Tobias Armbrüster: Am Telefon ist jetzt der Linken-Politiker Stefan Liebich, Mitglied im Auswärtigen Ausschuss des Deutschen Bundestags. Schönen guten Tag, Herr Liebich.
Stefan Liebich: Guten Tag, Herr Armbrüster.
Armbrüster: Herr Liebich können Sie sich dieser Einschätzung von Jean-Claude Juncker anschließen, dieses Treffen gestern war ein erster Schritt sozusagen in die richtige Richtung?
Liebich: Ich finde, dass das, was gegenwärtig in Brüssel geschieht, ein Trauerspiel ist. Natürlich ist es überfällig, dass es eine menschenwürdige Aufnahme derjenigen gibt, die hier bei uns auf unserem Kontinent Schutz vor Krieg, Not und Terror suchen. Dass man dort Zelte hinschafft und Decken, das ist wohl das Mindeste. Und es ist eine Schande, dass das bisher nicht gelungen ist. Aber wenn die EU nicht ernsthaft die Ursachen anpackt, warum die Menschen eigentlich fliehen, dann werden wir uns im Kreis drehen. Alle Debatten über Belastungsgrenzen, Verteilung und Routen sind sinnlos, wenn wir nicht die Wurzel anpacken.
Armbrüster: Und da meinen Sie jetzt den Krieg in Syrien oder die Lage in den Flüchtlingslagern der Region?
Liebich: Es gibt mehrere Dinge, die wir da anpacken müssen. Das erste und Wichtigste ist in der Tat der Krieg in Syrien und die EU ist hier nicht einfach nur Zuschauer. Frankreich und Großbritannien sind ja Teil der Allianz oder bomben auf der Seite der Vereinigten Staaten von Amerika und der Freien Syrischen Armee. Bisher gibt es keine Einigung mit der russischen Seite, die an der Seite von Assad bombt. Und solange das weitergeht, solange da jede Seite ihre eigenen Interessen mit militärischer Gewalt versucht, durchzusetzen, verlieren die Menschen jede Hoffnung. Und dann fliehen sie natürlich und kommen zu uns, und das kriegen wir hier nicht durch eine Debatte über Zäune und Stacheldraht aufgelöst.
Armbrüster: Nun sind diese Hunderttausende von Menschen allerdings einmal unterwegs und sie strömen zum größten Teil in Richtung Westeuropa. Macht es da nicht Sinn, dass man sich in Brüssel zusammensetzt und sich überlegt, wie kriegen wir das einigermaßen geordnet hin?
Liebich: Erst mal ist die Grundannahme nicht richtig. Die meisten Menschen strömen nicht in die Europäische Union und nicht nach Deutschland, sondern in die Nachbarländer von Syrien. Und dort werden auch die meisten Flüchtlinge aufgenommen.
Armbrüster: Ich spreche jetzt über diese Menschen, die auf der sogenannten Balkan-Route unterwegs sind.
Liebich: Ursachen müssen angegangen werden
Liebich: Ja, ja. Ich sage das nur zur Relativierung. Es gibt auch viele, die woanders unterkommen. Die, die hier herkommen, da müssen wir einen anderen Weg finden. Das ist in der Tat so wie bisher nicht richtig. Ich finde, dass es viel zu spät ist, dass man den Ländern im Süden der Europäischen Union hilft bei der Aufnahme von Flüchtlingen. Lange Zeit hat sich Deutschland da auch weggedrückt. Wir haben uns ja in diesem sogenannten Dublin-System sicher gefühlt. Wir wussten, die Flüchtlinge werden nicht bei uns ankommen, sondern in Italien, in Griechenland bleiben. Das ist nun nicht mehr so. Und dass man dann miteinander spricht in der Europäischen Union, das ist richtig und notwendig. Aber das funktioniert nur, wenn man auch an die Ursachen geht. Sonst wird das immer weitergehen.
Armbrüster: Das heißt, was schlagen Sie dann vor? Was müsste jetzt innerhalb der Europäischen Union geschehen? Wir sollten alle Bemühungen sein lassen, die Flüchtlingsströme zu koordinieren, und uns stattdessen um die Lage im Nahen Osten kümmern?
Liebich: Natürlich nicht. Wir müssen beides gleichzeitig tun. Wir müssen die Flüchtlinge hier vernünftig aufnehmen und ihnen helfen.
Armbrüster: Wo denn aufnehmen? Wo aufnehmen?
Liebich: In der Europäischen Union. Unser Prinzip ist, dass die Flüchtlinge am Ende selbst entscheiden müssen, wo sie in der Europäischen Union leben wollen. Es ist doch ganz klar: Es gibt im Moment eine ganze Reihe von Irakern, die nach Finnland gehen. Darüber wird in Deutschland nicht so viel geredet, aber dort ist eine große irakische Community und Finnland nimmt, gemessen an der Einwohnerzahl, genauso viele Flüchtlinge auf wie Schweden. Und das ist auch richtig, dass sie das tun. Was soll ich da mit Quoten hantieren und sagen, wir schieben die Flüchtlinge wie Sachen auf dem Kontinent hin und her. Man geht dahin, wo man Familie hat, wo einem geholfen wird. Und ganz ehrlich: Ich möchte im Moment auch keinen Flüchtling in das rassistische Ungarn schicken. Wie dort mit Flüchtlingen umgegangen wird, das kann ich nicht mit einer Quote beantworten. Eine Verantwortung hat aber Viktor Orbán natürlich auch. Er gehört zur Europäischen Union. Und wenn man sich jetzt danebenstellt und grinsend mitteilt, man sei gar nicht mehr Teil des Problems, dann tritt man europäisches Recht mit Füßen. Deswegen, finde ich, müssen diese Länder finanziell zur Verantwortung gezogen werden und die Kosten für die Aufnahme von Flüchtlingen tragen.
Armbrüster: Aber kann das denn wirklich die Lösung sein, dass wir es Flüchtlingen freistellen, wo in Europa sie hingehen?
Liebich: Massenlager an deutschen Grenzen sind keine Lösung
Liebich: Am Ende werden wir es sowieso nicht verhindern können. Wir können die Flüchtlinge nicht inhaftieren und wir wollen das auch nicht. Ich hoffe, dass die SPD auch ihre Position beibehält, dass sie diese Vorschläge von Massenlagern an den deutschen Grenzen weiterhin ablehnt. Natürlich können wir Anreize schaffen. Und wir sollten auch darüber reden, dass es gemeinsame Regeln in der Europäischen Union für Flüchtlinge gibt. Und zwar auf dem Standard, den die Genfer Flüchtlingskonvention vorsieht. Aber wir werden die Flüchtlinge nicht mit Gewalt zwingen können, in das eine oder das andere Land zu gehen.
Armbrüster: Ich frage jetzt mal einfach so: Sollte man nicht als Flüchtling froh sein, wenn man es aus einem Bürgerkriegsland oder aus einem völlig heruntergekommenen Lager in der Region in die Europäische Union geschafft hat? Und sollte es dann eigentlich nicht relativ egal sein, wo in der Europäischen Union man eine sichere Wohnung, eine sichere Unterkunft bekommt?
Liebich: Wenn man eine sichere Wohnung und eine sichere Unterkunft bekommen würde, wäre das alles ganz schön. Aber wenn die Aussicht eines Flüchtlings ist, auf einem kalten Betonboden oder in irgendeinem Wald zu leben. Wenn man rassistischen Angriffen ausgesetzt wird, dann ist es eben nicht egal. Und natürlich schauen Flüchtlinge auch aus der Ferne. Sie haben ja auch Internet, sie haben auch Fernsehen. Natürlich schauen Sie, wo sie das Gefühl haben, dass sie willkommen sind. Die ungarische Regierung hat in jordanischen Zeitungen große Anzeigen geschaltet, in denen steht, Ungarn ist ein gastfreundliches Land, aber wenn ihr zu Unrecht zu uns kommt, dann werden wir euch mit aller militärischer Härte wieder abschieben. Ich meine, das sendet ein Signal aus, das ist doch ganz klar. Wenn jetzt alle sagen würden, wir wollen das alle so machen wie Ungarn und lösen damit das Problem, dann wird das Sterben an unseren Grenzen weitergehen. Es ist gerade letzte Nacht wieder eine Frau mit zwei Kleinkindern vor Lesbos ertrunken, 45 Menschen an den Stränden von Libyen gestorben. Der kleine Aylan, der uns damals alle so aufgerüttelt hat am Strand von Bodrum, der stirbt jede Nacht. Und ich finde, wir können darüber nicht hinwegsehen, sondern wir müssen helfen, statt die Grenzen hochzuziehen.
Armbrüster: Stefan Liebich war das, Außenpolitiker der Linkspartei, Mitglied im Auswärtigen Ausschuss des Deutschen Bundestags. Vielen Dank, Herr Liebich, für Ihre Zeit heute Mittag.
Liebich: Vielen Dank.
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