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EU-Türkei-Gipfel in Brüssel
"Eine Nebenbedingung, die das gesamte Bild verändert hat"

Beim EU-Sondergipfel mit der Türkei über die Flüchtlingspolitik sind Absichtserklärungen entstanden, aber keine Vereinbarung. Die neue Haltung der Türkei sei eine Hoffnung auf Fortschritt, sagte Daniel Gros, Direktor des Centre for European Policy Studies, im DLF. Der türkische Vorschlag sei "interessant, wenn er dann wirklich umgesetzt werden könnte."

Daniel Gros im Gespräch mit Sandra Schulz |
    In Idomeni an der griechisch-mazedonischen Grenze stehen am 2.3.2016 Flüchtlinge vor einem Grenzzaun.
    In Idomeni an der griechisch-mazedonischen Grenze stehen am 2.3.2016 Flüchtlinge vor einem Grenzzaun. (picture alliance / dpa / Michael Kappeler)
    Sandra Schulz: Wieder sind die Beratungen in Brüssel zu einer Marathon-Sitzung geraten, die Gespräche auf dem EU-Türkei-Sondergipfel gestern beziehungsweise bis heute Nacht. Die Kanzlerin sieht Europa in einer historischen Bewährungsprobe. An der griechisch-mazedonischen Grenze sind nach wie vor Zehntausende Flüchtlinge in verzweifelter Lage. Und kurz vor den drei Landtagswahlen in Deutschland hätte der Druck auf die deutsche Kanzlerin wohl größer kaum sein können. Ein Ergebnis allerdings, das hat die Kanzlerin aus Brüssel nicht mitgebracht. Mitgehört hat Daniel Gros, Direktor des Centre for European Policy Studies in Brüssel. Guten Tag.
    Daniel Gros: Guten Tag!
    Schulz: Die Staats- und Regierungschefs haben sich jetzt noch mal vertagt. Trotzdem gibt es stimmen, wir haben es auch gerade noch mal gehört, die von einem Fortschritt sprechen. Übertreiben die?
    Gros: Es gibt Hoffnung auf einen Fortschritt, würde ich sagen, denn das, was die Türkei vorgeschlagen hat, wäre wirklich in der Tat sehr interessant, wenn es dann wirklich umgesetzt werden könnte.
    Schulz: Gleichzeitig hat die Türkei offenbar für Verblüffung oder Überraschung gesorgt bei vielen Staats- und Regierungschefs. Warum eigentlich? Es ist doch wirklich schon seit Monaten klar, dass die Antwort in der Türkei liegt.
    Gros: Ja. Aber es war sozusagen ein Nebensatz, eine Nebenbedingung, die das gesamte Bild verändert hat. Was nämlich die Türkei vorgeschlagen hat und was nun wirklich neu ist, dass sie alle Flüchtlinge, die auf eine griechische Insel übersetzen, zurücknehmen wird. Und jetzt kommt das Entscheidende: Aber nur für die Syrer wird sie dann verlangen, dass man dafür direkt aus den syrischen Flüchtlingslagern Leute direkt nach Europa überführt. Dieser Unterschied, alle zurückzunehmen und nur für die Syrer einen Ausgleich zu fordern, der würde nämlich das Bild vollkommen verändern.
    Schulz: Sie sagen "nur für die Syrer", aber es sind ja im Moment über zwei Millionen Syrer in der Türkei.
    Gros: Genau. Aber Sie müssen sich jetzt mal vorstellen, was diese neue Politik für die einzelnen bedeuten würde. Wenn sie sich auf die gefährliche Reise begeben und auf eine griechische Insel noch übersetzen, dann werden sie zurück in die Türkei überführt und jemand anders, aber nicht sie selbst geht dann nach Europa. Das heißt, der Anreiz, diese gefährliche Reise auf sich zu nehmen, wird erheblich abgeschwächt werden, und es könnte sein, dass dann wirklich der Flüchtlingsstrom sehr schnell zum Versiegen kommt.
    "Von den Flüchtlingen kommen zurzeit sehr viele gar nicht aus Syrien"
    Schulz: Das setzt ja voraus, dass die Menschen, die auf der Flucht sind, relativ nüchtern abwägen und ihre Abwägung treffen. Haben nicht die vergangenen Monate, sogar schon fast die vergangenen Jahre gezeigt, dass es oft einfach die Verzweiflung ist, die die Menschen antreibt?
    Gros: Klar. Es ist natürlich die Verzweiflung mit ihrer Lage zuhause, die sie dazu antreibt, erst mal diese Gefahr auf sich zu nehmen. Aber sie machen das natürlich nur, wenn sie die Hoffnung haben, dass sie dabei ihre Lage auch verbessern können. Wenn sie von vornherein wissen, dass es auf diese Art und Weise nicht geht, dann werden sie eher versuchen, sich bei einer EU-Stelle direkt in Syrien oder in der Türkei zu melden, um direkt das begehrte Ziel zu erreichen. Außerdem muss man auch in Betracht ziehen, dass ja von den Flüchtlingen zurzeit sehr viele, über die Hälfte gar nicht aus Syrien kommen, sondern aus dem Irak, Afghanistan, Eritrea und vielen anderen Ländern, und solche Flüchtlinge würden sich erst gar nicht mehr auf die Reise in die Türkei machen.
    Schulz: Die Türkei hat jetzt ihren Preis genannt mit wie gesagt diesen Forderungen und Formulierungen, die durchaus für manche überraschend waren. Wie weit kann Europa der Türkei denn da jetzt entgegenkommen?
    Gros: Es gibt da wohl zwei Teile. Einmal der Teil, der de facto nicht viel bedeutet. Zum Beispiel neue Kapitel über Beitrittsverhandlungen zu eröffnen, bedeutet ja de facto nicht viel. Da treffen sich ein paar Diplomaten und besprechen Sachen, von denen sie wissen, dass sie hinterher sowieso nicht umgesetzt werden. Das einzig wirkliche Tangible wäre das Geld, was die Türkei möchte. Ich glaube, im Grunde genommen ist das Ziel von Erdogan etwas ganz anderes, nämlich er möchte erreichen, dass die EU de facto ihm freie Hand in der Türkei selbst gibt, dass er sich klammheimlich zum Diktator macht, ohne dass die EU groß protestieren kann, weil sie davon abhängt, dass er wirklich dieses Abkommen umsetzt. Das ist, glaube ich, der wirkliche Preis.
    Schulz: Was auch nicht gerade wenig verlangt ist.
    Gros: Natürlich! Die EU muss sich dabei fragen: Welches Prinzip opfert sie? Dass sie Verfolgte und Asylsuchende bei sich aufnimmt, dass sie überall für Demokratie und Menschenrechte eintritt? Ich glaube, de facto ist die politische Lage so, dass man sich gesagt hat, unsere Bevölkerung macht nicht mehr mit, wir müssen unsere Prinzipien aufgeben.
    Schulz: Wieso hängen Sie das Thema so tief, das Sie gerade als das benannt haben, da geht es eigentlich um nichts? Eben die Kapitel der EU-Beitrittsverhandlungen, da wird ja nun gerade geprüft, welche Rechtsstaatlichkeits-Standards, welche Menschenrechts-Standards in der Türkei herrschen oder bei den Beitrittskandidaten. Wenn da jetzt schneller drüber gesprochen wird, dann ist das doch nicht nichts.
    Gros: Ich glaube nicht, dass die Türkei möchte, dass diese Kapitel geöffnet werden, sondern bei den Beitrittsverhandlungen gibt es ja eine ganze Reihe von eher technischen Verhandlungen, technischen Bereichen, die erst mal geklärt werden müssen. Über diese Bereiche kann die Türkei relativ entspannt reden. Natürlich die Kapitel Menschenrechte, Demokratie werden wohl eher tiefgehängt werden.
    "Man muss ein Abkommen treffen, wo jeden Tag, jede Woche nachgeprüft werden kann"
    Schulz: Sie gehen davon aus, diese Verabredungen kommen dann tatsächlich auch bei dem nächsten Gipfel in zehn Tagen?
    Gros: Ich glaube, der einzige wirkliche Stolperstein der EU wird sein, die Visaerleichterungen für die Türkei relativ schnell durchzupauken, denn nach EU-Recht und Regeln gehört zu Visaerleichterungen auch eine Prüfung der Demokratie und der Grundrechte in dem Nachbarland, und wenn man das wirklich durchziehen würde, würde man wohl kaum einer Visaerleichterung mit der Türkei zustimmen können.
    Schulz: Können die Europäer sich denn auf Erdogan überhaupt verlassen?
    Gros: Nein, verlassen kann man sich sicherlich nicht. Man muss ein Abkommen treffen, wo jeden Tag, jede Woche nachgeprüft werden kann, haben beide Seiten auch wirklich das getan, was sie versprochen haben. Bei dem Geld geht das relativ einfach. Man überweist das jede Woche oder jeden Monat in regulären Intervallen. Bei der Visaerleichterung ist es wirklich etwas anderes, weil man die einmal gewährt und dann steht sie. Aber es wird auch für die Türkei ganz klar sein, dass auch so etwas zurückgenommen werden kann, wenn Erdogan seinen Teil der Vereinbarung nicht erfüllt.
    Schulz: Wie sieht es auf europäischer Seite aus? Der ungarische Regierungschef Orbán, der sagt ja schon, er macht auf keinen Fall mit. Er sagt das, was er eigentlich schon seit Monaten sagt: Er nimmt auf keinen Fall Flüchtlinge aus Syrien. Wie werden denn jetzt die anderen Osteuropäer, die ja auch als Neinsager sich einen Ruf gemacht haben, reagieren?
    Gros: Na ja. Sie wissen ja auch, dass sie sich dieser Art von Solidarität langfristig schlecht entziehen können, und sie wissen auch, dass dieses Abkommen doch zumindest eine Chance bietet, dass der Zustrom ganz rapide abnimmt. Und dann handelt es sich eher darum, eine Formel zu finden, die ihnen es erlaubt, ihr Gesicht zu wahren, dass man entweder sagt, jeder Staat nimmt sie auf gemäß seinen wirtschaftlichen Möglichkeiten, denn de facto wird es wohl so sein, dass Deutschland den Großteil aufnehmen wird. Aber es werden immer noch sehr viel weniger dann sein, als jetzt anders herum so oder so nach Deutschland gekommen wären.
    Schulz: Aber ist das eine realistische Perspektive? Wir haben ja jetzt schon die Situation, dass wie gesagt die verabredeten 160.000 - und da sprechen wir von mehr als 100.000 Menschen -, dass die Verteilung überhaupt nicht vorankommt.
    Gros: Natürlich muss man auch sehen, dass eine Verteilung von Menschen, die sich schon in der EU befinden und vielleicht schon in ihrem Zielland angekommen sind, nämlich Deutschland, sehr viel schwieriger ist als eine Verteilung von Flüchtlingen, die direkt aus den Lagern kommen. Denn innerhalb der EU, wenn Sie einen Flüchtling fragen, möchten Sie gerne von Deutschland nach Polen gehen, sagen dann 99 Prozent nein. Dagegen wenn ein Flüchtling in einem Lager in der Türkei ist und dann die Wahl hat, entweder dort zu bleiben oder nach Polen umgesiedelt zu werden, dann ist das etwas ganz anderes und dann können auch die polnischen Behörden sehr viel einfacher auswählen, wen wollen sie haben. Und ich glaube, ein kleineres Kontingent wird auch Polen oder andere Länder aufnehmen können. Das wird wohl die Regierung auch eher ihrer Bevölkerung verkaufen können.
    Schulz: Das warten wir gespannt ab. Einschätzungen von Daniel Gros waren das heute Mittag, vom Direktor des Centre for European Policy Studies in Brüssel. Ganz herzlichen Dank Ihnen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.