Brüssel, vor knapp zwei Wochen – am 14. Oktober. Nach einer einwöchigen Verhandlungsrunde veröffentlichen die Europäische Union und der südamerikanische Staatenbund Mercosur eine gemeinsame, positive Erklärung:
"Die Verhandlungsführer haben ihre Zufriedenheit mit den Ergebnissen dieses produktiven und konstruktiven Treffens zum Ausdruck gebracht. In vielen Bereichen gab es Fortschritte. Beide Seiten verpflichten sich, alle nötigen Anstrengungen zu unternehmen, um die Verhandlungen weiter voranzubringen."
Das Kommuniqué endet mit der Ankündigung einer neuen Gesprächsrunde im März kommenden Jahres. Seit 16 Jahren versuchen Mercosur und EU, ein Freihandelsabkommen unter Dach und Fach zu bekommen. Unzählige Verhandlungsrunden fanden statt, Dutzende von Absichtserklärungen und Goodwill-Bekundungen wurden formuliert – doch konkrete Ergebnisse blieben aus. Im Mai dieses Jahres schließlich tauschten beide Seiten erstmals seit 2004 Angebote aus: über den gegenseitigen Marktzugang für Waren, Dienstleistungen, Investitionen und die Vergabe öffentlicher Aufträge. Den Worten der jüngsten Erklärung von EU und Mercosur nach zu urteilen, ist in die Verhandlungen jetzt tatsächlich Schwung gekommen. Felix Peña, Ökonom an der Universität Tres de Febrero in Buenos Aires, sieht ein gewachsenes Interesse der Mercosur-Staaten:
"Meinem Eindruck nach herrscht zwischen den vier Mercosur-Staaten, die an den Gesprächen mit der EU teilnehmen, heute Konsens darüber, dass es von Vorteil wäre, die Verhandlungen möglichst bald zum Abschluss zu bringen. Sie stimmen inzwischen nicht nur in der Verhandlungslinie überein, sondern zeigen auch den gleichen Enthusiasmus."
Zwei der größten Märkte der Welt
Die Europäische Union und der Mercosur mit seinen Mitgliedsländern Brasilien, Argentinien, Uruguay, Paraguay und Venezuela sind zwei der größten Märkte der Welt, die schon heute intensiv Handel miteinander treiben. Für knapp 90 Milliarden Euro tauschten sie im vergangenen Jahr Waren aus. Der Mercosur exportiert hauptsächlich Agrarprodukte und Rohstoffe, während die EU vor allem Maschinen und Chemikalien nach Südamerika liefert. Von einem Freihandelsabkommen erhoffen sich beide Seiten große Vorteile und Gewinne. Die schwierige Wirtschaftslage in beiden Regionen verstärke das Interesse an einer Einigung, meint Gian Luca Gardini, Lateinamerika-Wissenschaftler von der Universität Erlangen-Nürnberg:
"In Brasilien, in Argentinien und auch in Europa herrschen Krisen. Zudem sind in Südamerika, etwa in Argentinien, heute Regierungen an der Macht, die einem Freihandelsabkommen sehr positiv gegenüberstehen. Das langsamere Wachstum Chinas, wichtiger Absatzmarkt Südamerikas, gehört zu den Gründen für das gewachsene Interesse des Mercosur an einem Abkommen mit der Europäischen Union."
Mercosur hatte ökonomische und politische Beweggründe
25 Jahre alt ist das Handelsbündnis Mercosur in diesem Jahr geworden. Der Festakt fand im März in Uruguays Hauptstadt Montevideo statt, wo sich das Sekretariat der Organisation befindet. Dass kaum ein Staatschef anreiste, war ein Zeichen für die latente institutionelle Krise, in der sich der Mercosur befindet. Einst hatten hohe Erwartungen seine Gründung begleitet - ein Rückblick:
"Die Vertragsstaaten beschließen, bis zum 31. Dezember 1994 einen gemeinsamen Markt zu bilden, der Gemeinsamer Markt des Südens – Mercosur – genannt werden wird."
Das war im März 1991. Damals unterzeichneten die vier Länder Argentinien, Paraguay, Uruguay und Brasilien in der paraguayischen Hauptstadt den Vertrag von Asunción. Es war die Geburtsstunde des Mercosur. Wie der europäische hatte auch der südamerikanische Einigungsprozess ökonomische und politische Beweggründe. Die Region hatte zwar keine Kriege hinter sich, aber verheerende Diktaturen und Schuldenkrisen. Gian Luca Gardini, der ein Buch über die Geschichte des Staatenbundes geschrieben hat, meint:
"Die Demokratie war noch nicht fest verankert, sie musste erkämpft und konsolidiert werden. Und es herrschte keine freie Marktwirtschaft. Der Mercosur wurde also einerseits gegründet, um die demokratischen Institutionen in Südamerika zu festigen und andererseits, um ein neues ökonomisches Entwicklungsmodell zu etablieren."
Mercosur-Organe haben bis heute wenig Macht
Als die vier Gründungsmitglieder des Mercosur die Schaffung eines gemeinsamen Marktes vereinbarten, hatten sie das Beispiel der Europäischen Gemeinschaft fest vor Augen. Die europäische Methodik, die die Mercosur-Gründer nachahmen wollten, bestand in der schrittweisen Vertiefung der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit. Andrés Malamud, argentinischer Politologe an der Universität Lissabon, erläutert:
"Der Mercosur wollte nicht sofort Institutionen schaffen – und damit unerfüllbare Erwartungen wecken. Zunächst wollten Südamerikas Staaten das erzeugen, was Jean Monnet 'faktische Solidarität' genannt hatte: eine Verflechtung und wechselseitige Abhängigkeit."
Zuerst sollte eine Freihandelszone entstehen, durch die Abschaffung von Zöllen und anderen Handelshemmnissen zwischen den Mitgliedsstaaten. Danach sollte die Zollunion mit einem gemeinsamem Außenzoll folgen, und schließlich der gemeinsame Binnenmarkt des Mercosur. Roberto Bouzas, Professor für Außenhandel an der Universität San Andrés in Buenos Aires:
"Es bestand eine Ähnlichkeit zu den Römischen Verträgen, die zwar Mechanismen für die Schaffung der Freihandelszone und Zollunion festlegten, aber die Beschlüsse über den freien Markt und die Wirtschaftsunion den künftigen gemeinsamen Organen überließen. Mit dem großen Unterschied, dass die europäischen Institutionen mit bedeutenden Kompetenzen ausgestattet wurden, während die Mercosur-Organe bis heute wenig Macht haben, und systematisch den Entscheidungen der Nationalstaaten untergeordnet werden."
Eher schwach ausgeprägter Handel zwischen Mitgliedsstaaten
Die in Lateinamerika traditionell eher gering ausgeprägte Bereitschaft der Staaten, Souveränität abzutreten, erwies sich oft als Integrations-Hindernis. Der Mercosur bildet da keine Ausnahme: Das Sekretariat in Montevideo ist kein Exekutivorgan, wie die EU-Kommission, sondern lediglich ein Verwaltungsorgan. Entscheidungen der Mitgliedsstaaten müssen nach wie vor einstimmig getroffen werden. Und das südamerikanische Parlament Parlasur kann keine Gesetze beschließen – im Unterschied zum EU-Parlament. Dass der Mercosur keine starken, supranationalen Institutionen geschaffen hat, hängt nach Ansicht von Experten mit dem eher schwach ausgeprägten Handel zwischen den Mitgliedsstaaten zusammen: Der interne Warenaustausch ist im Mercosur viel geringer als in der EU. Lateinamerika-Wissenschaftler Gian Luca Gardini von der Universität Erlangen-Nürnberg:
"Mehr als die Hälfte des Handels der EU-Staaten findet heute innerhalb der Union statt. Dagegen ist weniger als 20 Prozent des Handels der Mercosur-Staaten interregional. Den größten Teil ihrer Handelsbeziehungen pflegen die Mercosur-Staaten zu Partnern außerhalb der Region."
Dabei hatte alles vielversprechend begonnen. In den ersten Jahren nahm der Handel innerhalb des Blocks stetig zu, zwischen 1991 und 1997 hatte er sich sogar verdreifacht. Doch dann erschütterten externe und interne Wirtschaftskrisen den Mercosur: Im vergangenen Jahrzehnt schadete die protektionistische Politik Argentiniens und Brasiliens der Organisation. Hinter seinen selbst gesteckten Integrations-Zielen ist der Mercosur weit zurückgeblieben. Der gemeinsame Markt, der bis 1994 entstehen sollte, existiert bis heute nicht, und die Zollunion wurde unvollständig umgesetzt. Außenhandels-Experte Roberto Bouzas von der Universität San Andrés:
"Zwar existieren heute innerhalb des Mercosur die meisten Zölle nicht mehr. Einen gemeinsamen Außenzoll gibt es jedoch nur für einige Produkte, sodass man nicht wirklich von einer Zollunion sprechen kann. Und die Freihandelszone ist im Grunde nur eine Zone ohne Einfuhrsteuern – eine Menge zwischenstaatlicher Handelshemmnisse bleibt bestehen. Streng genommen ist der Mercosur also nicht einmal eine Freihandelszone."
Eine Region geschaffen, wo es früher keine Region gab
Um von einem Mercosur-Staat in den anderen zu reisen, ist zwar kein Pass mehr erforderlich – der Personalausweis reicht. Aber nach wie vor existieren Grenz- und Zollkontrollen zwischen den inzwischen fünf Mitgliedsländern. Vor vier Jahren wurde Venezuela aufgenommen, Bolivien befindet sich im Aufnahmeverfahren. Der Mercosur wächst also, aber der Integrationsprozess stagniert. Ist das Bündnis trotzdem ein Erfolg? Roberto Bouzas:
"Einer der großen Erfolge des Mercosur ist, dass er eine Region geschaffen hat, wo es früher keine Region gab. Das ist neu, darauf sollte man aufbauen."
"Ein Erfolg ist der Mercosur, weil innerhalb des Blocks Frieden und Demokratie herrschen, und weil er zu wirtschaftlichen Reformen geführt hat. Aber die Verflechtung der Mitgliedsländer ist so gering, dass es keinen Sinn macht, an ein Integrationsmodell wie das der EU zu denken. Der Mercosur hat seine Aufgabe erfüllt, es gibt keinen Grund, ihn zu reformieren. Er kann höchstens noch die Handelsbedingungen zwischen seinen Mitgliedern verbessern."
Meint der Politologe Andrés Malamud, doch es gibt auch andere Ansichten. Felix Peña, der für Argentinien in der Vergangenheit an Mercosur-Verhandlungen teilgenommen hat, hält es für durchaus möglich und nötig, das Handelsbündnis zu reformieren:
"Seine Ziele hat der Mercosur ganz offensichtlich nicht erreicht. Aber die Idee, dass es intelligenter ist, zusammenzuarbeiten als gegeneinander, bleibt bestehen. Wir müssen den Mercosur an neue Realitäten anpassen. Dafür sind gemeinsame Anstrengungen und viele Debatten nötig."
Beide Bündnisse durchleben schwierige Phasen
Vor internen Herausforderungen steht nicht nur der Mercosur, sondern auch die Europäische Union: Der Brexit, die Griechenland-Krise, die Differenzen in der Flüchtlingspolitik – all dies hat die EU in einen Identitätskonflikt gestürzt. Genauso wie im Mercosur sind in Europa Zukunftsdebatten nötig. Ökonom Felix Peña:
"Beide Bündnisse durchleben schwierige Phasen in ihren Integrations-Prozessen. Und das macht die Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen nicht leichter."
Einer der größten Stolpersteine bei den Verhandlungen war von Beginn an die Landwirtschaft. Die starken Agrarproduzenten des Mercosur drängen auf die EU-Märkte und stören sich an den hohen Subventionen für Europas Bauern, während diese eine Erhöhung der Importe von Landwirtschaftsgütern aus Südamerika als existenzielle Bedrohung sehen. Unter dem Druck Frankreichs und zwölf weiterer EU-Länder, darunter Irland und Polen, wurden umstrittene Agrarprodukte wie Rindfleisch und Ethanol in das Marktzugangs-Angebot der EU vom vergangenen Mai nicht aufgenommen. Die Festlegung von Quoten wurde auf einen späteren Zeitpunkt verschoben. Der Mercosur war damit nicht zufrieden. Bei seinem Staatsbesuch in Berlin vor einigen Monaten, versuchte Argentiniens Präsident Mauricio Macri, sich deutscher Unterstützung zu versichern:
"Argentinien und die anderen Mercosur-Mitglieder sind entschlossen, bei den Verhandlungen Fortschritte zu erzielen. Für uns ist der Landwirtschafts-Sektor von fundamentaler Bedeutung. Wir halten es für nötig, dass sich Frankreich flexibler zeigt. Ich vertraue da auf die deutsche Führungsrolle."
Komplizierte Verhandlungen im Agrarsektor
Bundeskanzlerin Angela Merkel antwortete zurückhaltend:
"Ich glaube, man musste kein Prophet sein, um zu sagen, dass die Landwirtschaft, gerade in Bezug auf Argentinien, eines der komplizierteren Themen ist. Das ist nicht nur in Frankreich so, sondern das ist auch in Deutschland so. Das wird ein sehr komplizierter Teil, weil Argentinien hier einfach seine Stärken hat."
Die Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen umfassen aber weit mehr als den Bereich Agrarprodukte. Der geplante Abbau von Handelshemmnissen erstreckt sich auf Industriegüter und andere Waren, sowie auf Dienstleistungen. Auch geht es um die Erleichterung von Investitionen, die Angleichung von Umwelt- und Sozialstandards sowie um die Gleichbehandlung von Mercosur- und EU-Firmen bei öffentlichen Auftragsvergaben.
Für die Mercosur-Staaten ist die Europäische Union bereits heute weltweit der wichtigste Absatzmarkt, im vergangenen Jahr exportierten sie dorthin Waren im Wert von knapp 44 Milliarden Euro. Noch umfangreicher waren mit gut 49 Milliarden Euro die EU-Exporte in den Mercosur. Auf einen Großteil ihrer Ausfuhren müssen beide Seiten Importzölle entrichten. Käme ein Freihandelsabkommen zustande, würde sich das ändern. Der Mercosur hat der EU angeboten, 93 Prozent der Warenpalette für den zollfreien Handel freizugeben.
"Von einem ausgewogenen Abkommen würden beide Seiten profitieren. Allerdings weisen Studien der Europäischen Kommission darauf hin, dass die EU den größeren Nutzen aus einem Freihandelsabkommen mit dem Mercosur ziehen würde", sagt Gian Luca Gardini von der Universität Erlangen-Nürnberg. Noch ist aber ungewiss, ob sich EU und Mercosur bald werden einigen können. Unklar ist auch, unter welchen Umständen der Ratifizierungsprozess des Abkommens stattfinden würde.
Problemfall Venezuela
Aufseiten der Südamerikaner gibt es zurzeit viele Fragezeichen. An den Verhandlungen mit der EU nehmen nur die vier Gründungsmitglieder des Mercosur teil – nicht aber Venezuela. Das Land war 2012 gegen den Willen Paraguays beigetreten. Paraguay wurde damals vom Mercosur suspendiert, weil das Bündnis die Absetzung von Präsident Fernando Lugo als "parlamentarischen Putsch" betrachtete.
Venezuela hat seit seinem Beitritt aber fast keine Mercosur-Vorgaben in seine Gesetzgebung integriert. Und neue politische Konstellationen in Südamerika lassen das sozialistisch regierte Land heute isoliert dastehen: In Argentinien regiert der Wirtschaftsliberale Macri, der regelmäßig Menschenrechtsverstöße und Angriffe auf die Demokratie unter dem venezolanischen Präsidenten Nicolás Maduro anprangert. Und in Brasilien hat die umstrittene Absetzung Dilma Rousseffs den Konservativen Michel Temer an die Macht befördert.
"Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay sind sich einig darin, dass Venezuela die Voraussetzungen erfüllen muss, die für eine endgültige Eingliederung in den Mercosur notwendig sind. Wir haben Venezuela dafür eine Frist bis zum 1. Dezember gesetzt", so Brasiliens Präsident nach einem Treffen mit Macri. Sollte die Regierung Maduro der Aufforderung nicht nachkommen, will der Mercosur Venezuelas Mitgliedschaft aussetzen. Die turnusmäßige Präsidentschaft in diesem Halbjahr haben die vier Gründungsmitglieder dem Land bereits entzogen.
Zuversicht beim Integrationsprozess
"Die Frage ist: Wer wird ein mögliches Freihandelsabkommen des Mercosur mit der EU ratifizieren? Was geschieht, wenn Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay ein Abkommen aushandeln, und Venezuela oder der Aufnahmekandidat Bolivien es dann nicht ratifizieren wollen?"
Lateinamerika-Experte Gian Luca Gardini glaubt dennoch, dass Venezuela in den Mercosur gehört.
"Die ungeklärte Situation des Mitglieds Venezuela beeinträchtigt die Glaubwürdigkeit und die Funktionsfähigkeit des Mercosur. Aber dies wird nicht ewig dauern. Ich denke, in ein paar Jahren wird sich die politische Lage Venezuelas normalisiert haben."
Auch der argentinische Ökonom Felix Peña sieht das Sorgenkind Venezuela als Teil des südamerikanischen Integrationsprozesses an. Er ist zuversichtlich:
"Ich denke, dass in Lateinamerika in den kommenden Jahren eine Neugestaltung der regionalen Integration nötig sein wird. Der Mercosur gehört ebenso dazu, wie die 2012 gegründete Pazifik-Allianz mit ihren Mitgliedern Chile, Peru, Kolumbien und Mexiko. Was in Europa zunehmend diskutiert wird, ein Integrationsprozess mit verschiedenen Geschwindigkeiten, ist auch für unsere Region vorstellbar. In einem solchen Modell hätte Venezuela seinen Platz, auch wenn es bei der Integration langsamer voranschreitet als der Rest der Mercosur-Staaten."