Am 18. März 2016 präsentierte Bundeskanzlerin Angela Merkel in Brüssel nach langen Verhandlungen das EU-Türkei-Abkommen. Im Kern stand ein Deal über die Rücknahme von Migranten, die vor allem über die östliche Mittelmeerroute nach Europa flüchten. Die EU verpflichtete sich, sechs Milliarden Euro an Hilfsgeldern zu zahlen, die direkt an Flüchtlingsprojekte, etwa für den Bau von Schulen, und Hilfsorganisationen in der Türkei fließen. Im Gegenzug sollte die Türkei die Schleuserroute durchs Mittelmeer abriegeln und sich verpflichten, Flüchtlinge zurückzunehmen, wenn sie doch mit Booten auf den griechischen Inseln anlandeten.
Ein quid pro quo, das zunächst dazu führte, dass die Migrationszahlen sanken. Doch inzwischen ist der Prozess ins Stocken geraten und zum politischen Zankapfel zwischen der EU und der Türkei geworden. Tausende Flüchtlinge stecken an der EU-Außengrenze und in den provisorischen Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln fest, zum Teil unter katastrophalen Bedingungen. Was sind die Probleme bei der Umsetzung des Abkommens, ist der Deal nach fünf Jahren schon gescheitert?
Im Kern der Vereinbarung zwischen der Europäischen Union und der Regierung in Ankara steht eine Regelung für Asylsuchende, die die Türkei als Transitland genutzt haben und auf den griechischen Inseln erstmals das Territorium der EU betreten. Die Türkei verpflichtete sich, diese Migranten wieder zurückzunehmen. Außerdem sollte, nach dem sogenannten 1:1-Mechanismus, für jede in die Türkei abgeschobene Person aus dem Kriegsland Syrien ein anderer syrische Flüchtling aus der Türkei neu in einem EU-Land angesiedelt werden. Im Gegenzug sicherte die Europäische Union die schnelle Auszahlung eines Hilfspakets von insgesamt sechs Milliarden Euro für Migranten zu, die in der Türkei vorübergehenden Schutz genießen.
Ein weiterer, vor allem für die Türkei wichtiger Bestandteil des Abkommens war eine Vertiefung der Beziehungen zwischen der EU und der Türkei. Neben einer Lockerung von Visa-Bestimmungen und dem Ausbau der Zollunion ging es auch darum, die Verhandlungen über einen möglichen Beitritt der Türkei zur EU wiederzubeleben.
Die konkrete Umsetzung des Flüchtlingsabkommens ist in erster Linie Sache der griechischen Behörden. Die Rückführungen von Migranten von den griechischen Inseln in die Türkei wurden jedoch von Beginn an von der langsamen griechischen Asylbürokratie erschwert. Seit Beginn des Abkommens vor fünf Jahren wurden nach Schätzungen rund 3.000 Flüchtlinge aus Syrien in die Türkei zurückgebracht, bei mehreren Zehntausenden, die auf den Inseln angelandet sind. Gleichzeitig hat die Europäische Union mehr als 7.000 asylberechtige Flüchtlinge aus der Türkei aufgenommen.
Das größte Problem bleibt aber, dass Europa bislang nicht die angestrebte gemeinsame Asylreform auf den Weg gebracht hat, die Migration nach Europa dauerhaft und nachhaltig regeln soll. Alle Reformentwürfe scheitern vor allem an der Frage nach einer möglichen Umverteilung ankommender Flüchtlinge zwischen den Staaten. Eine Gruppe von vor allem osteuropäischen Ländern weigert sich, Flüchtlingskontingente aufzunehmen. Die im EU-Türkei-Abkommen verankerte freiwillige Umverteilung von Flüchtlingen ist bislang nicht mehr als eine bloße Absichtserklärung.
Die EU versucht, Griechenland im Grenzschutz und im Asylverfahren zu unterstützen, die europäische Grenzschutzagentur Frontex und das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) haben insgesamt knapp 1.000 Mitarbeiter auf die Inseln geschickt. Griechenland fühlt sich dennoch von Brüssel im Stich gelassen.
Der Streit über mögliche Verteilschlüssel droht Europa zu spalten. Zum Leidwesen der Türkei und der Flüchtlinge auf den Ägäis-Inseln Lesbos, Chios, Samos, Leros und Kos: Dort lebten im März 2020 über 40.000 Menschen in menschenunwürdigen Camps, in denen Platz für lediglich 6.000 Menschen ist. [*]
Im März 2020 kam es zum Bruch zwischen der EU und der Türkei: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan geriet wegen der wachsenden Zahl von Kriegsflüchtlingen aus dem benachbarten Syrien in der Heimat unter Druck. Zudem wurden in Idlib in Nordsyrien 33 türkische Soldaten bei einem Angriff der syrischen Armee getötet. Nachdem Erdogans Hilferufe in Richtung EU und NATO ungehört verhallten, nutzte er daraufhin das Abkommen als machtpolitischen Faustpfand gegenüber Europa: Erdogan kündigte an, keine Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa mehr aufzuhalten und die Grenze zum griechischen Festland nicht mehr zu sichern. Außerdem wurde die vereinbarte Wiederaufnahme von syrischen Flüchtlingen aus den griechischen Inselcamps für beendet erklärt. Offiziell begründet wurde dies mit den Grenzschließungen nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie.
Anfang März eskalierte die Situation am Grenzfluss Evros, dorthin hatten sich Tausende in der Türkei lebende Flüchtlinge aufgemacht und versucht, nach Griechenland zu gelangen. Erdogans Versuch, die Flüchtlinge in großer Menge quasi über die Grenze in die EU zu drängen, wurde vonseiten Griechenlands durch eine rigorose Grenzschließung gestoppt. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sprach von Griechenland als dem "Schutzschild Europas". Nach türkischen Angaben sollen dennoch 130.000 Flüchtlinge den Weg nach Europa geschafft haben. Erdogan durfte es als innenpolitischen Erfolg verbuchen, dass er Bilder vom hässlichen Gesicht Europas provoziert hatte.
Der im Flüchtlingsabkommen vereinbarte Prozess geriet daraufhin ins Stocken. Griechenland setzte für einen Monat das Asylrecht aus, neu ankommende Flüchtlinge konnten keinen Antrag auf Asyl stellen. Seit die Türkei abgelehnte Asylsuchende nicht mehr zurücknimmt, häufen sich zudem auf dem Mittelmeer Berichte über illegale "Push-Backs", bei denen Flüchtlinge abgewiesen werden und das Recht auf Asylverfahren verweigert wird. Die griechische Küstenwache soll demnach immer wieder Boote mit Flüchtlingen abdrängen. Die griechische Regierung streitet alle Vorwürfe ab, spricht von "Fake News" oder behauptet, die Boote würden freiwillig umkehren. Auf Samos kommen inzwischen überhaupt keine Bootsflüchtlinge mehr an. Insgesamt wird von der Regierung in Griechenland inzwischen ein eher migrantenfeindliches Narrativ geprägt.
Gescheitert ist das Abkommen noch nicht. Die EU hält weiter daran fest, auch weil sie davon profitiert: Das ursprüngliche Ziel, die Zahl der Flüchtlinge nach Zentraleuropa einzudämmen, wurde durch den Deal mit der Türkei erreicht. Vier Millionen Flüchtlinge bleiben im Moment in der Türkei. Geflüchtete müssen weiterhin auf den griechischen Inseln warten, und müssten im Fall eines abgelehnten Asylbescheids zurück in die Türkei.
Die Verpflichtung Ankaras besteht nach wie vor. Kippt das Abkommen, wäre zudem auch Griechenland nicht verpflichtet, die Menschen auf den Inseln festzuhalten, gegen den Willen der Betroffenen und auch gegen den Willen der Inselbewohner. Die Gefahr wäre groß, dass die Flüchtlinge dann die Hilfe von Schleppern in Anspruch nehmen und eine andere Route nach Europa suchen.
Auch deshalb besteht die EU momentan noch auf einer Einhaltung des Abkommens und hat die Türkei dafür kritisiert, dass die vereinbarten Rücknahmen seit einem Jahr ausgesetzt sind. Die sechs Milliarden Euro Flüchtlingshilfe für die Türkei sind zudem bereits ausgegeben.
Doch die EU, das hat die Eskalation im Frühjahr 2020 gezeigt, zahlt für das Abkommen einen politischen Preis und gibt dem türkischen Präsidenten ein großes Druckmittel in die Hand. Erdogan kann mit dem Flüchtlingsdeal auch ein Stück weit das hässliche Gesicht Europas präsentieren: Die EU zahlt Milliarden und braucht sich im Anschluss nicht mehr um die Flüchtlinge in der Türkei kümmern.
[*] An dieser Stelle haben wir einen zeitlichen Bezug präzisiert.
(Quelle: Ann-Kathrin Jeske, Karin Senz, Rodothea Seralidou, Christian Mixa)