Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs hat zu widerstreitenden Reaktionen geführt. Dass die Arbeitszeit systematisch erfasst werden muss, dazu sind nach der EU-Grundrechte-Charta die Arbeitgeber künftig verpflichtet. Ein guter Richterspruch, findet der Deutsche Gewerkschaftsbund. So meint Marta Böning, Rechtsexpertin beim DGB-Bundesvorstand:
"Er schließt eine wichtige Schutzlücke, die wir haben, auch in Deutschland, die nämlich dadurch entsteht, weil wir keine Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung in Deutschland haben, zumindest nicht für die ersten acht Stunden des Arbeitstages. Und das bedeutet in der Praxis, dass in vielen Branchen die Arbeitszeiten gar nicht erfasst werden, und das geht einseitig zu Lasten der Beschäftigten."
Bürokratie durch die Stechuhr
Wenig verwunderlich: Die Arbeitgeber sehen das ganz anders. `Wir Arbeitgeber sind gegen die generelle Wiedereinführung der Stechuhr im 21. Jahrhundert´, heißt es in einer Stellungnahme des Bundesverbands der Arbeitgeberverbände. Und diese Haltung gilt auch für Arbeitgeber aus traditionellen Branchen wie Gesamtmetall. Diese Entscheidung gehe in die völlig falsche Richtung, kritisiert Oliver Zander, Hauptgeschäftsführer von Gesamtmetall:
"Sie hat direkte Auswirkungen auf die Arbeitszeitmodelle der Unternehmen und damit auf die Beschäftigten. Zukünftig ist jede Pause aufzuzeichnen, was zu einem enormen Bürokratismus führt. Moderne Arbeitszeitmodelle werden dadurch kaputt gemacht, und wir haben die Frage an die Rechtmäßigkeit von Home Office und mobiler Arbeit. Diese Entscheidung muss korrigiert werden."
Arbeitszeiten müssen dokumentiert werden
Diese Aufforderung richtet sich an die Bundesregierung. Doch Bundesarbeitsminister Hubertus Heil sieht das anders:
"Es ist notwendig, dass wir in Deutschland und Europa Arbeitszeiten auch dokumentieren, schließlich geht es um Löhne und Arbeitnehmerrechte. Es ist keine überflüssige Bürokratie. Deshalb kann es auch keine Aufweichung von Vorschriften im deutschen Recht geben. Bürokratieabbau ist das eine, Arbeitnehmerrechte dürfen nicht unterminiert werden. Das schreibt uns der Europäische Gerichtshof heute ins Stammbuch."
Heil hat dabei vor allem die Bauwirtschaft oder die Paketzusteller im Blick. Vor allem in Dienstleistungsbranchen sind immer mehr Beschäftigte jedoch recht frei in der Art, wie sie ihre Arbeit erledigen. Das von zu Hause aus zu tun, ist für viele inzwischen normal, meint Karl Brenke vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung:
"Da braucht man keine Arbeitszeitaufschreibung, sondern da muss man eine Leistungsaufschreibung haben. Man muss den Leuten bestimmte Aufgaben geben, die sie auch in einer bestimmten Zeit erbringen können. Und das müssen sie nachweisen und nicht nachweisen, dass sie eine bestimmte Zeit am Schreibtisch gesessen haben. Das ergibt keinen Sinn."
Stechuhr oder Vertrauensarbeit
Die systematische Erfassung der Arbeitszeit sei ein Angriff auf die Vertrauensarbeit, heißt es auch beim arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft. Und sie führe eben zu mehr Bürokratie. Das aber bestreitet Marta Böning vom DGB. Es gebe genügend moderne Mittel wie Apps oder Softwareprogramme:
"Die Behauptung, dass sei jetzt eine unmögliche Bürokratie und obendrauf noch eine Überwachungsmaßnahme, die soll man, glaube ich, nicht verbreiten, weil es einfach nicht stimmt. Das lässt sich mit ein paar Klicks pro Tag dokumentieren, die Arbeitszeit und damit auch nachvollziehen, wann es auch Zeit ist, mit dem Arbeiten auch aufzuhören, weil es einfach gesundheitsgefährdend ist."
Da dürften auch moderne Instrumente wenig helfen, glaubt jedoch Bernhard Rohleder, Hauptgeschäftsführer des Digitalverbands Bitkom:
"Sie werden jemanden, der Kopfarbeit leistet, ohnehin nicht kontrollieren können, wann er arbeitet, wann er sich mit privaten Dingen beschäftigt. Und wenn Sie Mitarbeiter haben, die krankhaft viel arbeiten, dann werden diese Mitarbeiter immer Wege finden, sich diesen Kontrollen zu entziehen. An der Stelle erreichen wir nichts, aber wir erzeugen an anderer Stelle großen Schaden."