Die Suche nach gemeinsamen Lösungen müsse nicht mit Leisetreterei und Totschweigen von Dingen verbunden sein. "Auch die Türkei hat ein Interesse an einer Lösung dieser Fragen. Sie ist ein Hauptfluchtland." Mit zwei Millionen syrischen Flüchtlingen sei das Land extrem gefordert. "Die Türkei ist in einer robusten Verhandlungsituation, aber sie ist nicht in einer Situation, dass Europa einseitig alles geben muss."
In Europa vermisst Trittin die Erkenntnis, "dass eine Grenze nur dichtzumachen und ein Zustrom nur steuerbar ist, wenn man Wege des legalen Zutritts schafft". Trittin kritisierte, dass alles andere zu neuen Routen führe. "Diese Form der Kopf-in-den-Sand-Politik den die Visegrad und Österreich auf der Balkanroute praktiziert haben, führt nur dazu, dass das Problem in Griechenland explodiert." Demnächst würde eine neue Umwegroute entstehen.
Das Interview in voller Länge:
Martin Zagatta: Mitgehört hat Jürgen Trittin, Außenpolitiker der Grünen. Guten Tag, Herr Trittin.
Jürgen Trittin: Guten Tag.
Zagatta: Herr Trittin, die EU und die Bundesregierung - das haben wir jetzt gehört und das ist das Ziel dieses Gipfels -, die setzt bei der Flüchtlingskrise auf die Türkei, und trotz aller Menschenrechtsverletzungen am Bosporus, trotz des üblen Vorgehens gegen Journalisten. Sehen Sie denn einen anderen Weg, oder muss man tatsächlich jetzt so und auch relativ stark auf die Türkei setzen?
Trittin: Ich glaube, dass man gar nicht darum herumkommt, dort wo man gemeinsame Interessen hat, dann auch zu versuchen, zu gemeinsamen Lösungen zu kommen. Das muss aber nicht notgedrungen verbunden sein mit Leisetreterei und Totschweigen von Dingen.
Man muss ganz klar haben: Es gibt auch ein Interesse der Türkei an einer Lösung in dieser Frage. Die Türkei ist zurzeit Hauptfluchtland der Menschen, die aus Syrien kommen. Die Türkei ist mit über zwei Millionen Flüchtlingen aus Syrien extrem gefordert. Hier Entlastung zu bekommen, ist ein Interesse, was die Türkei hat und an Europa richtet. Hier nicht dauerhaft auch weiter destabilisiert zu werden durch Flüchtlingsbewegungen, ist ein Interesse, und ich glaube, Europa muss sich da nicht kleiner machen als es ist.
Es wird mit der Türkei kooperieren müssen, aber es wird, gerade wenn solche Dinge anstehen wie Erleichterungen im Visaverkehr, wenn Dinge anstehen wie Fortschritte in einem Beitrittsprozess zur Europäischen Union, den ja der Ministerpräsident noch mal ausdrücklich heute betont hat, dass die Türkei den wolle, dann muss auch klar sein, dass es dafür keinen Rabatt bei der Herrschaft des Rechts und bei den Menschenrechten geben kann.
"Die EU muss nicht über alles hinwegsehen"
Zagatta: Nun könnte aber die türkische Führung sagen und manche unterstellen ihr das ja, wir sehen ja, Europa nimmt uns keine Flüchtlinge ab, trotz aller Diskussion darüber. Es gibt diese Kontingente nicht, diese Bereitschaft in Europa nicht. Und auf der anderen Seite werden wir jeden Tag, wenn wir die Menschen durchlassen, einige Tausend los Richtung Griechenland.
Trittin: Das ist genau der Zustand, den die Europäer überwinden wollen, den aber am Ende auch die Türken überwinden werden müssen, denn an der Stelle findet natürlich eine massive auch Infragestellung ihrer touristischen Infrastruktur - das ist eine wichtige Säule der türkischen Wirtschaft - statt. Insofern glaube ich in der Tat, die Türkei ist in einer durchaus robusten Verhandlungssituation, aber sie ist nicht in einer Situation, dass Europa einseitig ihnen alles geben muss und über alles hinweggehen muss.
Zagatta: Wenn das Konzept aufgeht, das Berlin verfolgt, dass man der Türkei dann vielleicht doch irgendwann mit Zusagen entgegenkommt, Flüchtlinge abnimmt, wer entscheidet dann, wer da durchgelassen wird? Kann man das einem Staat wie der Türkei überlassen?
Trittin: Ich glaube, da wird man über Verfahren miteinander reden müssen. Letztendlich wird die Europäische Union zu entscheiden haben, wen sie auf ihr Territorium lässt. Das ist nach dem Völkerrecht so. Die Problematik für Europa ist meines Erachtens, dass es innerhalb Europas immer noch keine Erkenntnis darüber gibt, dass eine Grenze nur dicht zu bekommen ist und ein Zustrom nur steuerbar werden wird, wenn man gleichzeitig Möglichkeiten des legalen Zutritts schafft.
Alles andere führt dazu, dass man die eine Route zumacht, um dann auf einer anderen oder auf einer völlig neuen Route neue Flüchtlingsprobleme zu haben. Das heißt, diese Form der Kopf-in-den-Sand-Politik, die die Visegrád-Staaten auf der Balkan-Route praktiziert haben, das führt nur dazu, dass wir in Griechenland ein explodierendes Problem haben und dass wir bei nächster Gelegenheit dann eine neue Umweg-Route haben werden.
"Eine Grundbotschaft, die in Europa noch nicht alle verstanden haben"
Zagatta: Wenn aber dieses Konzept aufgehen würde, dass man sagt, Türkei, ihr riegelt eure Grenzen ab und wir nehmen euch Flüchtlinge ab, überlässt man dann einem Staat wie der Türkei nicht die Schmutzarbeit?
Ich denke zum Beispiel an die Diskussion, die wir hier hatten, diese Empörung über die AfD, die sagt, an unseren Grenzen müsste man notfalls auf Flüchtlinge schießen. Jetzt macht das die Türkei ja an der türkisch-syrischen Grenze. Die macht genau das und Amnesty International sagt, da werden sogar Kinder erschossen.
Trittin: Wir erwarten von der Türkei - das ist die gemeinsame Erwartung der Europäer -, dass sie bei denjenigen, die da in der Zone zwischen Aleppo und der türkischen Grenze sind, dafür sorgt, dass die ein Stück weit reingelassen werden. Diese Erwartung kann man aber nur haben, wenn man gleichzeitig bereit ist, die Türkei bei den Dingen zu entlasten. Das ist die Grundbotschaft, die offensichtlich in Europa noch nicht alle verstanden haben.
Zagatta: Sie sagen, die anderen haben es nicht verstanden. Es gelten ja in der Demokratie auch Mehrheitsentscheidungen. Die Deutschen mit ihrer Willkommenskultur stehen ja ziemlich alleine. Die Osteuropäer und rund 20 andere EU-Länder wollen das nicht.
Trittin: Wenn in der Demokratie Mehrheitsentscheidungen gelten, dann wundert es mich, dass die mit Mehrheit getroffene Verteilentscheidung über die 160.000 noch nicht umgesetzt worden ist. Was zählt denn nun, das Mehrheitsprinzip oder die rechtswidrige Weigerung einzelner Mitgliedsstaaten, einen demokratisch verfassten Beschluss umzusetzen. Da habe ich doch meinen Zweifel, wer sich hier auf die Demokratie berufen kann.
Zagatta: Auf der anderen Seite gibt es ja jetzt Staaten wie Ungarn, die wollen eine Volksabstimmung machen über die Aufnahme von Flüchtlingen. Andere wie die Slowakei sagen, uns kommt kein Muslim oder gar kein Flüchtling ins Land. Und die Mehrheit reagiert ja so. Wie wollen Sie das ändern?
Trittin: Das ist schlicht und ergreifend nicht in Übereinstimmung mit den europäischen Verträgen. Alle diese Staaten sind Mitglieder der Europäischen Union. Sie sind dem Acquis Communautaire, dem gemeinsamen Wertekanon verpflichtet und sie sind dem europäischen Recht verpflichtet.
Auf der Basis europäischen Rechts ist eine Entscheidung getroffen worden, dass die 160.000, die zu dem Zeitpunkt in Italien und Griechenland nicht unterzubringenden Flüchtlinge in Europa verteilt werden. Das nicht umzusetzen, verstößt gegen europäisches Recht. Da kann man Propaganda- und Schauabstimmungen machen oder Ähnliches.
Das Einzige was dagegen hilft ist gegebenenfalls zu klagen. Das tun diese Staaten. Ich sehe dem mit Gelassenheit entgegen. Am Ende werden sie die dann nehmen müssen. Wir müssen endlich dahin kommen, dass das, was wir übrigens gegenüber der Türkei einklagen, nämlich die Herrschaft des Rechts, auch innerhalb der Europäischen Union zu gelten hat, und damit ist das Verhalten einer Reihe von Mitgliedsstaaten und ihrer Regierungen in Europa nicht zu vereinbaren.
"Wir brauchen eine europäische Lösung"
Zagatta: Und dass Deutschland das im Alleingang machen müsste, dass Deutschland da vorpreschen müsste, sagen, wir nehmen Flüchtlinge aus der Türkei in einer Größenordnung, die noch festzulegen wäre, wäre das ein Weg, oder halten Sie das für ausgeschlossen?
Trittin: Ich glaube, dass wir klug beraten sind, in dieser Frage eine europäische Lösung zu suchen. Europa ist in diese Situation reingekommen, weil man in Europa über Jahrzehnte geglaubt hat, die Sicherung der Grenze sei keine Aufgabe Europas, sondern sei eine Aufgabe für die Staaten, die blöderweise das Pech haben, an der Außengrenze Europas zu sitzen.
Diese waren seit Jahren damit überfordert und es ist jetzt an der Zeit, aus dieser Tatsache eine Konsequenz zu ziehen, und die lautet, wir brauchen eine europäische Lösung dafür. Das ist der Weg, solche Migrations- und Fluchtbewegungen steuerbar, handhabbar und am Ende auch, was Integration und Ähnliches angeht, überhaupt managbar zu machen.
Zagatta: Jürgen Trittin, Außenpolitiker der Grünen. Herr Trittin, ganz herzlichen Dank für das Gespräch.
Trittin: Ich danke Ihnen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.