Tobias Armbrüster: Es sah letzte Woche ganz kurz so aus, als sei der Brexit-Deal in Reichweite. Aber spätestens seit gestern Nachmittag wissen wir: So einfach ist das nicht. Das britische Parlament wird nämlich erst mal nicht über diesen Deal von Boris Johnson abstimmen, sondern – so hat es Parlamentspräsident John Bercow formuliert – erst mal soll das Parlament über die nötigen Brexit-Gesetze entscheiden. Also alles der Reihe nach.
Das heißt allerdings auch: Bis zu einer Abstimmung über den Brexit-Deal könnten noch einige Tage vergehen. Auch die Partner in der EU müssen sich gedulden – alles kurz vor dieser Deadline am 31. Oktober. Da will Großbritannien ja ausscheiden. So hat es Premierminister Boris Johnson gesagt.
Das können wir jetzt alles besprechen mit dem ehemaligen EU-Kommissar Günter Verheugen, in Brüssel tätig als Kommissar in den Jahren zwischen 1999 und 2010. Schönen guten Morgen, Herr Verheugen.
Günter Verheugen: Guten Morgen, Herr Armbrüster.
Armbrüster: Verstehen Sie die Briten noch?
Verheugen: Das kann man schon lange nicht mehr. Man hat das Gefühl, dass man sich hier in einer Endlosschleife befindet, und ob wir jetzt wirklich zur Landung ansetzen, das kann niemand mit Genauigkeit sagen. Was man aber mit Sicherheit heute schon sagen kann ist, dass das Vertrauen in die britische Demokratie im eigenen Land ganz, ganz schweren Schaden nimmt und dass diese Schäden nur sehr langfristig wieder behoben werden können, wenn überhaupt.
"Eigentlich ist noch alles möglich"
Armbrüster: Wie schätzen Sie das ein, was gerade im britischen Parlament passiert? Ist das eine Haltung, Blockieren aus Prinzip? Weil Boris Johnson dem Parlament auch einiges angetan hat, schlägt jetzt das Parlament zurück?
Verheugen: Nein, das ist eine Mischung aus völlig unterschiedlichen Auffassungen darüber, wie das Verhältnis zwischen Großbritannien und der Europäischen Union gestaltet werden kann, die eigentliche Frage des Brexit, wie wird der gemacht, und rein machtpolitischen Erwägungen und Überlegungen und Interessen. Das ist unheilbar miteinander verquickt, so dass sich immer wieder Mehrheiten zu allen möglichen Fragen bilden, die eine Lösung des Problems blockieren.
Was ich jetzt sehe ist, dass eigentlich noch alles möglich ist. Wir können in der Tat in dieser Woche oder bis Anfang nächster Woche eine Situation haben, in der alles geregelt ist und der Brexit ordnungsgemäß auf der Grundlage eines Vertrages am 31. Oktober stattfindet. Das ist eine Möglichkeit – schwach wahrscheinlich.
Eine andere Möglichkeit ist, dass man ein bisschen mehr Zeit braucht, aber rein technisch. Und die dritte Möglichkeit, dass man sich auf gar nichts einigen kann, und das müsste dann politisch eigentlich zu Neuwahlen führen. Einen anderen Weg sehe ich da nicht mehr. Aber was jetzt tatsächlich passiert, das ist verborgen im Unterhaus, und ob die selber wissen, was sie wollen, da kann man ja auch Zweifel dran haben.
Armbrüster: Herr Verheugen, was wir genau wissen ist, dass Boris Johnson gestern eine Abstimmung im Unterhaus haben wollte über seinen Deal. Diese Abstimmung hat der Parlamentssprecher John Bercow gestern zumindest verweigert. Ist das eigentlich fair gegenüber den europäischen Partnern, diese Abstimmung weiter hinauszuschieben?
Verheugen: Man kann das aus der Sicht des britischen Parlaments natürlich durchaus verstehen, dass sie sagen, wir wollen wissen, wie das im Einzelnen aussieht. Es handelt sich ja doch um eine durchaus komplizierte Materie. Sie haben ja nicht nur gesagt, wir wollen jetzt nicht über den sogenannten Deal abstimmen, sondern sie haben gesagt, wir wollen erst die Gesetze machen, die wir brauchen, damit der überhaupt verwirklicht werden kann, und dann am Schluss… Ob das unfair ist gegenüber der EU, das will ich mal offen lassen. Natürlich wäre es der EU lieber, man hätte von Anfang an Klarheit gehabt in Großbritannien, oder hätte jetzt wenigstens Klarheit. Aber verständlich aus der Sicht des Parlaments ist das schon, dessen Mehrheit ja ganz offensichtlich dem eigenen Premierminister und seinen Zusagen nicht traut.
Es ist ja auch eine paradoxe Situation. Es ist ja nicht mehr möglich, die Versprechen, die gegeben worden sind, zu halten. Johnson hat versprochen, den sogenannten Backstop wegzuverhandeln. Das hat er getan. Er hat aber auch versprochen, dass es keine harte Grenze, keine Zollgrenze zwischen Großbritannien und Nordirland geben wird, zwischen England, Schottland und Nordirland geben wird. Die gibt es aber jetzt. Das ist der Grund, warum seine nordirischen Koalitionspartner die Sache nicht mitmachen. Die haben sich so festgerammelt jetzt in einer Ecke, dass man kaum noch einen Ausweg sieht, jedenfalls keinen Ausweg, ohne dass irgendein Versprechen gebrochen wird.
"Was die EU jetzt zu tun hat ist, die Nerven bewahren"
Armbrüster: Herr Verheugen, Sie haben ja, wenn wir über diesen Deal und seine Einzelheiten schon sprechen, die EU-Verhandlungslinie in den vergangenen Jahren hier bei uns im Deutschlandfunk häufig kritisiert.
Verheugen: … immer wieder kritisiert, ja.
Armbrüster: Ist die EU den Briten denn jetzt mit diesem neuen Deal, der jetzt auf dem Tisch liegt, mehr entgegengekommen?
Verheugen: Ja, ein Stück weit schon. Sie hat Johnson etwas gegeben, was sie Theresa May nicht gegeben hat, nämlich den Verzicht auf den Backstop, wenn auch zu schwierigen politischen Bedingungen. Und das hat sie getan, weil es Johnson offenbar gelungen war, eine glaubwürdige Drohkulisse aufzubauen. Und ich habe mich schon ein bisschen gewundert, als Jean-Claude Juncker in der vergangenen Woche ganz offensichtlich mit großer Freude verkündet hat, jetzt haben wir einen fairen Deal. Das wirft ja die Frage auf, was war denn in den Augen von Jean-Claude Juncker der Deal, den sie vorher hatten. War der wohl unfair?
Die EU hat sich da schon bewegt. Ob die Situation anders wäre, wenn sie sich gegenüber Theresa May schon bewegt hätte, ist ja eine ganz andere Frage.
Was die EU jetzt zu tun hat ist, die Nerven bewahren, keine hektischen Bewegungen machen. Man muss jetzt erst einmal sehen, was in London wirklich passiert. Meine Vorhersage ist: Wenn entweder eine kurze oder auch eine längere Verschiebung gebraucht wird, dann wird man das tun. Denn niemand in Brüssel will die Verantwortung dafür haben, dass es doch noch zu einem harten Brexit kommt.
"Wenn eine Verschiebung gebraucht wird, dann wird man das tun"
Armbrüster: Herr Verheugen, Sie haben jetzt am Anfang unseres Gesprächs gesagt, dass da einiges an Schaden entstanden ist durch die Taktiererei im britischen Parlament. Wird sich dieser politische Schaden auch bemerkbar machen in den künftigen Beziehungen zwischen Großbritannien und der Europäischen Union?
Verheugen: Wenn ich mir die Reaktion betrachte, die es unmittelbar nach dem Brexit-Referendum gab und die ja erfüllt war von Rachegelüsten oder Bestrafungsgelüsten, jedenfalls sehr unbesonnen war, kann man nicht ausschließen, dass es auch in Zukunft unbesonnene Reaktionen gibt. Aber das Interesse der EU ist klar und das wird sich dann auch hoffentlich durchsetzen. Wir brauchen eine möglichst enge Anbindung und es wäre gut, wenn sich die 27 intern schon einmal darauf verständigen würden, was unser eigenes Ziel ist, wie wir das Zusammenleben mit Großbritannien in den nächsten Jahrzehnten tatsächlich gestalten wollen.
Meine Idee oder die Grundidee ist hier natürlich, dass es eine möglichst umfassende Freihandelszone sein sollte. Die würde die Probleme, die wir heute haben, lösen. Und es würde vielleicht helfen, wenn man klar und deutlich sagt, das ist das, was wir wollen. Es hätte übrigens geholfen, wenn man das von Anfang an gesagt hätte. Ich fühle mich ja berechtigt, die Strategie zu kritisieren, weil ich es von Anfang an getan habe und gesagt habe, diese Strategie ist falsch, sich auf die Reise zu machen, ohne zu sagen, wohin man eigentlich will.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.