Es geht um Menschen, die auf der Flucht waren. Um einen syrischen Mann und um eine afghanische Frau samt ihrer Kinder, die während der großen Flüchtlingswelle 2015 und 2016 über die Westbalkanroute kamen. Slowenien und Österreich fühlten sich nicht zuständig und schoben die Asyl-Verantwortung nach Kroatien, weil die Flüchtlinge von dort kamen.
Nach der europäischen Dublin-Regelung ist das EU-Land, in dem ein Flüchtling zuerst europäischen Boden betritt, für das Asylverfahren zuständig. Doch gilt das auch für die Zeit vom Spätsommer 2015 bis zum Frühjahr 2016, als hunderttausende Flüchtlinge über die Balkanroute nach Europa strömten? Darüber wird der Europäische Gerichtshof heute urteilen. Und es könnte auch ein Urteil über die damalige Flüchtlingspolitik von Bundeskanzlerin Merkel werden. Sie sagte Ende August 2015 den Satz, der in die Geschichte einging.
"Wir haben so viele geschafft, wir schaffen das. Wir schaffen das. Und wo uns etwas im Weg steht, muss es überwunden werden."
Anfang September 2015 geschah es: Tausende Flüchtlinge machten sich vom Budapester Bahnhof, wo sie tagelang festsaßen, auf den Weg Richtung Westen. Spät in der Nacht entschied Bundeskanzlerin Merkel, diese Menschen in Zügen nach Deutschland zu holen. Und setzte damit die europäische Dublin-Regelung außer Kraft.
Eine folgenreiche Entscheidung, denn es kamen noch viel mehr Flüchtlinge als erwartet, bis zu 13.000 Menschen am Tag. Bis zum Jahresende waren es eine knappe Million. Merkels Grenzöffnung spaltete die Gesellschaft und brachte politische Gegner auf die Barrikaden, vor allem von der CSU. Rund ein Jahr später – nach der Wahlniederlage der CDU in Mecklenburg-Vorpommern – sagte der bayrische Finanzminister Markus Söder.
"Ich finde, wir sollten den Satz "Wir schaffen das" ändern. In den Satz "Wir haben verstanden und wir ändern das"."
Ist Merkels Grenzöffnung mit europäischem Recht vereinbar?
Ist Merkels damalige Grenzöffnung für Flüchtlinge mit europäischen Recht vereinbar oder nicht? Die Generalanwältin des Europäischen Gerichtshofs ist der Ansicht: Sie war rechtens. Die Britin Eleanor Sharpston sprach Anfang Juni in ihren Schlussanträgen von außergewöhnlichen Umständen, von der größten Massenbewegung in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg, bei der eine sture Anwendung der europäischen Dublin-Regeln nicht infrage kommen konnte.
Sharpston kommt zu dem Schluss: Griechenland und im konkreten Fall Kroatien durften nicht erst überfüllt sein, bevor andere europäische Länder für die Asylverfahren zuständig werden. Deshalb sind ihrer Ansicht nach in den Fällen des syrischen Mannes und der afghanischen Frau Slowenien und Österreich für die Asylanträge zuständig.
Die Richter des Europäischen Gerichtshofs müssen der Einschätzung ihrer Generalanwälte nicht folgen, tun es aber häufig. Sollte sie es auch in diesem Urteil tun, bekäme Merkels Flüchtlingspolitik vom Spätsommer 2015 die Bestätigung der höchsten europäischen Richter.