Wenn etwas so Monumentales wie die Eurokrise unseren Kontinent erschüttert, dann darf der Rettungsversuch nicht weniger monumental klingen. "Der Odysseus-Komplex" haben die Ökonomen Johannes Becker und Clemens Fuest ihr Buch genannt. Unter der griechischen Sage machen sie es nicht - obwohl ihr Lösungsvorschlag, so schreiben sie im Untertitel, ein pragmatischer sein soll. Clemens Fuest ist seit dem vergangenen Jahr der Präsident des einflussreichen Ifo-Instituts, Johannes Becker Direktor am Institut für Finanzwissenschaft der Universität Münster. Was sie für nicht praktikabel halten, schicken die Autoren vorweg: Eine Rückkehr zur D-Mark finden sie ebenso realitätsfern wie die Vorstellung, die EU zu einem Bundesstaat formen zu können. Fuest und Becker wollen mit dem arbeiten, was die Eurozone zu bieten hat.
"Die Reform der Euroinstitutionen wird nicht alle Probleme des Euros lösen. […] Doch sie macht die Währungsunion krisenfester, sie stärkt ihre Widerstandskräfte und trägt hoffentlich zu einem friedvollen Miteinander der Mitgliedsstaaten bei. Ein solches Programm ist realistisch, nicht visionär."
Eurostaaten missachten die Regeln
Die Autoren sehen das Grundübel der Eurozone in fehlenden oder zu schwachen Institutionen. Und hier kommen wir zum griechischen Epos: Odysseus ließ sich auf seiner Irrfahrt an den Mast seines Schiffs binden, um dem verlockenden Gesang der Sirenen zu widerstehen. Anders als der griechische Held schafften die Eurostaaten es aber nicht, sich an ihren "Mast", also die Regeln der Währungsunion zu binden, schreiben die Autoren. Sie erlägen der Versuchung, zu hohe Haushaltsdefizite anzuhäufen, ihre Banken zu lasch zu regulieren und Vorkehrungen für Krisenzeiten zu vertagen. Und das liege in der Natur der Union, sagt Ifo-Chef Clemens Fuest: "Souveräne Staaten können sich nur beschränkt binden, sie können sich nicht daran binden, gegen ihre eigenen kurzfristigen Interessen vorzugehen."
Die Autoren zeichnen im Buch den Verlauf der Eurokrise ausführlich nach, vom Schock der Lehman-Pleite über die Überschuldung von Banken und Staaten, allen voran Griechenland. Sie gewichten die Versäumnisse und leiten daraus ab, wie sich eine erneute Krise eindämmen ließe. Denn gegen den nächsten Abschwung in Griechenland, Italien oder Portugal sei die Währungsunion nicht gewappnet. Fuest und Becker heben vor allem darauf ab, wie das Regelwerk, etwa der Stabilitäts- und Wachstumspakt, auch von starken Staaten wie Deutschland und Frankreich von Anfang an gebrochen wurde. Und sie trauen dem Fiskalpakt nicht wesentlich mehr Durchschlagskraft zu. Clemens Fuest:
"Deshalb sagen wir, wir müssen dann etwas tun, was auch als institutionelle Integration bezeichnet wird, das heißt, die Mitgliedsstaaten müssen Kompetenzen in einigen Bereichen schlicht abgeben."
Fünf-Punkte-Plan für die Politik
Im Gegenzug soll an anderer Stelle die Kontrolle der Nationalstaaten gestärkt werden, vor allem in der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Alles aber, was auf europäischer Ebene entschieden werden soll, wollen die Buchautoren stärker durch technokratische Verfahren regeln. Dafür legen sie der Bundesregierung einen Fünfpunkteplan vor. Der soll die Schuldenkontrolle, die Regulierung der Banken und die Staatenrettung im Krisenfall ebenso reformieren wie die Restrukturierung von Schulden und die Rolle der EZB. Fuest und Becker schwebt zur Schuldenkontrolle die Einführung nachrangiger Staatsanleihen vor. Die sollten ab einer vereinbarten Defizitgrenze greifen und verhindern, dass die Gemeinschaft der Euro-Länder für die übermäßigen Schulden einzelner Staaten gerade stehen muss. Clemens Fuest:
"Wer jenseits dessen, was wir in Europa gemeinsam vereinbart haben, sich verschuldet, der kann das tun, der muss sich aber von vornherein mit seinen Gläubigern auseinandersetzen, wer die Zeche zahlt, wenn es daneben geht."
Banken sollten stärker reguliert werden, von einer europäischen Behörde außerhalb der EZB. Die Staatenrettung solle schneller und schlagkräftiger werden. Dafür müsse der Rettungsfonds ESM, so stellen es sich die Autoren vor, vorab demokratisch legitimiert werden, damit er im Krisenfall eigenmächtig handeln kann. Der Europäischen Zentralbank rechnen Fuest und Becker an, dass sie den Abwärtsstrudel der Eurozone gestoppt habe, als EZB-Chef Mario Draghi vor knapp fünf Jahren versicherte, dass der Euro erhalten werde, koste es, was es wolle. Nun wollen die Autoren das Anleihen-Aufkaufprogramm der EZB stoppen. Beschränkte Möglichkeiten im Rat zu haben, dafür mehr fürs eigene Handeln zur Verantwortung gezogen zu werden, das klingt für keinen Staats- oder Regierungschefs verlockend. Und vor allem Staaten im Süden dürften von den Vorschlägen nicht begeistert sein. Eine kurzfristige Lösung für die dortigen Probleme bietet das Buch nicht an.
Keine schnellen Lösungen
"Angesichts dieser massiven Gegeninteressen muss man sich natürlich fragen, wie eine Reform der Eurozone gelingen kann. Einen Hebel könnten die Altschulden der Krisenländer bieten."
Wenn ohnehin schon über deren Vergemeinschaftung nachgedacht werde, schreiben die Autoren, könne man sie auch an Reformen knüpfen. Clemens Fuest und Johannes Becker liefern mit dem "Odysseus-Komplex" den Gegenentwurf zum wirtschaftspolitisch integrierten Europa. Bei ihnen zählen die souveränen Nationalstaaten, die partiell zusammenarbeiten. Verbunden mit der Hoffnung, dass die fiskalischen Regeln greifen, wenn sie nur Regierungen und Parlamenten entzogen und technokratisiert werden. Wer wie die Autoren vorgibt, pragmatisch zu argumentieren, kann manch anderen Vorschlag schnell als schöne Idee aus Wolkenkuckucksheim erscheinen lassen. So klar aber sind die Verhältnisse nicht. Was den Entwurf der Ökonomen hervorhebt: Er denkt über das kurzfristige Krisenmanagement hinaus. Sie liefern damit einen Vorschlag, über den sich trefflich streiten lässt.
Johannes Becker, Clemens Fuest: "Der Odysseus-Komplex. Ein pragmatischer Vorschlag zur Lösung der Eurokrise"
Carl Hanser Verlag, 285 Seiten, 24 Euro.
Carl Hanser Verlag, 285 Seiten, 24 Euro.