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EU und der Brexit
"Europa scheitert, wenn das Nationale Vorrang bekommt"

Europa funktioniere nicht, wenn nationale Regierungen nationalen Interessen den Vorrang geben, sagte der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, im DLF. Das sei der falsche Weg. Ultranationalisten wie dem Briten Nigel Farage, der offen mit rassistischen Parolen und falschen Aussagen operiere, trete er entgegen.

Martin Schulz im Gespräch mit Dirk Müller |
    Martin Schulz verlässt den Elysee-Palast in Paris.
    Martin Schulz nach einem Brexit-Krisentreffen mit Frankreichs Staatschef Francois Hollande (picture alliance / dpa / EPA / Etienne Laurent)
    Dirk Müller: Der Brexit und die konkreten Folgen - Francois Hollande und Matteo Renzi wollen und fordern eine schnelle Trennung. Sigmar Gabriel fordert das auch. Die Kanzlerin ist immer noch sehr enttäuscht. Der französische Außenminister ist nicht bereit, den Briten einen schnellen Zugang zum Binnenmarkt zu gewähren, so wie es der Schweiz gewährt wird. Und auch Jean-Claude Juncker will die ganze Sache rasch abwickeln. Sonderrechte für die Insel wird es nicht geben, ist zu hören. Die guten Europäer sind mehr als nur verärgert über die schlechten Briten. Vielleicht wollen sie sich für diesen Schlag ins Gesicht sogar rächen, politisch und wirtschaftlich, unken einige.
    Ratlose, verärgerte, grimmige Gesichter in Brüssel und in vielen Hauptstädten, auch am Tag fünf nach der Entscheidung. In der europäischen Hauptstadt erreichen wir nun Martin Schulz (SPD), Präsident des Europäischen Parlaments. Guten Morgen nach Brüssel.
    Martin Schulz: Guten Morgen, Herr Müller.
    Müller: Sind Sie immer noch sauer?
    Schulz: Ich bin nicht sauer. Ich bin traurig. Ich hätte mir ein anderes Ergebnis gewünscht. Und was mich am meisten, ehrlich gesagt, berührt hat ist die Tatsache, dass diese ganz jungen Leute in Großbritannien mit über 75 Prozent für den Verbleib gestimmt haben und jetzt aber doch sehen, dass ihr Land aus der EU ausscheiden will. Da haben wir ja auch gesehen, dass es durchaus auch ein sehr positives Gefühl gegenüber der europäischen Einigung auf der Insel gibt. Deshalb bin ich nicht sauer, sondern eher ein bisschen traurig.
    "Man muss das Ergebnis respektieren"
    Müller: Aber es gibt ja keine Jünglingsrepublik. Das ist ja immer so, dass die Alten und die Jungen wählen. Die Jungen hätten in Deutschland ja auch nicht Angela Merkel gewählt in der Mehrheit.
    Schulz: Nein, man muss das Ergebnis respektieren. Das ist ein Ergebnis, ein souveränes, eine Entscheidung eines Volkes, das in seiner Gesamtheit abgestimmt hat. Das ist ganz klar: Die Mehrheit hat für den Austritt gestimmt. Ändert aber nichts daran, dass ich es trotzdem toll finde, dass eine ganze junge Generation das Gefühl hat, dass ihre Zukunft eigentlich in der europäischen Gemeinschaft liegen sollte, und Sie werden sich sicher nicht wundern, wenn ich sage, dass mein Herz mehr für die schlägt als für die, die Nigel Farage oder Boris Johnson gefolgt sind.
    Müller: Ich erinnere mich aber an viele Gespräche hier in Deutschlandfunk-Interviews, auch morgens früh an dieser Stelle, im Grunde seit Margaret Thatcher - gut, das habe ich jetzt noch nicht gemacht mit Ihnen, aber andere meiner Kollegen. Seitdem ärgern Sie sich immer wieder, jedes Jahr ganz, ganz oft über die Engländer oder über die Briten. Jetzt sind Sie die los. Ist doch gar nicht so schlecht?
    Schulz: Nein. Sehen Sie, wenn Sie in der Politik sich über jemanden ärgern, der eine andere Auffassung vertritt, aber von dem Sie glauben, dass seine Linie nicht gut ist, dann darf man das ja ausdrücken, ohne anschließend ein ganzes Land oder ein ganzes Volk zu verurteilen. Das habe ich auch nie getan. Aber ich will das noch mal wiederholen. Der Ultranationalist Nigel Farage, einer der Fraktionschefs hier im Europaparlament, der mit offen rassistischen Parolen und auch mit falschen Aussagen operiert hat, die gegen zum Beispiel EU-Bürger aus Polen offen hetzen in Großbritannien, Sie werden sicher verstehen, dass ich diesen Leuten entgegentrete und die nicht gut finde. Auf der anderen Seite fand ich die Kampagne der jungen Leute, auch die Kampagne vieler Unternehmer, auch vieler Gewerkschaften, die gesagt haben, lasst uns drin bleiben in der EU, denn wenn wir austreten passiert das, was jetzt passiert, Verfall der Währung, Verwerfungen an den Finanzplätzen, große Unsicherheit in der Wirtschaft, Herabstufung des Landes in seiner Kreditwürdigkeit durch Ratingagenturen, lasst uns das vermeiden und stimmt deshalb dafür, in der EU zu bleiben, dass ich mehr auf der Seite dieser Leute bin. Das habe ich in vergangenen Interviews im Deutschlandfunk gesagt, ganz sicher, und sage ich auch heute Morgen.
    Müller: Die vier Punkte, die Sie jetzt aufgezählt haben - lassen wir den vierten mal weg -, das trifft ja auch auf die Europäische Union der vergangenen Jahre zu. Wo ist jetzt der Unterschied? Europa hat damit angefangen, schlecht zu werden.
    Schulz: Ich weiß nicht, was Sie mit Europa meinen.
    Müller: Die Europäische Union.
    Schulz: Dass es innerhalb der Europäischen Union Staaten gab, die in ihrer Kreditwürdigkeit herabgestuft worden sind, das stimmt. Es gibt in der Europäischen Union auch Staaten, die sind in ihrer Kreditwürdigkeit niemals herabgestuft worden. Also können Sie nicht global von Europa sprechen.
    Dass wir soziale Verwerfungen haben, das ist völlig richtig. Dass wir unterschiedliche disparate ökonomische Entwicklungen haben, das ist richtig. Wir haben eine einheitliche Währung in 19 Staaten, aber wir haben 19 verschiedene Steuerpolitiken in diesen Staaten mit dem Ergebnis, dass Sie, wenn Sie spekulieren, Milliarden-Gewinne machen und zahlen keine Steuern, und wenn Sie spekulieren und machen Milliarden-Verluste, müssen die Steuerzahler für Sie eintreten.
    "Wir brauchen eine geschlossene und einheitliche Europäische Union"
    Müller: Das ist doch absurd!
    Schulz: Das darf nicht so weitergehen. Ich glaube, das ist jedem klar. Und deshalb brauchen wir eigentlich eine mehr geschlossene und einheitliche Europäische Union und eine Politik in ihr, und wir brauchen nicht das, was jetzt passiert, nämlich uns auseinanderzudividieren.
    Müller: Nehmen wir das noch mal auf, Herr Schulz, wenn Sie das gestatten. Europa, EU, wie auch immer: Versagen in der Flüchtlingspolitik, Versagen in der Schuldenpolitik, Versagen in der Arbeitsmarktpolitik, haben Sie gerade auch noch mal gesagt, Versagen auch in der Steuerpolitik. Was ist noch länger attraktiv an dieser EU?
    Schulz: An dieser EU, wie Sie sie gerade beschrieben, bestimmt nichts. Und ich gehöre zu denjenigen, die das seit Jahren anmahnen, dass wir endlich zu einheitlichen Lösungen kommen müssen. Deshalb nehme ich gerne mal das Beispiel der Flüchtlingspolitik auf. Was erleben wir in der Flüchtlingspolitik? Europa insgesamt ist Ziel von Fluchtbewegungen, aber nur sechs Staaten sind bereit, Flüchtlinge aufzunehmen. 22 sagen, da haben wir nichts mit zu tun. Der Ministerpräsident eines Mitgliedslandes der EU sagt, das ist ein deutsches Problem, mein Land hat damit nichts zu tun, und zieht einen Zaun um das Land. Das Europa, das Sie gerade beschreiben, ist das Europa der Nationalstaaten, der nationalen Regierungen, die sagen, die Interessen meines Landes sind mir wichtig, das Gemeinschaftsinteresse ist mir nicht wichtig, und das ist genau die Linie, die gerade in Großbritannien eine Mehrheit bekommen hat. Wenn wir diesen Weg gehen, des Vorrangs des Nationalen vor der Gemeinschaftsidee, dann werden wir scheitern. Das ist genau das, was passiert in den Politikbereichen, die Sie gerade beschrieben haben. Deshalb gehöre ich zu denjenigen, die sagen, wir wollen nicht die Nationalstaaten aufgeben, aber lasst uns doch in den Bereichen, in denen wir alleine nicht mehr weiterkommen - dazu gehört die Migration -, europäische Lösungen suchen, und zwar gemeinschaftlich und nicht jeder gegen jeden.
    "Ich gehöre zu denen, die seit Jahren umfassende Reformen fordern"
    Müller: Sie sagen, das haben die Briten jetzt so entschieden, diese Kräfte haben jetzt so entschieden. Die vier Punkte haben Sie jetzt konzediert, dass es so ist, Flüchtlingspolitik, Schuldenpolitik, Arbeitsmarktpolitik, Steuerpolitik, und haben gesagt, daran ist nichts attraktiv. Aber es ist ja gerade so, dass die Nationalstaaten immer noch stark genug sind, das genau so umzusetzen und durchzusetzen.
    Schulz: Ja! Das ist auch das Stück der Krise. Also noch mal: Der Gemeinschaftsgeist, das heißt, dass wir ganz bestimmte Felder, in denen Sie als Nationalstaat an Ihre Grenzen stoßen, in der Gemeinschaft erledigen und dafür auch der Gemeinschaft die Kompetenz geben, dafür bin ich seit Jahren. Das heißt nicht, dass die Gemeinschaft alles machen muss. Ich bin auch seit Jahren dafür, dass wir Dinge, die sich als unpraktikabel bei uns erwiesen haben, sehr wohl auf eine regionale, nationale oder selbst lokale Ebene zurückdelegieren. Das ist alles seit Jahren in der Diskussion. Europa hat ein Problem, dass immer, wenn es irgendetwas gibt, das gut läuft, dann gehen nationale Regierungen hin und sagen, das haben wir doch ganz gut gemacht. Wenn es aber schlecht läuft, dann ist selbst auch in den Fragen, die mir gestellt werden, das Wort nie, warum können sich eigentlich die 27 Regierungschefs untereinander nicht einigen, sondern das Wort ist, Europa funktioniert nicht. Ja, das stimmt! Europa funktioniert dann nicht, wenn nationale Regierungen nationalen Vorrang vor Gemeinschaftslösungen propagieren. Noch mal: Das ist Boris Johnson, der sagt, wir, United Kingdom, nur unser Interesse, alles andere interessiert uns nicht, und das ist genau der falsche Weg. Noch mal: Ich sage nicht, dass wir hier alles richtig machen. Im Gegenteil! Ich gehöre zu denen, die seit Jahren umfassende Reformen fordern, auch hier bei uns. Auch Selbstkritik an dem, was zum Beispiel die Gemeinschaftsorgane selbst nicht richtig machen.
    Müller: Tun Sie immer wieder, Herr Schulz!
    Schulz: Aber am Ende ist es so, dass auch heute wieder die 28 oder 27 Regierungschefs hier zusammensitzen und entscheiden werden und wir davon abhängen, ob die sich einigen oder nicht einigen.
    "Jean-Claude Juncker hat sehr gute Arbeit geleistet"
    Müller: Glaubwürdigkeit, Vertrauenskrise, auch ein Stichwort, haben Sie auch immer wieder konzediert, haben wir ein Problem mit. Sie sagen Selbstkritik. Dafür sind Sie auch bekannt, haben keine Probleme, darüber auch offen zu reden, gerade auch, wenn Sie bestimmte Dinge Revue passieren lassen. - Gestatten Sie mir diese Frage noch, Herr Schulz. War das ein großer Fehler, Jean-Claude Juncker zu wählen, einen Regierungschef in Luxemburg, der 20 Jahre lang oder noch mehr oder vielleicht ein paar Jahre weniger mit Steuertricks Europa betrogen hat? Zum Chef der Kommission, war das richtig?
    Schulz: Ich weiß nicht, ob Jean-Claude Juncker mit Steuertricks Europa betrogen hat. Dazu laufen Untersuchungsausschüsse hier im Europaparlament. Und wenn das zutage treten würde, dann wäre da sicher ein großes Problem. Ich kann aber nur sagen, dass mit Jean-Claude Juncker ein Regierungschef, der 19 Jahre lang übrigens auch als Chef der Eurogruppe, wie ich finde, mit großer Sorgfalt vermieden hat, dass der Euro destabilisiert wurde, ein erfahrener europäischer Regierungschef eine Kommission führt, von der ich den Eindruck habe, dass sie in den letzten Jahren, in den anderthalb Jahren, in denen er sie führt, insbesondere was die soziale Dimension in Europa angeht, was die Finanzmarktstabilisierung angeht, was die Bewältigung der Folgelasten der Bankenkrise angeht, sehr, sehr gute Arbeit geleistet hat. Deshalb war das sicher kein Fehler, ihn zu wählen.
    Müller: Er kannte sich mit den Banken gut aus.
    Schulz: Im Übrigen: Er war mein Gegenkandidat bei der Europawahl und er hat mehr Stimmen bekommen als ich. Das bedauere ich, aber er war am Ende der Stärkste.
    "Pierre Moscovici ist ein ganz erfolgreicher Währungskommissar"
    Müller: Sie sehen da kein Problem. Pierre Moscovici, der hat es jahrelang nicht geschafft, in Frankreich den Haushalt einigermaßen vernünftig über die Runden zu kriegen. Der ist jetzt der Zuständige in der EU-Kommission. Wie glaubwürdig sind diese Kommissare, die national zum Teil eine katastrophale Bilanz hinterlassen haben?
    Schulz: Jetzt muss ich Sie aber wirklich mal bitten mit Ihrer Frage. Pierre Moscovici war anderthalb Jahre Finanzminister in Frankreich und hat eine Rekordschuldenlast von vorausgegangenen Regierungen übernommen. Der wurde im Jahre 2012 Finanzminister in Frankreich, nachdem dort 20 Jahre andere Parteien die Finanzminister gestellt haben. Und jetzt gehen Sie hin und machen diesen Mann für die enorme, von anderen Regierungen aufgehäufte Schuldenlast verantwortlich. Seien Sie mir nicht böse: Das finde ich nicht fair.
    Müller: Immer Vorgängerprobleme, haben wir oft, bei Jean-Claude Juncker bestimmt auch.
    Müller: Ja gut! Wenn im Deutschlandfunk Rezepte vorhanden sind, wie man 20 Jahre aufgebaute Schuldenlasten in anderthalb Jahren in Gewinne verwandelt, dann sagen Sie uns Bescheid. Dann werde ich mich darum bemühen, das zu lernen. Das finde ich nicht fair und ich glaube, dass das auch eine Beschreibung eines völlig falschen Bildes ist. Pierre Moscovici ist ein ganz erfolgreicher Währungskommissar. Fragen Sie mal die Länder, die in den Währungsturbolenzen waren, Griechenland, Italien, Spanien, Portugal. Fragen Sie mal den Finanzminister der Bundesrepublik Deutschland.
    Müller: Herr Schulz, wir wollen nicht unfair sein, wirklich nicht, aber jetzt kommen die Nachrichten. Danke! - Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.