Die EU-Kommission stuft Atomkraft und Erdgas unter bestimmten Bedingungen als klimafreundlich ein. Trotz Kritik aus einigen Mitgliedsländern und von Organisationen bleibt sie bei ihrem Vorschlag für eine EU-Taxonomie, die beide Energiequellen als Übergangstechnologien beinhaltet. Auch das EU-Parlament hat die Einstufung von Gas und Atom als nachhaltig gebilligt. Ein Einspruch gegen die Verordnung bekam im Straßburger Parlament am 6. Juli nicht die nötige Mehrheit. Damit dürften die Taxonomie-Regeln für den Finanzmarkt ab 2023 greifen.
Details dazu hatte die Kommission am 2. Februar 2022 in Brüssel vorgestellt: Kernkraftwerke sollen als klimafreundlich gelten, wenn eine Baugenehmigung bis 2045 vorliegt und es im Land einen Plan und finanzielle Mittel für die Atommüllentsorgung gibt. Mit Blick auf Gaskraftwerke wurden die Auflagen weiter gelockert. Demnach gelten Investitionen in neue Gaskraftwerke bis 2030 als nachhaltig, wenn sie unter anderem schmutzigere Kraftwerke ersetzen und bis 2035 mit klimafreundlicheren Gasen betrieben werden.
Mehrere Umweltorganisationen ziehen gegen die europaweite Einstufung von Erdgas und Atomenergie als "nachhaltig" vor Gericht.
Was ist die EU-Taxonomie?
Die EU-Taxonomie ist ein Regelwerk zur Definition von Nachhaltigkeit. Es ist besonders für den Kapitalmarkt relevant: Die Taxonomie ist für Unternehmen und Investoren gleichermaßen als Maßstab zu sehen. Investoren erkennen anhand der klaren Kriterien und genauen Messgrößen des Regelwerks, ob ein Unternehmen nachhaltig wirtschaftet und einen "grünen" Beitrag leistet.
Hauptdiskussionspunkt ist, ob Aktivitäten, die mit Gas- und Atomenergie zusammenhängen, ebenfalls als "grün" einzustufen sind. Diese Bereiche hatte die EU-Kommission erst zum Ende des vergangenen Jahres in ihren Entwurf aufgenommen.
Die EU-Taxonomie ist ein Bestandteil des im März 2018 vorgestellten „Aktionsplans zur Finanzierung von nachhaltigem Wachstum“. Den entsprechenden Rechtsakt hatte die EU-Kommission im vergangenen Jahr vorgestellt.
Welche Ziele hat die EU-Taxonomie?
Die Taxonomie soll mehr Geld in nachhaltige Technologien und Unternehmen lenken. Bereits bis 2030 soll mit dem EU-Maßnahmenpaket "Fit für 55" der Ausstoß an Treibhausgasen um 55 Prozent gesenkt werden. Als ambitioniertes Ziel des European Green Deal soll in der EU bis spätestens 2050 weitestgehend auf den Ausstoß von Treibhausgasen verzichtet werden. Das EU-Parlament hat als Teil des Klimaplans "Fit für 55" eine Reform für die Emissionshandel-Regeln beschlossen, die den Mechanismus zum Kauf von Verschmutzungsrechten ausweitet. Die Pflicht dazu soll künftig auch für den Schiffsverkehr und den Gebäudesektor gelten. Die EU-Mitgliedsländer müssen dem Reformprojekt noch zustimmen.
Um das Ziel der Klimaneutralität zu erreichen, sind Milliarden-Investitionen von öffentlicher Hand und Unternehmen in ökologisch nachhaltige Aktivitäten notwendig. Seit Anfang Januar können in der EU auch Investitionen in Erdgas- oder Atomkraftwerke als nachhaltig eingestuft werden.
Außerdem geht es um Berichtspflichten für Unternehmen. Hier steht im Fokus, Informationen über die Nachhaltigkeit der Aktivitäten vergleichbarer zu machen. Die neuen Berichts- und Informationspflichten sollen Anlegern den Überblick erleichtern.
Die EU-Kommission hat sechs Umweltziele in dem Taxonomie-Entwurf aufgestellt, wobei vor allem die ersten beiden - Verhinderung des Klimawandels und Anpassung an den Klimawandel - besonders wichtig sind.
Die Umweltziele der EU-Taxonomie
- Verhinderung des Klimawandels
- Anpassung an den Klimawandel
- Nachhaltige Nutzung von Wasser- und Meeresressourcen
- Wandel zu einer Kreislaufwirtschaft
- Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung
- Schutz und Wiederherstellung der Biodiversität und der Ökosysteme
Unter anderem müssen Unternehmen ihre wirtschaftlichen Aktivitäten in Zukunft deshalb mit mindestens einem von sechs Umweltzielen der EU in Einklang bringen, ohne eines oder mehrere andere Umweltziele zu beeinträchtigen, das sogenannte DNSH-Prinzip (Do No Significant Harm).
Zudem müssen Mindestanforderungen in sozialen Bereichen oder bei den Menschenrechten erfüllt werden. Bisher sind nur die Kriterien für die ersten beiden Umweltziele – Klimaschutz und Anpassung an den Klimawandel – definiert. Vorschläge für Bewertungskriterien für die vier verbleibenden Ziele liegen zwar schon vor, Experten gehen aber davon aus, dass ein sogenannter delegierter Rechtsakt dazu erst in einigen Monaten vorliegen wird. Die EU-Taxonomie tritt deshalb erst mal nur in Teilen in Kraft.
Wen betrifft die EU-Taxonomie?
Verbunden mit der Taxonomie ist eine Offenlegungsverordnung (sustainable finance disclosure regulation). Finanzinvestoren müssen offenlegen, inwieweit sie in Unternehmen investiert haben, die nach EU-Taxonomie als nachhaltig klassifiziert sind. Dann können auch sie ihre Finanzprodukte als grün klassifizieren.
Für Konsumentinnen und Konsumenten bedeute dies, dass Atom und Gas künftig auch in grünen, nachhaltigen Fonds auftauchen könnten, erklärte Alexander Bassen, Professor für BWL an der Universität Hamburg, im Deutschlandfunk. Die spannende Frage sei aber, ob die Akteure auf den Kapitalmärkten künftig tatsächlich in Unternehmen investierten, die mit Gas- und Atomenergie wirtschaften. Denn in Deutschland gebe es hier große ökologische und kulturelle Vorbehalte, und Nichtregierungsorganisationen und kritische Bürgerinnern und Bürger würden die Investoren jetzt sehr genau beobachten. Er erwarte daher nicht, dass auf einmal alle Investoren in Atom und Gas investierten, weil der Reputationsschaden zu groß wäre, sagte Bassem.
Investmentfonds hätten vielmehr ihre eigenen Nachhaltigkeitskriterien und orientierten sich hier eher an entsprechenden Labels, bei denen Atomkraft häufig ausgeschlossen sei. "Gas und Atom in die Taxonomie mit aufzunehmen, war ein rein politischer Schritt", sagte Bassem. "Dadurch besteht die Gefahr, dass die Taxonomie diskreditiert wird. "
Claudia Kempfert vom Institut für Wirtschaftsforschung trennt zwischen Atomenergie und Gas. Investitionen in "grüne" Atomenergie sei nicht attraktiv, weil diese nicht versicherbar sei. "Sie finden keine Bank, es sei denn, Sie geben umfassende Subventionen, die da wirklich ernsthaft investiert. Die Europäische Investitionsbank hat ja auch schon abgewunken und gesagt: Das ist für uns überhaupt nicht von Interesse, wir müssen da auch nicht reininvestieren", sagte Kemfert im Dlf. Beim fossilen Erdgas sei es etwas anders.
"Da geht es auch in Richtung grünem Wasserstoff. Da findet man sicherlich Investoren. Aber man erhofft sich auch hier, weil man weiß, fossiles Erdgas ist endlich, dass es dort Unterstützung gibt seitens dieser europäischen Finanzpuffer, die dann damit einherkommen", so Kemfert.
Die Taxonomie beeinflusst aber nicht nur private Marktteilnehmer. Die deutsche staatliche Förderbank KfW bestätigte dem "Handelsblatt", dass sie klimafreundliche Aktivitäten mittelständischer Unternehmen in Anlehnung an die EU-Taxonomie fördere. Und auch öffentliche Gelder werden vermutlich nach Taxonomie-Kriterien fließen. Denn oft sind Stadtwerke, die in kommunaler Hand sind, für Investition in Kraftwerke verantwortlich. „Wenn die EU bestimmte Gaskraftwerke als nachhaltig einstuft, dann wird es auch wahrscheinlicher, dass die Kommunen diese Kraftwerke bauen“, sagte Timm Fuchs vom Deutschen Städte- und Gemeindebund dem Handelsblatt.
Welche Kritik gibt es an der EU-Taxonomie?
Mehrere Länder kritisieren die Pläne der EU-Kommission, Atomkraft als nachhaltig einzustufen, darunter die Bundesregierung. Die Grünen befürchten, dass dies zu Lasten des Ausbaus erneuerbarer Energien wie Wind und Sonne geht. Die Regierung von Österreich hat gegen das Nachhaltigkeitssiegel für Atomenergie und Gas geklagt. Auch Luxemburg, Spanien und Dänemark kritisierten die EU-Einstufung, während Mitgliedstaaten wie Polen und Bulgarien Gaskraftwerke als Alternative zu noch klimaschädlicheren Kohlekraftwerken verteidigten.
Die Brüsseler Einstufung gilt auch als Kompromiss zwischen deutschen und französischen Interessen: Für die Nuklearenergie macht sich vor allem Frankreich auf EU-Ebene stark. Mit der Einstufung von Erdgas kann dagegen die Bundesregierung wegen deren Bedeutung für die deutsche Industrie gut leben.
Die Energie-Ökonomin des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Claudia Kemfert, sagte im Deutschlandfunk, es werde in rückwärtsgewandte Technologien investiert, die Europa aufhielten, eine vollständige Energiewende zu erreichen: "Dass sowohl fossiles Erdgas als auch Atomkraft in der Taxonomie drin sind, ist ein Rückschlag für den Klimawandel und nicht sehr produktiv, gerade weil es darum geht, dass wir in die erneuerbaren Energien investieren müssen im großen Stil, aber auch in Stromnetze und grünen Wasserstoff."
Warum ziehen Umweltorganisationen vor Gericht?
Greenpeace, der BUND, der WWF und andere reichten beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg Klagen gegen die EU-Kommission ein, wie die Organisationen mitteilten. Sie werfen der Behörde unter der Leitung von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen "Greenwashing" vor, da beim Verbrennen von Gas klimaschädliches Kohlendioxid ausgestoßen wird und bei der Nutzung von Atomenergie radioaktiver Müll entsteht.
Könnte die EU-Taxonomie noch scheitern?
Der Taxonomie-Vorschlag der EU-Kommission ist ein sogenannter delegierter Rechtsakt. Das bedeutet: Das Papier erlangt automatisch Gesetzeskraft, wenn nicht entweder die Länder mit einer qualifizierten Mehrheit oder das Europäische Parlament mit absoluter Mehrheit dagegen stimmen.
Dass der Entwurf noch gestoppt wird, gilt inzwischen als unwahrscheinlich. Obwohl die zwei wichtigsten Ausschüsse am 14. Juni 2022 gegen die Aufnahme stimmten, billigte das EU-Parlament am 6. Juli 2022 die Einstufung von Gas und Atom als nachhaltig: Von den anwesenden 639 Abgeordneten stimmten 278 dafür, das Vorhaben zu blockieren. 328 wollten dies nicht, 33 enthielten sich. Für ein Veto des Parlaments wäre eine Mehrheit von 353 Stimmen der insgesamt 705 Abgeordneten nötig gewesen. Nur ein Veto von 20 der 27 EU-Mitgliedsstaaten könnte den Entwurf noch verhindern, was allerdings als sehr unwahrscheinlich gilt.
Gegen Kernkraft haben sich Deutschland, Österreich, Luxemburg, Dänemark und Portugal positioniert. Unter anderem Frankreich und Schweden setzen sich hingegen für die Technologie ein.
Quellen: dpa, Reuters, BMWI, Klaus Remme, Peter Kapern, Rat für nachhaltige Entwicklung, kho