Archiv

Euratom-Vertrag
Ein energiepolitischer Anachronismus?

Ein 60 Jahre alter europäischer Vertrag, der immer noch den Vorrang für die Atomenergie vorsieht: Ist das zeitgemäß? Nein, sagen Grüne und Linke und fordern den Ausstieg aus dem Euratom-Vertrag. Auch die SPD hält ihn für überholt, findet für Konsequenzen aber keine Unterstützung in der Koalition - auch nicht im SPD-geführten Bundeswirtschaftsministerium.

    Man sieht das Atomkraftwerk von der Maas aus vor blauem Himmel mit Wolken.
    Das umstrittene belgische Atomkraftwerk Tihange (AFP / Belga / Eric Lalmand)
    Er wirkt heutzutage wie ein Anachronismus: der Euratom-Vertrag zwischen Frankreich, Italien, den Beneluxstaaten und Deutschland, geschlossen im Jahr 1957. In einer Zeit also, in der die Kernenergie noch eine Verheißung für die Zukunft war: Unabhängigkeit von den Ölscheichs, Abschied von den Abgas-Emissionen, fast unbegrenzte Ressourcen, neue Energie-Möglichkeiten für die "Dritte Welt" - all das schien die Atomkraft zu versprechen. Widerstand gab es damals nur selten gegen den Bau von Atomkraftwerken. Mit Euratom sollte diese - aus damaliger Sicht - Energiequelle der Zukunft gefördert werden.
    Heute ist die Kernenergie in Europa auf dem Rückzug, setzen viele Staaten auf erneuerbare Energien, gibt es nur noch wenige Projekte für den Neubau von Meilern, strukturieren sich die Energiekonzerne um. Und dennoch existiert Euratom fast unverändert in der Fassung von 1957. Substanzielle Veränderungen gab es nie - trotz Tschernobyl, trotz Fukushima, trotz der Energiewende.
    Änderungen - oder ein neuer Vertrag
    Kein Wunder, dass nicht nur die Bündnis-Grünen darauf drängen, dass dieser Vertrag entweder den energietechnischen, gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen angepasst wird - oder komplett durch einen neuen Vertrag ersetzt wird. Dies fordert auch Die Linke, und dies fordert sogar die Regierungspartei SPD.
    Das historische Schwarz-Weiß-Bild zeigt Adenauer und Hallstein nebeneinander an einem Tisch sitzend vor den Verträgen.
    Bundeskanzler Konrad Adenauer und der Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Walter Hallstein, unterschreiben in Rom die Römischen Verträge über die Entstehung von EWG und EURATOM. (dpa)
    Für die atompolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion im Bundestag, Sylvia Kotting-Uhl, ist klar: Dieser Vertrag ist längst überholt. Sie sagte dem Deutschlandfunk, Ziel von Euratom sei gewesen, die Voraussetzungen für die Entwicklung einer mächtigen Kernenergie zu schaffen. Doch eine Privilegierung der Atomkraft sei nicht mehr zeitgemäß und finde auch keine Mehrheit mehr unter den EU-Mitgliedsstaaten.
    Die Bundesregierung stimmt diesem Aspekt sogar zu: Das Bundeswirtschaftsministerium erklärte gegenüber dem DLF, der Leitgedanke von Euratom sei insofern überholt, "als sich Deutschland in einem breiten gesamtgesellschaftlichen Konsens zum Ausstieg aus der kommerziellen Nutzung der Kernenergie entschieden hat". Dieser Ausstieg, so das Ministerium, sei übrigens durch Euratom auch nicht infrage gestellt. Aber, argumentiert das Haus von Sigmar Gabriel: Euratom verfolge auch ein zweites zentrales Ziel - nämlich, die Sicherheit in den europäischen Atomkraftwerken zu gewährleisten. Hier biete der Vertrag die Grundlage für einheitliche europäische Regelungen, und sei deshalb auch heute noch wichtig.
    Uneinigkeit in der SPD
    Dass ein von Gabriel geführtes Ministerium den Vertrag verteidigt ist insofern interessant, als dessen Bundestagsfraktion sich im Jahr 2012 für Änderungen am Euratom-Vertrag ausgesprochen hat - und dies immer noch tut: Die SPD-Energiepolitikerin Nina Scheer, in ihrer Fraktion Expertin für die Atompolitik, sieht weiterhin Änderungsbedarf. Vor allem sollten all jene Passagen des Vertrags gestrichen werden, die Investitionen in die Atomenergie begünstigten, sagte Scheer dem DLF. Leider verweigere sich die Union entsprechenden Änderungen.
    Piebalgs blickt genervt. Hinter ihm Demonstranten in weißen Schutzanzügen vor einem gelben Transparent, auf dem man das Wort "Power!" lesen kann.
    Genervt: EU-Energiekommissar Andris Piebalgs. Demonstranten überreichen ihm im März 2007 in Brüssel 630.000 Unterschriften für ein Ende von EURATOM. (DPA / EPA / OLIVIER HOSLET)
    Der Parlamentarische Geschäftsführer der Linken-Fraktion, Alexander Ulrich, lässt das Pro-Argument der Meiler-Sicherheit nicht gelten. Das Ziel einer sicheren Atomkraft-Nutzung sei bis heute nicht erreicht, sagte er dem Deutschlandfunk. Denn auch in der jüngsten Geschichte der europäischen Atomkraftnutzung sei es zu Stör- und Unfällen gekommen.
    Eine Anpassung von Euratom an die energiepolitische Entwicklung sehen Grüne, Linke und SPD als das Mindeste an. Besser wäre es aus ihrer Sicht aber, den gesamten Vertrag zu zerreißen und etwas Neues entstehen zu lassen. Ein Ausstieg aus Euratom wäre folgerichtig, wenn gewährleistet sei, dass mit einem neuen Vertrag EU-Standards bezüglich der Sicherheit und des Strahlenschutzes geregelt würden, meint SPD-Frau Scheer. Grüne und Linke plädieren für einen neuen europäischen Vertrag, der die Förderung und Nutzung der erneuerbaren Energien zum energiepolitischen Hauptziel erhebt. In einem Bundestags-Antrag vom vergangenen September fordern die Bündnis-Grünen "die Schaffung einer Europäischen Gemeinschaft für erneuerbare Energien als Ersatz für Euratom".
    Notfalls einseitig kündigen
    Aber selbst, wenn Deutschland dies wollte: Gäbe es dafür eine Mehrheit in der EU? Und wenn nicht, was dann? Kotting-Uhl von den Grünen und Alexander von der Linken meinen: Dann sollte Euratom von Deutschland einseitig gekündigt werden.
    Aber geht das? Kann man aus dem europäischen Atomvertrag einfach so aussteigen? Nein, sagt das Bundeswirtschaftsministerium: "Eine Kündigung des Euratom-Vertrags ist rechtlich nicht vorgesehen". Auch die EU-Kommission ist dieser Auffassung. Tatsächlich ist diese Frage rechtlich umstritten. Es gibt Rechtswissenschaftler, die die These vertreten, dass ein Ausscheren eines Staates aus dem Vertrag nur bei einem gleichzeitigen Austritt aus der EU möglich sei. Dies will natürlich kaum jemand. Andere Experten argumentieren dagegen, dass ein Austritt aus Euratom rechtlich möglich ist. Zu diesem Schluss kommt auch ein Gutachten, das der Jurist Bernhard Wegener für die Grünen-Bundestagsfraktion verfasst hat.
    Bis über den Antrag der Bündnis-Grünen auf eine Reform von Euratom oder gar einen deutschen Vertrags-Ausstieg im Bundestag entschieden ist, kann es dauern - die Mühlen des Parlaments mahlen langsam. Zwar gab es schon die erste Lesung, doch muss der Antrag noch in die Ausschüsse und die zweite Lesung.
    Hinweis: Der Euratom-Vertrag ist auch ein Thema auf der Liste der "Vergessenen Nachrichten des Jahres", die die "Initiative Nachrichtenaufklärung" zusammengestellt hat.
    (adi/mg/ach)