Jule Reimer:Endokrine Disruptoren sind Chemikalien, die im Blut wirksam werden und außerdem ins Hormonsystem eingreifen können. Verdächtig sind hier zum Beispiel Stoffe wie Bisphenol A, die unter anderem Kunststoffe weich machen. In Babyflaschen ist Bisphenol A endlich nach vielem Hin und Her verboten worden, aber in Konservendosen oder auch als Pestizid kommen solche endokrinen Disruptoren nach wie vor in unserem Alltag vor, sagen zumindest Kritiker. Das Problem: Es gibt bislang keine Richtlinien, wie sich solche Stoffe bestimmen lassen.
Gestern hat die EU-Kommission, ebenfalls nach langem Zögern, solche Kriterien vorgelegt und sie erntet heftige Kritik dafür, unter anderem vom Pestizid-Aktionsnetzwerk PAN. Susanne Smolka, Sie sind Biologin, Expertin für diesen Bereich. Warum?
"Diese Kriterien hätten schon vor zweieinhalb Jahren vorliegen müssen"
Susanne Smolka: Wir haben fünf Kern-Kritikpunkte. Einmal, Sie haben es schon angesprochen, die große Verzögerung. Eigentlich hätte die Kommission schon vor zweieinhalb Jahren diese Kriterien vorlegen müssen und es war auch schon ein Vorschlag da. Der lag dann aber in der Schublade und das bedeutet für uns Verbraucher natürlich, dass in dieser Verzögerung natürlich kein Schutz implementiert werden konnte.
Die zweite Kritik ist, dass die Vorschläge, die jetzt endlich auf dem Tisch liegen, so eine enge Definition von diesen endokrinen Disruptoren vorschlagen, dass faktisch das Vorsorgeprinzip für die menschliche Gesundheit außer Kraft gesetzt wird.
Reimer: Sagen Sie uns doch erst mal ganz kurz: Warum sind diese Stoffe so gefährlich, wenn denn diese Wirkungen zutreffen?
"Gesundheitskosten allein in der EU von ungefähr 150 Milliarden Euro"
Smolka: Die Stoffe greifen in den Hormonhaushalt ein, und das ist besonders gefährlich in der Entwicklungsphase beim Ungeborenen und in der Phase, wenn wir Kinder sind. Hormone sind ganz wichtige Signalgeber. Das kann dann im späteren Leben dazu führen, dass zum Beispiel die Menschen unfruchtbar werden. Die Männer verweiblichen zum Beispiel, die Spermaqualität sinkt ab, Missbildungen können entstehen, Verhaltensstörungen können entstehen und natürlich die hormonbedingten Krebsarten, wo wir steigende Tendenz haben, Brustkrebs, Hodenkrebs, Prostatakrebs. Das sind alles ganz wichtige Schädigungen, auch Diabetes zum Beispiel. Es gibt die Internationale Endokrinologische Gesellschaft, die hat jetzt gerade noch mal eine große Überprüfung vieler, vieler Studien gemacht, und sie kommt auch zu dem Ergebnis, dass die Gesundheitskosten allein in der EU ungefähr pro Jahr 150 Milliarden Euro betreffen, was diese endokrinen Disruptoren angeht.
Reimer: Jetzt hat die EU-Kommission gesagt, unsere Kriterien für eine Chemikalie, die unter diesen Begriff fällt, sind folgende: Es muss eine schädigende Wirkung auf die menschliche Gesundheit haben. Es muss eine endokrine Wirkungsweise aufweisen, es muss sich im Blut irgendwie niederschlagen, und es muss eine Kausalbeziehung zwischen der schädigenden Wirkung und der endokrinen Wirkungsweise bestehen. Sie sagen, das hebt das Vorsorgeprinzip auf. Warum?
"Faktisch wird wohl keine Chemikalie diese Hürde nehmen"
Smolka: Warum? - Vielleicht haben Sie die Diskussion von Glyphosat verfolgt. Glyphosat ist möglicherweise krebserregend, sagt die Forschungsagentur. Was heißt dieses möglicherweise? Es gibt verschiedene Stufen. Möglicherweise krebserregend heißt, der Krebs ist im lebenden Versuchstier nachgewiesen, aber eben nicht beim Menschen. Jetzt schlägt die Kommission bei den endokrinen Disruptoren vor, genau das reicht nicht aus für eine Regulation. Es muss bei Menschen erwiesen sein. Damit ist sozusagen die Hürde so hoch gesetzt, dass wir vermuten und befürchten, dass faktisch keine Chemikalie diese Hürde nehmen wird.
Reimer: Haben Sie da bestimmte Kandidaten, wo Sie sagen, die müssten eigentlich direkt vom Markt?
Smolka: Ja! Bisphenol A ist natürlich eine Substanz.
Reimer: Also Weichmacher.
Smolka: Wir beschäftigen uns ja mit Pestiziden und Bioziden. Zum Beispiel Cypermethrin ist so ein Kandidat, auch in Insektensprays enthalten für den Haushalt, aber auch für den Pflanzenschutz. Das müsste vom Markt. 2,4-D ist zum Beispiel ein Herbizid, was auch manchmal im Rasendünger mit eingebaut wird. Einige Holzschutzmittel-Inhaltsstoffe sind auch zu nennen. Also das ist eine ganze Bandbreite.
Reimer: Danke für diese Informationen an Susanne Smolka vom Pestizid-Aktionsnetzwerk. - Das Umweltbundesamt sieht übrigens auch in den neuen Kriterien für Chemikalien, die sich auf das Hormonsystem auswirken können, eine deutliche Abschwächung des Gesundheits- und Umweltschutzes in der Europäischen Union.
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