Im März 2016 kam ein folgenreiches Abkommen zwischen der Europäischen Union und der Türkei zustande: Der sogenannte Flüchtlingsdeal sollte die Migration über die Türkei in die EU reduzieren. Im Jahr zuvor hatten mehr als 1,2 Millionen Menschen erstmals Asyl in einem EU-Staat beantragt – ein Rekordwert, verursacht unter anderem durch den Bürgerkrieg in Syrien. Jeder dritte Asylsuchende besaß 2015 die syrische Staatsangehörigkeit.
Doch nicht alles, was damals im EU-Türkei-Abkommen vereinbart wurde, ist tatsächlich umgesetzt worden. Auch nach dem Sturz des syrischen Diktators Baschar al-Assad im Dezember 2024 leben weiterhin mehr als drei Millionen Syrerinnen und Syrer im Nachbarland Türkei.
Was beinhaltet das EU-Türkei-Abkommen?
Vor der Einigung auf einen Flüchtlingspakt kamen massenhaft Geflüchtete über das Transitland Türkei nach Europa. Im EU-Türkei-Abkommen vom 18. März 2016 vereinbarten die Europäische Union und die türkische Republik, „die irreguläre Migration aus der Türkei in die EU zu beenden“. Insgesamt wurden dazu neun Punkte vereinbart.
Zentral war dabei eine Festlegung für Migranten, die von der Türkei aus auf die griechischen Inseln gelangten und dort erstmals die EU betraten. Die Türkei verpflichtete sich, diese Menschen wieder zurückzunehmen. Außerdem wurde der sogenannte 1:1-Mechanismus eingeführt: Für jede aus Syrien stammende Person, die von den griechischen Inseln in die Türkei abgeschoben wird, sollte ein anderer syrischer Flüchtling aus der Türkei in einem EU-Land aufgenommen werden.
Für das Eindämmen der Fluchtmigration erhielt die Türkei finanzielle und politische Versprechungen von der EU. Zur Unterstützung der Migranten, die in der Türkei vorübergehenden Schutz genießen, sagten die EU-Staaten ein Hilfspaket von insgesamt sechs Milliarden Euro zu. Die Europäer stellten außerdem eine visafreie Einreise für türkische Staatsbürger, eine Erneuerung der Zollunion mit der Türkei sowie ein Wiederbeleben der Verhandlungen über einen möglichen EU-Beitritt der Türkei in Aussicht.
Was hat das Abkommen bewirkt?
Infolge des Abkommens ging die Fluchtmigration von der Türkei in die EU tatsächlich zurück. Laut den Vereinten Nationen kamen 2015 noch mehr als 850.000 Flüchtlinge auf den an die Türkei grenzenden griechischen Inseln in der Ägäis an. 2017 waren es weniger als 30.000 Menschen. Die Rückführung von Migranten von den griechischen Inseln in die Türkei wurde aber von Anfang an durch die langsamen Asylverfahren in Griechenland erschwert.
Anfang 2020 allerdings kam es zum Bruch zwischen der Türkei und der EU, und die Situation an der griechisch-türkischen Grenze eskalierte. Die Zahl der Kriegsflüchtlinge aus Syrien, die in die Türkei kamen, hatte wieder zugenommen, und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan stand unter Druck. Er kündigte an, keine Flüchtlinge mehr auf ihrem Weg nach Europa aufzuhalten und die Grenze zum griechischen Festland nicht mehr zu sichern. Auch die Wiederaufnahme von syrischen Flüchtlingen aus den griechischen Inselcamps wurde für beendet erklärt.
Die griechische Regierung setzte einen Monat lang das Asylrecht aus. Berichte über illegale „Push-Backs“ der griechischen Küstenwache häuften sich, bei denen Geflüchtete abgewiesen und ihnen das Recht auf Asylverfahren verweigert wurde. Zehntausende Migranten lebten in menschenunwürdigen Camps auf den griechischen Ägäis-Inseln. Vor allem die Zustände im Lager Moria auf Lesbos wurden zum Symbol einer europäischen Abschottungspolitik.
In der Türkei leben heute mehr als drei Millionen Syrerinnen und Syrer. Für die Versorgung der geflohenen Menschen hat die Türkei zwar die von der EU zugesagten finanziellen Hilfen erhalten. Allerdings kam es nicht zu der ebenfalls vereinbarten politischen Annäherung an die EU. So wurde beispielsweise die Visumspflicht für türkische Staatsbürger bis heute nicht aufgehoben.
Die Soziologin Didem Danış kommt zu dem Schluss, dass Erdoğans Regierung das Abkommen geschickt für ihre zunehmend autoritäre Politik genutzt hat. Die Geflüchteten habe die türkische Regierung gezielt als Druckmittel eingesetzt.
Aus Sicht der außerordentlichen Professorin der Galatasaray Universität in Istanbul waren nicht die EU-Milliarden die entscheidende Gegenleistung, sondern politische Immunität: „Die Europäer haben es vorgezogen, ihre Augen vor den anti-demokratischen Entwicklungen in der Türkei zu verschließen“, sagt die Soziologin. Von Anfang an sei es ihnen nur darum gegangen, ihre Grenzen zu schützen und Geflüchtete fernzuhalten. „So betrachtet hat das EU-Türkei-Abkommen sehr negative Auswirkungen auf eine mögliche Mitgliedschaft der Türkei in der EU gehabt.“
Auch Amnesty International und andere Organisationen kritisierten das EU-Türkei-Abkommen und dessen Umsetzung. Sie sehen darin einen Verstoß gegen die Menschenrechte. Amnesty International nannte das Abkommen „illegal“, da es elementare Grundsätze des Flüchtlingsrechts verletze. Aus Sicht europäischer Politiker war der Flüchtlingspakt dagegen ein Erfolg.
Wie wird das EU-Türkei-Abkommen in der Türkei wahrgenommen?
2016 war das Abkommen auch in der Türkei begrüßt worden. Türkische Medien verkündeten jubelnd die vereinbarten Handelserleichterungen mit Europa, insbesondere aber das angebliche bevorstehende Ende der Visumspflicht. Inzwischen wird der Flüchtlingsdeal von vielen jedoch kritisch gesehen.
„In den Augen vieler Türken ist ihr Land zu einer Abstellkammer für Geflüchtete geworden, damit diese nicht nach Europa ausreisen“, sagt die Anwältin Aylin Mazi, die syrische Geflüchtete berät.
Niemand in der Türkei halte das Abkommen noch für einen Erfolg, betont der Politologe Murat Erdoğan. Bei vielen Menschen sorge für Unmut, dass es immer noch nicht die damals zugesagten Visa-Erleichterungen gibt. Außerdem seien sechs Milliarden Euro zur Versorgung der Flüchtlinge zwar viel Geld, aber gemessen am Bedarf sei es wenig, so Murat Erdoğan. „Und warum wollen die Europäer die Geflüchteten aufhalten? Sie sehen ihre Demokratie in Gefahr, ihre Stabilität“, sagt der Politikwissenschaftler. „Aber in der Türkei droht uns Ähnliches.“
Wie geht es den Syrerinnen und Syrern in der Türkei?
Die meisten Syrerinnen und Syrer sind der Türkei für die Aufnahme dankbar, allerdings leben sie in prekären Verhältnissen. Viele der Geflüchteten fürchten, verhaftet zu werden, sagt die Anwältin Aylin Mazi. „Der temporäre Schutzstatus kann Menschen sehr leicht entzogen werden. Auch wenn sie an keiner Straftat beteiligt waren“, erklärt sie. „Schon die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens reicht aus, um den Schutzstatus zu verlieren.“ Viele hätten deshalb sogar Angst, das Haus zu verlassen.
Anfangs hätten die aus Syrien Geflüchteten viel Solidarität in der Türkei erfahren, sagt die Juristin. Doch Mazi beobachtet, dass – parallel zur Wirtschaftskrise in der Türkei – Ressentiments gegenüber Syrerinnen und Syrern zugenommen haben. Obwohl die Geflüchteten es schwer hätten, würden Menschen oft das Gegenteil denken. „Sie glauben, dass die EU oder die Vereinten Nationen sie unterstützen, dass die Geflüchteten immer wohlhabender werden und nicht arbeiten würden“, sagt die Anwältin. „Syrischen Geflüchteten schlägt heute viel Hass entgegen.“
Was könnte sich nun durch den Sturz Assads verändern?
Es ist unklar, wie es mit dem Flüchtlingsdeal nach dem Ende des Assad-Regimes weitergeht. Offen ist auch, wie viele der Geflüchteten freiwillig nach Syrien zurückkehren werden. Denn auch in der Türkei fragen sich die Kriegsflüchtlinge, ob sie den neuen syrischen Machthabern vertrauen können.
„Bei unserer Umfrage vergangenes Jahr gaben 89 Prozent der Syrer an, nicht nach Syrien zurückkehren zu wollen. 89 Prozent der befragten Türkinnen und Türken wollten aber genau das“, sagt der Politikwissenschaftler Murat Erdoğan. Entsprechend hoch sei nun die Erwartung nach dem Sturz von Assad. „Ich denke, das ist eine gefährliche Situation.“
Der Politologe betont, dass viele Syrer nicht nur vor dem Assad-Regime, sondern auch vor Islamisten geflohen sind – auch vor Gruppen, die im neuen Syrien mehr Einfluss als zuvor haben. Falls die türkische Regierung angesichts der Ressentiments dennoch Menschen zwingen sollte, zurück nach Syrien zu gehen, könnte seiner Meinung nach die Situation an der Grenze zur EU wieder eskalieren.
Die EU setzt derweil erneut auf Geld: Nach dem Machtwechsel in Syrien kündigte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im Dezember bei einem Besuch in Ankara an, eine weitere Milliarde Euro für die Versorgung syrischer Flüchtlinge in der Türkei bereitzustellen.
jfr