Stefan Heinlein: Über die EU-Beitrittsperspektive der Balkan-Staaten möchte ich jetzt reden mit dem Südosteuropa-Experten Florian Bieber von der Uni Graz. Guten Abend, Herr Professor.
Florian Bieber: Guten Abend.
Heinlein: 2025, in sieben Jahren bereits, sollen zumindest Serbien und Montenegro der EU beitreten können. Warum hat man es in Brüssel auf einmal so eilig mit dem Balkan?
Bieber: Man hat letztes Jahr gemerkt, dass es eine Reihe Krisen in der Region gab und dass, wenn man den Ländern keinen klaren Zeitrahmen gibt, das Risiko besteht, dass sie sich anderswo umschauen und dass der Einfluss von anderen Ländern, gerade Russlands, stärker auf dem Balkan wird. So hat man das Gefühl bekommen in der EU und auch in einigen Mitgliedsstaaten, dass man mehr machen muss, um eine klare Perspektive zu geben, dass dieser ewige Prozess des Beitritts irgendwann auch mal sein Ende haben muss.
Heinlein: Macht die Angst, die Sorge vor Moskau oder Peking den Bedenkenträgern in Brüssel jetzt Beine?
"Die Bedingungen werden nicht gelockert"
Bieber: Ja. Aber was man auch aus der neuen Strategie erkennen kann ist, dass man nicht sagt, um jeden Preis und einfach so kann man auf jeden Fall 2025 rein. Das heißt, die Bedingungen werden nicht gelockert. Man engagiert sich nur wieder stärker. Und das hat, glaube ich, auch damit zu tun, dass die Europäische Union nun diese großen existenziellen Krisen der letzten Jahre vielleicht noch nicht ganz überwunden, aber doch zumindest teilweise hinter sich gelassen hat. Von Brexit bis zur Migrationsfrage, bis hin zur Griechenland-Krise, das hat ja alles die Aufmerksamkeit der EU auf sich gelenkt und die EU daran gehindert, sich mit dem Balkan auseinanderzusetzen.
Heinlein: Wie berechtigt ist denn tatsächlich die Sorge in Brüssel, dass Serbien oder andere Balkan-Länder sich tatsächlich in Richtung Moskau orientieren, wenn ihnen dauerhaft die EU-Beitrittsperspektive verweigert wird?
Bieber: Ich glaube, eine dauerhafte Orientierung hin nach Russland ist wenig realistisch. Die meisten Länder der Region haben eine ganz klare Westorientierung, selbst Serbien, das vielleicht am ehesten ein Wackelkandidat ist. Die Bevölkerung will nicht nach Moskau auswandern, die will wirtschaftliche, soziale Modelle aus dem Westen übernehmen. Aber ich glaube, die Gefahr liegt eher darin, dass die Länder zunehmend autoritär geworden sind in den letzten Jahren. Das heißt, ein Abklang an Demokratie, Einschränkung der Medienfreiheit, Korruption und Parteienherrschaft, all das sind Probleme, die die Länder eigentlich sehr viel weiter von den demokratischen Idealen weggebracht haben in den letzten Jahren, und das hat auch sehr viel damit zu tun, dass diese EU-Perspektive scheinbar in weite Ferne gerückt war.
Heinlein: Vor diesem Hintergrund, Herr Professor Bieber, sind denn Serbien und Montenegro, Länder, die eine autoritäre Entwicklung genommen haben, wie Sie sagen, geschweige denn Albanien oder Kosovo, tatsächlich bereits reif für einen Beitritt in sieben Jahren?
Bieber: Es ist ganz klar, dass der Kosovo nicht reif für einen Beitritt sein wird. Da liegt einiges noch im Argen, aber auch natürlich extern. Es gibt fünf EU-Mitgliedsstaaten, die den Kosovo noch nicht anerkannt haben. Das ist sicherlich nicht realistisch. Serbien und Montenegro mit den jetzigen Regierungen, den jetzigen politischen Systemen, werden sicherlich der EU nicht beitreten können. Aber da ist die Strategie, die die Kommission vorgeschlagen hat, auch sehr ausdrücklich. Sie redet von State Capture, der Übernahme des Staates für Privatinteressen durch politische Parteien, die Einflussnahme auf die Medien, die Einflussnahme auf die Justiz. Das heißt, die Kommission weist ganz genau auf die Probleme hin. Das ist zum ersten Mal in so deutlicher Sprache geschehen, wie bisher noch nie. Das heißt, es ist klar: Die Länder können beitreten, aber sie müssen noch einige Anstrengungen unternehmen, um dieses Datum wirklich erreichen zu können.
Heinlein: Was sind denn die wichtigsten Anstrengungen, die diese Länder noch unternehmen müssen?
Bieber: Das eine ist intern, das heißt wirklich Rechtsstaatlichkeit nicht nur durch die Verabschiedung von Gesetzen durchzusetzen, sondern substanziell. Und wir sehen immer wieder in der Region, dass die Gesetze wunderbar sind, auf höchsten EU-Standards, aber nicht umgesetzt werden. Oder wenn sie umgesetzt werden, werden sie ausgehöhlt durch informelle Machtmechanismen. Das heißt, wenn der Ministerpräsident oder der Präsident Medien anrufen kann und auf sie Druck ausüben kann, Richter anrufen kann und Ähnliches, oder seine Gehilfen das machen, dann heißt das natürlich, dass man die besten Gesetze haben kann, aber das wirkt nicht. Da verlangt die Kommission, dass was getan wird. Medienfreiheit ist der zweite entscheidende Aspekt. Das heißt, dass die Medien kritischer berichten können. Sie üben oftmals Selbstzensur aus, trauen sich nicht wirklich, die Regierung stark zu kritisieren. Oft hängen auch die ganzen Werbebudgets von staatlicher Werbung ab. Und zuletzt bilaterale Probleme, das ist auch ein neues Stichwort in der Strategie, das bisher von der EU wenig berücksichtigt wurde. Die Lösung der vielen offenen Fragen, die zwischen Ländern noch bestehen, das sind nicht nur die Fragen Serbien-Kosovo, sondern das sind auch Grenzfragen, das sind auch Fragen des Umgangs mit der Vergangenheit, das sind auch Fragen, die die EU-Mitgliedsstaaten betreffen siehe der Konflikt zwischen Griechenland und Mazedonien um den Namen. Da gibt es einige offene Fragen, die noch gelöst werden müssen, und zum ersten Mal spricht die EU ganz klar aus, dass es da einer Lösung bedarf.
"Auf dem Balkan drücken sie sich sehr unterschiedlich aus"
Heinlein: Diese Entwicklung, die Sie gerade beschrieben haben, autoritäre Entwicklungen, Stichwort Medien etc., das ist etwas, was man zumindest in Ansätzen auch in Polen oder Ungarn erkennen kann, und das sind ja bereits EU-Mitglieder. Das scheint nicht in jedem Fall zu verhindern, dass man in diese Richtung tendiert.
Bieber: Nein, das ist ganz klar. Die EU-Mitgliedschaft selber ist kein Schutz vor derartigen Tendenzen. Natürlich kann man sagen, im Beitrittsprozess ist der Druck der EU am größten, weil man dann am stärksten Mittel in die Hand nehmen kann und sagen kann, wenn ihr nicht entsprechende Reformen durchführt, dann kommt ihr nicht voran mit dem Beitrittsprozess. Wenn man einmal drin ist, dann sind die Möglichkeiten der EU sehr viel eingeschränkter, Kritik zu üben und auch gegen derartigen Missbrauch vorzugehen. Das ist sicherlich auch eine der Herausforderungen der Europäischen Union in den kommenden Jahren, da Mechanismen zu finden. Denn man merkt es: Es gibt kein Mitgliedsland der Europäischen Union, was immun ist gegen derartige Tendenzen, das heißt gegen Angriffe auf Rechtsstaatlichkeit, gegen Versuche der Politik, Medien zu vereinnahmen und Ähnliches. Das heißt, wenn man da nicht versucht, innerhalb der EU bessere Mechanismen aufzubauen, dann kann der beste Beitrittsprozess der Welt das nicht vermeiden.
Heinlein: Schon jetzt gibt es ja mit den ost- und mitteleuropäischen Visegrad-Staaten, also mit Polen, Ungarn, Tschechien und der Slowakei, einen Verbund, der ja in vielen Fragen, etwa in der Flüchtlingspolitik, ganz anders tickt als die Mehrheit in Brüssel. Steigt die Gefahr, wenn Länder wie Serbien oder Montenegro, also Balkan-Länder Brüssel beitreten, dass dieser Graben noch tiefer wird?
Bieber: Man muss, glaube ich, diese autoritären Tendenzen von den eher nationalistisch-konservativen Tendenzen trennen. Die drücken sich sehr unterschiedlich aus. Auf dem Balkan beispielsweise gab es sehr wenig Widerstand gegen die Flüchtlinge und auch gegen die Anwesenheit von Flüchtlingen im Land. Natürlich wusste man dort, die meisten Flüchtlinge werden nicht bleiben. Aber Polen und Ungarn hatten eine ganz ähnliche Situation und trotzdem wurde das dort von der Regierung instrumentalisiert, um sich gegen Brüssel und gegen externe Mächte, die scheinbar oder vermeintlich ihnen Flüchtlinge aufdrücken, wehren zu können. Diese Rhetorik haben wir hier auf dem Balkan ganz wenig gefunden. Natürlich: Es gibt auch hier nationalistische Stimmen, aber ich würde nicht glauben, dass man dann von einem klaren Block ausgehen könnte, der sich formieren würde, von Visegrad bis runter in den Westbalkan. Dafür gibt es dann doch wiederum zu unterschiedliche Interessenlagen, die sich vielleicht in einzelnen Fragen übereinstimmen, aber im Großen und Ganzen wird es doch wahrscheinlich sehr unterschiedliche Allianzen geben.
Heinlein: Herr Professor Bieber, Sie sind Professor in Graz in Österreich. Interessiert man sich dort, weil man näher dran ist am Balkan, intensiver noch für diese Frage Westbalkan-Erweiterung als in Deutschland? Ist das noch wichtiger als in Deutschland?
Bieber: Ja, klar. Eindeutig! Ich würde sagen, dass Österreich in den vergangenen Jahren immer eines der Länder war, die sich am stärksten für eine Erweiterung auf den Westbalkan ausgesprochen haben. Die österreichische Wirtschaft ist präsent, aber auch die ganzen Beziehungen sind sehr eng zur Region. Jetzt stellt sich aber die Frage mit der neuen Regierung, die auch eine Partei wie die FPÖ umfasst, die sehr kritisch gegenüber einer Erweiterung in der Vergangenheit war und jetzt in den letzten Jahren auch eine sehr einseitig proserbische Linie, serbisch-nationalistische Linie vertreten haben, sich beispielsweise verschiedentlich für eine Aufspaltung Bosnien-Herzegowinas ausgesprochen haben, oder auch für eine Rücknahme der Anerkennung des Kosovos oder zumindest gegen die Unabhängigkeit. Sie sind sicherlich nicht in der Lage, diese Art von Position in der österreichischen Außenpolitik umzusetzen. Dafür ist die dominante konservative ÖVP sehr viel stärker verankert mit der klassischen Status-quo-Linie. Aber man merkt, dass durch solche Aussagen schon gewisse Normalitäten, gewisse Annahmen in Frage gestellt werden, und ob dieses Bekenntnis zu einer Integration des Westbalkans in den bestehenden Grenzen mit den bestehenden Staaten sich dauerhaft fortsetzt in der österreichen Außenpolitik, muss sich erst zeigen.
Heinlein: Im Deutschlandfunk der Balkan-Experte Florian Bieber von der Uni Graz. Wir haben das Gespräch aus technischen Gründen vor dieser Sendung aufgezeichnet.
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