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EU-Türkei-Flüchtlingspakt
AKP-Mitglied: "Türkei tut alles, um Deal am Leben zu erhalten"

Jeden Monat kämen mehr als 30.000 Flüchtlinge in der Türkei an, sagte der AKP-Abgeordnete Mustafa Yeneroglu im Dlf. Das stelle sein Land, das selbst große wirtschaftliche Probleme habe, vor große Herausforderungen. Trotzdem halte die Regierung in Ankara an ihrer "humanitären Politik" fest.

Mustafa Yeneroglu im Gespräch mit Jörg Münchenberg |
Eine syrische Flüchtlingsfamilie steht am Grenzzaun zum Nachbarland Türkei in der Nähe der türkischen Stadt Kilis
"Die langfristige Perspektive ist, dass die Menschen entweder in ihr Heimatland zurückkehren, oder natürlich sich ein sicheres Bleiberecht in Europa suchen", sagte der AKP-Politiker Mustafa Yeneroglu im Dlf über Flüchtlinge (picture-alliance / dpa/Uygar Onder Simsek)
Jörg Münchenberg: Morgen wird Innenminister Horst Seehofer (CSU) nach Ankara und nach Athen reisen. Es geht um die Flüchtlingspolitik. Zum einen hat sich die Lage in den griechischen Flüchtlingslagern in den letzten Tagen deutlich zugespitzt. Eine Frau kam bei einem Brand ums Leben und es gab auch massive Ausschreitungen. Der Grund: Die unhaltbaren Zustände im Lager Moria auf der Insel Lesbos. Auch, weil die Zahl der Flüchtlinge aus der Türkei zuletzt wieder deutlich gestiegen ist, trotz des bestehenden EU-Türkei-Flüchtlingspaktes.
Am Telefon ist jetzt Mustafa Yeneroglu. Er ist Parlamentsabgeordneter der türkischen Regierungspartei AKP. Herr Yeneroglu, einen schönen guten Morgen!
Mustafa Yeneroglu: Hallo! – Guten Morgen!
Münchenberg: Steht der Flüchtlingspakt zwischen der EU und der Türkei auf der Kippe?
Yeneroglu: Es gibt natürlich viele Herausforderungen und dass diese Herausforderungen schon seit längerem da sind, das ist eigentlich allseits bekannt. Nur, dass auf der anderen Seite durch den großen Druck auf den Iran, was Sanktionen und so weiter anbetrifft, die Zahl der Flüchtlinge insbesondere aus Afghanistan und so weiter zugenommen hat. Die Türkei hat selbst im Jahre 2019 in den ersten acht Monaten über 300.000 Flüchtlinge aus dem Osten quasi in der Türkei identifiziert, festgestellt, und das sind natürlich große Herausforderungen.
Wir sprechen jetzt von einer Zahl von mehreren hundert, die auf den griechischen Inseln ankommen. In der Türkei ist es so, dass monatlich über 30.000 Menschen in der Türkei ankommen. Und dass natürlich die Bewältigung dieser Herausforderungen in der Türkei auch selbst vor große Hürden jeden einzelnen stellt, ist klar. Aber die Türkei selbst tut alles dafür, um den Flüchtlingsdeal nach wie vor am Leben zu erhalten, und da muss Griechenland wahnsinnig viel tun.
"Dieser Ruf zur Solidarität ist ja auch nicht neu"
Münchenberg: Herr Yeneroglu, lassen Sie mich da mal einhaken. Trotzdem gibt es ja den Verdacht – es ist im Augenblick nur ein Verdacht -, dass die Türkei tatsächlich nicht mehr so genau hinschaut, was die Schlepper an ihren Küsten machen, und zulassen, dass vermehrt Flüchtlinge jetzt über die Ägäis auch nach Griechenland kommen.
Yeneroglu: Dieser Verdacht ist ja schon immer da gewesen. Der ist immer wieder erhoben worden.
Münchenberg: Aber es gibt ja auch die konkrete Drohung von Präsident Erdogan, den Pakt notfalls aufzukündigen.
Yeneroglu: Auch dieser Ruf zur Solidarität ist ja auch nicht neu. Aber man muss zunächst einmal konkretisieren. Wenn wir doch konkrete Zahlen haben, dass Griechenland in den letzten drei Jahren es nicht geschafft hat, 2.000 Syrer wieder in die Türkei zurückzuführen, dass Asylverfahren in Griechenland bis zu drei Jahre andauern, dass die Kapazität griechischer Behörden schon damals in den ersten Monaten des Flüchtlingsdeals nicht die gewesen ist, die es ermöglichen könnte, dass überhaupt die Asylanten in Griechenland entsprechend humanitär versorgt werden, dass die griechischen Grenzbehörden selbst nicht in der Lage sind, Schlepper aufzuhalten, das sind ja alles konkrete Feststellungen, die in den letzten drei Jahren immer wieder thematisiert wurden, aber leider zu keiner Lösung geführt haben.
Münchenberg: Aber, Herr Yeneroglu, das ist ja das Problem auf der griechischen Seite. Umgekehrt, um auch mal eine Zahl anzuführen: Im August sind laut dem Flüchtlingswerk UNHCR 8.000 Flüchtlinge übergesetzt von der Türkei in Richtung Griechenland. Das ist doppelt so viel wie im Vorjahresmonat. Die Zahlen sind ja deutlich und zeigen, die Flüchtlingszahlen von der Türkei nach Griechenland steigen an, obwohl es diesen EU-Flüchtlingspakt gibt.
Yeneroglu: Ja! Aber Sie müssen sich auf der anderen Seite auch vor Augen führen, dass mindestens 40 Prozent der in Griechenland angekommenen Flüchtlinge keine Syrer darstellen, sondern Afghanen. Und ich habe eben gesagt: Es leben über eine Million Afghanen im Iran und die Sanktionen dort gegen den Iran haben die ökonomische Situation extrem verschärft. Von dort aus kommen sehr, sehr viele Menschen in die Türkei und wollen weiter nach Europa.
"Es sind vorübergehende Zustände, die sie in der Türkei genießen können"
Münchenberg: Das heißt, für die Afghanen ist die Türkei nicht zuständig?
Yeneroglu: Die türkische Gesetzgebung kennt keinen sicheren Bleibestatus für Flüchtlinge aus dem Osten. Es sind vorübergehende Sicherheitsmechanismen, um den Menschen den Mindeststandard an humanitären Maßnahmen zu gewähren. Es sind vorübergehende Zustände, die sie in der Türkei genießen können, und deswegen wollen sie weiter nach Europa, um dort einen sicheren Bleibestatus zu bekommen, und natürlich auch aufgrund der ökonomischen Situation, der die Menschen in ihren Heimatländern ausgesetzt sind.
Münchenberg: Herr Yeneroglu, es heißt auch aus Ankara, die EU halte sich nicht an die zugesagten finanziellen Verpflichtungen. Es geht um insgesamt sechs Milliarden Euro. Ist das vielleicht auch ein Grund, den Druck auf Europa insgesamt zu erhöhen?
Yeneroglu: Sie gehen natürlich nach wie vor von der These aus, dass die Türkei selbst wirklich wenig tut, um die EU unter Druck zu setzen. Aber wenn man sich vergegenwärtigt, dass in der Türkei über 4,5 Millionen Flüchtlinge leben, dass in den letzten Jahren die Türkei trotz der großen wirtschaftlichen Herausforderungen im Land selbst über 40 Milliarden für die Versorgung der Flüchtlinge ausgegeben hat und dabei von Europa bis heute mit in etwa 3,5 Milliarden unterstützt wurde, und dass Europa sich in vielen Fragen nicht solidarisch zeigt und gegenüber der Türkei auch manche Verpflichtungen nach wie vor nicht erfüllt hat und offenbar auch nicht daran denkt, wenn wir zum Beispiel die Thematik Visa-Erleichterungen ansprechen, wenn wir die Thematik Modernisierung der Zollunion erörtern und wenn wir darüber hinaus uns auch mit der Frage beschäftigen, dass Griechenland viel mehr Flüchtlinge hätte in die Türkei rückführen müssen, und dann auf der anderen Seite auch zehntausende von Syrern nach Europa hätten übergesiedelt werden müssen, dann sind das schon erhebliche Tatsachen, über die man sprechen muss.
Münchenberg: Wobei Brüssel da anders argumentiert. Es geht ja um die sechs Milliarden und Brüssel sagt, das Geld sei schon geflossen. Und es war ja vorher immer auch schon ausgemacht, es soll nicht direkt an die Türkei gehen, sondern an bestimmte Organisationen, um zum Beispiel die Lage der Flüchtlinge in der Türkei selbst zu verbessern.
Yeneroglu: Ja, ja. Aber es ist kein Geheimnis, dass bisher von den sechs Milliarden etwa 3,5 Milliarden Euro vertraglich vergeben und bis jetzt 2,4 Milliarden ausgezahlt worden sind. Das ist eben Fakt.
Auf der anderen Seite ist Fakt, dass in der Türkei natürlich die Bevölkerung, was die Herausforderung der Syrer insbesondere in bestimmten Großstädten anbetrifft, mit großer Skepsis betrachtet, dass eine Neiddebatte in der Türkei angestoßen ist, die die Politik natürlich auch unter Druck setzt, und in dem Kontext man natürlich erwartet, dass sich Europa solidarischer zeigt.
"Es ist mitunter eine Pufferzone gegenüber dem Terrorismus"
Münchenberg: Herr Yeneroglu, nun plant ja Präsident Erdogan auch, weil die Türkei so viele Flüchtlinge aufgenommen hat, eine Pufferzone an der Grenze zu Syrien. Zwei Millionen Menschen sollen dorthin auf syrischen Boden umgesiedelt werden, auch als Puffer gegen die Kurden. Das kostet ja auch sehr viel Geld. Das heißt, die Türkei fordert bei diesem Projekt auch Unterstützung von Europa?
Yeneroglu: Richtig! Solange der Krieg in Syrien anhält, solange die Menschen nicht die Möglichkeit haben, nach Syrien zurückzukehren, werden wir über diese Probleme sprechen, und die Herausforderungen, die werden nicht abnehmen. Was die Pufferzone anbetrifft, ist das ein Vorschlag, den die Türkei schon seit Beginn des Bürgerkrieges macht, um den Menschen, insbesondere auch weiteren Wellen von Flüchtlingen die Möglichkeit zu geben, dort geschützt zu leben. Es ist auch keine Pufferzone gegen Kurden, sondern es ist mitunter eine Pufferzone gegenüber dem Terrorismus, der aus dem Norden Syriens immer wieder in die Türkei einsickert und hier Anschläge ausübt.
Münchenberg: Herr Yeneroglu, nun gibt es von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch auch Meldungen. Demnach werden Flüchtlinge nach Syrien zwangsweise abgeschoben, und zwar in Kriegsgebiete.
Yeneroglu: Diese Vorwürfe gab es immer wieder. Es gab vereinzelte Fälle, die dann berichtigt wurden, aber auch das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen konnte massenhafte Rückführungen nicht verifizieren. Das ist Stand der Dinge.
Yeneroglu: Regierung hält an humanitärer Politik fest
Münchenberg: Aber Human Rights Watch kann das zum Beispiel auch anhand von Flüchtlingen belegen, mit denen man gesprochen hat, die das genau geschildert haben, was da vorgefallen ist.
Yeneroglu: Das habe ich ja bestätigt. Es gab vereinzelte Fälle von Menschen, die in der Türkei ausfindig gemacht wurden, die in der Türkei nicht registriert gewesen sind und zurückgeführt wurden in die Schutzzonen, wo die Türkei die Kontrolle hat. Sobald dort Fehler festgestellt wurden, hat man das wieder berichtigt.
Münchenberg: Aber Sie sagen schon, es gibt quasi keinen massiven Druck auf die Flüchtlinge im Land, das Land zu verlassen. Sie haben es selber angesprochen: Es gibt ja auch einen Stimmungswandel innerhalb der Türkei gegenüber den Flüchtlingen.
Yeneroglu: Absolut! Leider muss man feststellen, dass auch die Türkei selbst aufgrund der natürlich erheblichen Arbeitslosigkeit, aufgrund der auch großen wirtschaftspolitischen Herausforderungen, denen das Land jetzt gegenübersteht, immer wieder die Forderung erhebt, dass die Menschen wieder in ihr Heimatland nach Syrien zurückkehren, beziehungsweise sich nicht in der Türkei aufhalten. Das hat aber die Regierung nicht davon abgehalten, an ihrer bisherigen humanitären Politik festzuhalten und zu schauen, dass natürlich die Menschen so umgesiedelt werden, dass in solchen Städten in der Türkei, wo fast keine Syrer leben, auch dort welche angesiedelt werden und man dort versucht, diese zu integrieren. Aber die langfristige Perspektive ist, dass die Menschen entweder in ihr Heimatland zurückkehren, oder natürlich sich ein sicheres Bleiberecht in Europa suchen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.