Archiv

EU und der Brexit-Streit
"Wir haben kein Interesse daran, zu eskalieren"

Michael Roth (SPD), Staatsminister im Auswärtigen Amt, hat im Dlf für ein "vernüftiges Abkommen" mit Großbritannien plädiert. Man wolle den Partner nicht komplett verlieren. Er habe jedoch den Eindruck, dass die britische Regierung bei den wesentlichen Punkten nicht bereit sei, Kompromisse einzugehen.

Michael Roth im Gespräch mit Christiane Kaess |
Michael Roth (SPD), Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt
Michael Roth (SPD), Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt (picture alliance / dpa)
Im Streit über ein EU-Handelsabkommen mit Großbritannien hat Bundeskanzlerin Angela Merkel Willen zum Entgegenkommen signalisiert. Die EU habe London gebeten, im Sinne einer Einigung weiter kompromissbereit zu sein, sagte sie auf dem EU-Gipfel in Brüssel. Das schließe ein, dass auch die Europäische Union Kompromisse machen müsse. Der EU-Gipfel erklärte, weiter über ein Abkommen verhandeln zu wollen. Die Staats- und Regierungschefs beschlossen aber auch, sich verstärkt auf ein No-Deal-Szenario vorzubereiten.
Die Knackpunkte bleiben nach wie vor: Der Zugang von EU-Fischern zu britischen Gewässern, faire Wettbewerbsbedingungen sowie zuverlässige Regularien im Streitfall. Michael Roth (SPD), Staatsminister im Auswärtigen Amt erklärte im Dlf, dass man "Dumping" definitiv ausschließe. Die Standards seien klar. Dieser Verhandlungsgrundlage hätten die Briten auch vor Monaten zugestimmt. Auf dieser letzten Etappe müssten sich alle Beteiligten "am Riemen reißen" und die verbleibenden schwierigen Punkte aus dem Weg räumen, forderte er. "Wir sind dazu bereit und ich hoffe, dass Boris Johnson und sein Team dazu auch bereit sind."
Die Flaggen Großbritannien und der Europäischen Union wehen im Wind.
Die Knackpunkte der Brexit-Verhandlungen
Die EU und Großbritannien wollen noch vor Jahresende einen Handelspakt schließen, um Zölle und Handelshemmnisse abzuwenden. Dann läuft die Übergangszeit nach dem britischen EU-Austritt ab. Doch die Unterhändler kommen bei den wichtigsten Streitfragen nicht voran

Das Interview im Wortlaut:
Christiane Kaess: Herr Roth, kann sich die EU leisten, dass die Verhandlungen scheitern?
Michael Roth: Offen gestanden weiß ich nicht mehr, was ich Ihnen noch erzählen soll. Sie alle haben das schon hundertmal gehört. Die Uhr tickt, die Zeit läuft aus, das ist das Endspiel, wir wollen einen Deal, aber nicht um jeden Preis. – Es ist kein Spiel und es ist auch kein Theater, so wie das Frau Klein eben gesagt hat. Wir kennen keine Gewinner und keine Verlierer. Wir haben momentan eine schwere Krise zu durchlaufen mit der Pandemie und wir leben in einer Welt, in der die Demokratie unter Druck steht und das Autoritäre wächst. Wir sollten es unseren Bürgerinnen und Bürgern und der Wirtschaft nicht noch schwerer machen. Deshalb ist ein vernünftiges Abkommen nicht nur im Interesse des Vereinigten Königreichs; es ist auch im Interesse der Europäischen Union. Wir wollen diesen Partner ja nicht komplett verlieren und deshalb strengen wir uns ja auch ganz besonders an. Aber es läuft jetzt wirklich aus. Wir haben nicht mehr lange, wir reden jetzt nur noch über Tage und nicht mehr über Wochen und Monate.
"Auf Grundlage dessen verhandeln, worauf wir uns schon längst verabredet haben"
Kaess: Herr Roth, das ist in der Tat das, was wir seit Monaten hören. Sagen Sie uns doch mal aus Ihrer Sicht: Wer ist denn Schuld?
Roth: Es geht nicht um Schuld. Es geht darum, dass wir auf Grundlage dessen verhandeln, worauf wir uns ja schon längst verabredet haben. Es gibt ja eine Verhandlungsbasis, das ist die politische Erklärung. Frau Klein hat ja eben noch mal auf die heikelsten Punkte hingewiesen. Wir dürfen den Frieden in Nordirland nicht gefährden. Wir brauchen faire Handelsbedingungen, die Dumping beim Verbraucherschutz, bei Umwelt, beim Sozialen, bei Arbeitnehmerrechten verhindern. Wir brauchen im Falle des Falles eine funktionierende Streitbeilegung. Und dann haben Sie das Thema Fischerei ja auch noch mal erwähnt.
Was sicherlich für große, große Unruhe in der Europäischen Union gesorgt hat, war die Beschlussfassung dieses sogenannten Binnenmarkt-Gesetzes in Großbritannien, wo man ganz bewusst einen Völkerrechtsbruch in Kauf genommen hat und wo es vor allem auch große Sorgen in Irland gibt, dass der Frieden und der Bestand des sogenannten Karfreitags-Abkommens großen Risiken ausgesetzt sind. Da wir uns als Team in der EU verstehen und wir auch die Interessen des jeweils einzelnen Landes ernst nehmen und auch als unser eigenes Problem ansehen, war das für uns alle sehr, sehr schwer, als der britische Premierminister gesagt hat, das ist jetzt einfach mal so und was wir damals Ihnen zugesagt haben, das gilt jetzt nicht mehr. So kann man nicht verhandeln.
Sir John Redwood, Abgeordneter der konservativen Partei im britischen Parlament
Britisches Binnenmarktgesetz - "Wir brechen überhaupt nicht internationales Recht"
Das britische Binnenmarktgesetz wird nach Ansicht des konservativen Unterhaus-Abgeordneten John Redwood die Glaubwürdigkeit Großbritanniens stärken. Es verstoße nicht gegen das Brexit-Abkommen, sondern bringe der Geschäftswelt Sicherheit, sagte Redwood im Dlf.
"Beide Seiten müssen aufeinander zugehen"
Kaess: Herr Roth, daraus interpretiere ich, dass Sie sehr wohl ein ganzes Stück der Schuld auf die Regierung in London schieben. Aber die macht ja genau das Umgekehrte und sagt, auch die EU ist zu keinen Zugeständnissen bereit.
Roth: Ich mache das Spielchen nicht mit.
Kaess: Es geht ja nicht um Spielchen, sondern darum, dass jeder seinen Standpunkt hat und dass diese Standpunkte offenbar völlig unterschiedlich sind von beiden Seiten.
Roth: Ja, die sind derzeit noch unterschiedlich. Wir haben in den vergangenen Wochen und Monaten auf Grundlage der politischen Erklärung, der Verhandlungsleitlinien in den wesentlichen Punkten noch keine Fortschritte erzielt. Das ist richtig. Aber ich will das noch mal klarstellen: Wenn man von Kompromissen spricht, heißt das natürlich immer, dass beide Seiten aufeinander zugehen müssen. Aber wir haben den Eindruck, dass es bei den wesentlichen vier Punkten, die eben genannt wurden, vor allem auch in London nur geringe Bereitschaft gibt, auch auf die schon beschlossenen und verabredeten Positionen zwischen Großbritannien und der EU zuzugehen. Man muss sich hier der Wirklichkeit annähern!
Kaess: Herr Roth, dennoch hat ja die britische Seite ihre Argumente, und da sagt man immer wieder – das haben wir jetzt auch schon oft gehört -, wir sind aus der EU ausgetreten, um über Standards selber zu entscheiden. Die Fischereirechte haben Sie angesprochen. Da geht es um britische Hoheitsgewässer. Muss die EU nicht tatsächlich auch sagen, ja, das erkennen wir an, da wollte man durch diesen Austritt in London mehr Selbstständigkeit erreichen und London hat seine Punkte und da müssen wir uns einfach bewegen?
Roth: Deshalb verhandeln wir ja. Wir sagen ja nicht, dass es im Bereich der Fischerei …
"Wenn man am Binnenmarkt teilnehmen möchte, muss man Regeln einhalten"
Kaess: Aber dieser Punkt wird offenbar bisher nicht anerkannt, denn die EU bewegt sich ja nicht.
Roth: Die EU bewegt sich, aber jetzt müssen wir uns aufeinander zubewegen. – Und jetzt will ich noch mal auf die Standards zu sprechen kommen: Ja, das ist so. Wenn man am Binnenmarkt teilnehmen möchte, dann muss man Regeln einhalten. Es ist ja nicht so, dass wir den Britinnen und Briten das Leben schwermachen, sondern die Britinnen und Briten wollen weiterhin mit Zollfreiheit am Binnenmarkt teilhaben. Das bedeutet, dass für die britischen Unternehmen dieselben Regeln zu gelten haben wie für die Unternehmen in der Europäischen Union. Das gilt im Übrigen auch für die anderen Partner in Europa, die nicht Teil der Europäischen Union sind. Beispielsweise gilt das für die Schweiz, das gilt aber auch für Norwegen.
Kaess: Jetzt hat Bundeskanzlerin Merkel einige Stunden nach Verabschiedung dieser Gipfelerklärung betont, dass genau auch die EU kompromissbereit sein müsste. Was heißt das? Wie interpretieren Sie das? Wo ist Spielraum für Kompromisse? Vielleicht können Sie es konkret machen.
Roth: Wir haben das ja schon mehrfach bekundet. Ich weiß gar nicht, wie der Eindruck entstehen konnte, dass die Europäische Union nicht kompromissbereit ist, denn das ist das Wesen von Verhandlungen.
Kaess: Das haben Sie ja gerade schon erklärt, Herr Roth, wo die EU nicht kompromissbereit ist. Sagen Sie uns doch: Was könnte das konkret heißen? Noch mal die Frage: Wo ist Spielraum? Ist es zum Beispiel vorstellbar, dass die EU einen großen Schritt macht, wenn es um die Wettbewerbsbedingungen geht – nur als Beispiel? Oder muss man irgendwo anders ansetzen?
Roth: Wir schließen Dumping aus. Das geht nicht. Dumping geht nicht. Ansonsten wird man natürlich flexibel zu sein haben im Hinblick auf das Kleingedruckte. Aber die Standards sind klar und genau auf dieser Verhandlungsgrundlage reden wir doch. Es ist ja nicht so, dass wir das jetzt uns neu ausgedacht haben, sondern das wissen unsere britischen Partnerinnen und Partner seit vielen Monaten, weil sie genau dieser Verhandlungsgrundlage zugestimmt haben. Das kommt nicht sehr überraschend.
"Die Atmosphäre ist auf der Arbeitsebene recht konstruktiv"
Kaess: Sie sind sehr nahe dran an diesen Gesprächen. In welcher Atmosphäre, würden Sie sagen, finden die statt?
Roth: Die Atmosphäre ist sicherlich auf der Arbeitsebene recht konstruktiv. Um auch das noch mal zu erklären: Deutschland verhandelt ja nicht mit Großbritannien und auch nicht Frankreich, sondern wir haben ein großartiges Verhandlungsteam mit dem Chefunterhändler Michel Barnier. Das läuft über die Europäische Kommission. Wir stimmen uns sehr, sehr eng ab. Beispielsweise war Michel Barnier am Dienstag auch im Rat der Europaministerinnen und Europaminister. Wir haben ja den Europäischen Rat, der gerade tagt, in Brüssel vorbereitet. Da hatte ich den Eindruck, dass wir alle einer Meinung sind und dass wir vor allem auch weiter an der Linie festhalten, die Schwierigkeiten eines einzelnen Landes sind auch unsere gemeinsamen Schwierigkeiten, wir müssen zusammen bleiben.
Ich gehe auch fest davon aus, dass das Verhandlungsteam mit den britischen Partnerinnen und Partnern in dieser konstruktiven Atmosphäre auch diese letzte Etappe fortsetzen möchte. Wir haben überhaupt gar kein Interesse daran, jetzt zu eskalieren. Wir haben überhaupt kein Interesse daran, jetzt wütend zu sein. Wir müssen nur einfach ganz nüchtern bilanzieren: Wenn wir bis Ende des Jahres noch fertig werden wollen, dann müssen wir die Dinge jetzt wuppen. Das erfordert die Bereitschaft von allen. Die Europäische Union – und das haben die Staats- und Regierungschefs und Chefinnen gestern Nacht noch mal bekundet – ist dazu bereit.
Kaess: Jetzt haben wir gehört, dass sich Boris Johnson heute äußern will. Was glauben Sie, Ihre Einschätzung? Bricht er die Verhandlungen ab, oder steht Großbritannien auch wegen der Corona-Pandemie einfach viel zu sehr unter Druck, um so einen Schritt gehen zu können?
"Als überzeugter Europäer, da wirft man die Flinte nicht gleich ins Korn"
Roth: Ich will nicht spekulieren, aber ich hoffe doch sehr, dass wir es schaffen, uns alle noch mal an einen Tisch zu setzen. Unsere Chefinnen und Chefs …
Kaess: Entschuldigung, Herr Roth. Ich hatte Sie nach Ihrer Einschätzung gefragt. Was, glauben Sie, wird Boris Johnson heute sagen?
Roth: Ja, ich bin Berufsoptimist. Als überzeugter Europäer, da wirft man die Flinte nicht gleich ins Korn. Ich hoffe das und ich erwarte das auch. Ich habe es ja eingangs schon gesagt: Wir leben in einer krisengeschüttelten Welt. Wir haben so viele Probleme, die wir auch nur gemeinsam angehen können, und deswegen erwarte ich, dass wir jetzt auf dieser letzten Etappe noch mal den ganzen konstruktiven Geist zusammennehmen, uns wirklich noch mal am Riemen reißen und sagen, wir versuchen, auch die letzten, zugegebenermaßen sehr schwierigen Punkte aus dem Weg zu räumen. Wir sind dazu bereit und ich hoffe, dass Boris Johnson und sein Team dazu auch bereit sind.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.