist. Angesichts der weltweiten Pandemie steht dies nicht an der vordersten Stelle der weltpolitischen Tagesordnung. Das ist bitter und ist dramatisch. Umso wichtiger, glaube ich auch, dass diese Konferenz stattfindet, um damit auch das Thema wieder auf die Tagesordnung zu setzen, unabhängig jetzt noch mal fast von dem, was dann möglicherweise an Hilfsmitteln auch zur Verfügung gestellt wird.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.